Millionen Shimano-Kurbeln weltweit müssen untersucht und evtl. getauscht werden. Diplom-Ingenieur Dirk Zedler ist seit Jahren der wichtigste Experte rund um das Thema Fahrrad-Sicherheit. TOUR hat ihn nach seiner Einschätzung zum Kurbelproblem gefragt.
TOUR: Haben Sie selbst schon betroffene Kurbeln überprüft?
Zedler: Ja, wir haben einfach die Mitarbeitenden gebeten ihre Fahrräder herzubringen und dann die Shimano Prüfroutine durchgeführt. Wichtig ist, dass man die Kennung beider Kurbelarme anschaut, weil es eventuell verschiedene Produktionslose sind. Und dann haben wir bei den potenziell Betroffenen die weitere Prüfroutine gemacht: das heißt die Kurbel demontieren, die Kettenblätter abschrauben und komplett sauber machen – da gibt es eine sehr detaillierte Untersuchungsanleitung von Shimano. Auf dem Papier sieht es kryptisch aus, aber in der Praxis war es nicht schwer. Unsere Kurbeln waren alle in Ordnung.
TOUR: Die Händler bekommen 67 Euro für die Kontrolle und Shimano schätzt 45 Minuten Arbeitszeit. Ist das realistisch?
Zedler: Es kommt drauf an, wie das Rad aussieht. Wenn die Kurbel sauber ist, dann geht es relativ schnell. Ich denke, das ist für einen Händler, der viele Rennräder hat, sicher kein Thema. Die Schwierigkeiten beginnen dann mit Versandhandelsrädern, die keine vernünftige Händlerstruktur dahinter haben. Canyon hat von 2012 bis 2019 mit einiger Wahrscheinlichkeit mehrere Hunderttausend Rennräder verkauft und die Wahrscheinlichkeit, dass Canyon Dura Ace oder Ultegra dran hat, ist relativ hoch. Da sehe ich schon die Schwierigkeit, wie das abgewickelt werden soll.
TOUR: Kann man eine Beschädigung wirklich erkennen?
Zedler: Man sieht sehr genau, dass eine intakte Kurbel ganz anders aussieht als das, was auf den Shimano Bildern zu sehen ist. Wir reden über kleine Risse, über kleine Spalte in der Verklebungszone usw. und der Abgleich war für mein Team kein Thema. Das kann ein versierter Radhändler bei hellem Licht und mit Lupe auch leisten. Die Bilder von Shimano in dem User Manual zeigen zudem ein richtiges Rissbild außen, das heißt, wenn die zwei Hälften lose sind oder sich beginnen zu lösen, dann beginnt Bewegung und diese Bewegung führt dann zu Rissen, die man mit der Zeit an der Außenseite erkennen kann. Shimano sagt: Schau auch schon im Inneren, wo du normalerweise nicht hinschaust.
TOUR: Aber was ist, wenn die Risse so klein sind, dass man sie noch nicht erkennt?
Zedler: Genau das ist die Schwierigkeit an der Sache: eigentlich muss man ab sofort in einem regelmäßigen Turnus die Kurbel wieder kontrollieren. Jeder Ermüdungsbruch, jedes Versagen ist typischerweise auch eine Funktion der Nutzung im Verlauf der Zeit. Wenn wir es heute kontrolliert haben, dann heißt es im Grunde nichts - ich muss das immer mal wieder machen. Das ist ein bisschen eine Schwäche an diesem Rückruf. Das Risswachstum kann irgendwann entstehen. Du machst die Kontrolle und das Rad hat 1000 Kilometer, aber dann wechselt es den Besitzer und es fährt ein Vielfahrer im nächsten Jahr 10.000 Kilometer - dann kann die Kurbel ganz anders aussehen. Das heißt man muss diese Kurbel regelmäßig prüfen - mit der einmaligen Prüfung ist es definitiv nicht getan. Das ist meiner Meinung nach noch nicht so richtig klar kommuniziert, dass diese Kurbeln zumindest mal im Jahresturnus, wenn ich Normalfahrer bin, geprüft werden müssen. Aber wenn ich Radamateur bin, muss ich ja eigentlich die Kurbeln jetzt alle drei Monate inspizieren, um guten Gewissens bzw. sicher fahren zu können.
TOUR: Was kann man selbst machen, um Schäden zu erkennen?
Zedler: Ich sage seit vielen Jahren: Reinige dein Rad nicht nur mit dem Wasserschlauch, sondern geh auch mit einem sauberen Lappen drüber, wisch alles von Hand trocken. Weil bei der Handreinigung merkst du, wenn Risse beginnen. Shimano macht eine rein visuelle Kontrolle - das kann im Endeffekt jeder zu seiner eigenen Sicherheit auch machen. Es ist meiner Ansicht nach realitätsfremd, dass man alle drei oder vier Monate hergeht und sagt ich gehe zum Händler, lass mir ein Rad auseinanderbauen und die Kurbel kontrollieren. Die gelebte Praxis ist, dass das Rennradfahrer eher selten zu Inspektionen gehen.
TOUR: Was sind absolute Warnsignale? Geräusche?
Zedler: Ja! Genau darauf weist Shimano auch explizit hin, dass es zu Geräuschbildung kommen kann, wenn die Risse auftreten. Und wenn bei der Kontrolle Risse erkennbar sind, dann muss das Fahrrad einfach lahmgelegt werden.
TOUR: Wie ordnen Sie den Rückruf der Shimano-Kurbeln insgesamt ein?
Zedler: Die Stückzahl klingt gewaltig. Aber ich halte Shimano generell für einen sehr seriösen Hersteller. Ich habe viele Materialverfahrensfälle begleitet in den vergangenen Jahren - gerichtlich oder auch privatwirtschaftlich. Da gab es schon viele Hersteller, die hätten viel dringender zurückrufen müssen als Shimano. Ich denke Shimano ist da schon auf einem guten Weg, natürlich auch durch den amerikanischen Markt.
TOUR: In den USA wird bereits eine Sammelklage vorbereitet …
Zedler: Ja, in Amerika ist es so, dass ein ganz anderes Rechtssystem gegeben ist und dass die Anwälte oft nach Erfolg bezahlt werden und sich solche Fälle gegen große Produzenten suchen. Aber wir haben den Angaben nach jetzt sechs Verletzte in Amerika. Das klingt viel, aber ich kenne auch Fahrradkomponenten- oder Fahrradhersteller, die viel geringere Stückzahlen machen und die nicht zurückgerufen haben, obwohl sie auch relevante Schwierigkeiten hatten. Wir haben jahrelang Sattelstützen mit einer zentralen Schraube gehabt und es gab tausende Schraubenbrüche mit vielen schweren Stürzen. Diese Einschrauben-Stützen hat quasi niemand zurückgerufen, das wurde auch nie verboten. Ich will das Problem nicht kleinreden, aber ich kenne viele Firmen, die auch viele Gründe hätten zurückzurufen.
Berichte über Probleme mit Elffach-Rennradkurbeln von Shimano gibt es seit Jahren. Bei den betroffenen Hollowtech-Kurbeln können sich die geklebten Teile des Kurbelarms ablösen und brechen. Als Reaktion startet Shimano ein „Inspektions- und Austauschprogramm“. Betroffen sind die Kurbeln Ultegra FC-6800, Dura-Ace FC-9000, Ultegra FC-R8000, Dura-Ace FC-R9100, Dura-Ace FC-R9100P mit bestimmten Seriennummern aus den Jahren 2012 bis 2019. Die Produktionsnummer kann man selbst überprüfen – die anderen Arbeiten übernimmt der Fachhändler. Zeigt die Kurbel Risse, muss sie an Shimano eingeschickt werden. Die Ersatzkurbeln sind aus der Zwölffach-Reihe mit einem elffach-Kettenblatt. Das bedeutet eine andere Farbe und eine andere Kettenblattbefestigung. Wer Cross-Kettenblätter oder Kettenblätter am Zeitfahrrad hatte, kann diese an der neuen Kurbel nicht mehr verwenden.
Der zweistellige Herstellungscode muss mit folgenden Abkürzungen übereinstimmen. Dieser ist ebenfalls auf der Innenseite des Kurbelarms in der letzten Zeile der Modellbezeichnung neben der Angabe für die Kurbellänge zu finden. Die betroffenen Modelle wurden vor Juli 2019 hergestellt.
Weitere Infos zum Rückruf Shimano-Kurbeln