Unbekannt
· 10.04.2018
Campagnolo legt seine Top-Gruppen Super Record und Record neu auf. Spektakulärste Neuerung: Auf der Hinterradnabe drehen sich erstmals bei Rennradgruppen zwölf Ritzel.
Für Generationen von Rennradlern war und ist Campagnolo ein Synonym für fortschrittliche Rennradtechnik. Etliche Innovationen, die heute als selbstverständlich gelten, wurden von den Italienern ausgeheckt, darunter der Schnellspannhebel und das Parallelogramm-Schaltwerk. In den letzten Jahren musste die Traditionsmarke, die 2018 ihr 85-jähriges Bestehen feiert, ihren Rang als Technologieführer jedoch an die Wettbewerber Shimano und SRAM abtreten. Vor allem bei Trends wie elektrischen Schaltsystemen und Scheibenbremsen waren die Konkurrenten zuletzt enteilt.
Doch aufgegeben hat man das Rennen in Vicenza noch lange nicht. Mit dem soeben vorgestellten ersten Zwölffach-Schaltsystem für Rennräder setzt Campagnolo nicht nur ein starkes Lebenszeichen. Erstmals nach einer gefühlten Ewigkeit dürfen die Italiener damit auch wieder für sich reklamieren, der Konkurrenz einen Tick voraus zu sein. Denn zumindest auf mittlere Sicht basieren die Topgruppen von Shimano und SRAM weiter "nur" auf 2x11-Antrieben. Zwar ist Campas 2x12-Lösung, die sich mit Felgen- und Scheibenbremsen kombinieren lässt, zunächst nur für die mechanischen Schaltungen von Super Record und Record verfügbar. Von Dauer dürfte dies aber kaum sein. Auch wenn bei Campagnolo niemand verraten wollte, wann das elektrische Schaltsystem EPS auf 2x12 umgestellt wird, ist es mehr als wahrscheinlich, dass dies in naher Zukunft passiert.
Als entscheidenden Vorteil von 2x12 führt Campagnolo an, dass damit für nahezu jedes realistische Szenario im Radsport von der Flachetappe bis zur Pässetour immer der passende Gang an Bord ist. Viele Fahrer bevorzugen für die Ebene oder welliges Terrain ein eng abgestuftes Getriebe mit kleinen Sprüngen zwischen den Gängen. Bei entsprechenden Kassetten mit elf oder zehn Ritzeln fehlen dann allerdings größere Ritzel für steile Rampen. Umgekehrt fallen bei breiter gestuften Kassetten mit großen Ritzeln die Sprünge zwischen den Gängen teilweise recht groß aus. Das kann in manchen Situationen dazu führen, dass man zwischen einem zu leichten oder zu schweren Gang wählen muss. Die zurzeit üblichen Elffach-Kassetten haben dieses Dilemma zwar schon deutlich entschärft; mit Zwölffach dürfte das Problem für die meisten Fahrer jedoch endgültig passé sein. Mit 11 bis 29 beziehungsweise 11 bis 32 Zähnen kombinieren die beiden für Super Record und Record verfügbaren Zwölffach-Kassetten jeweils eine üppige Bandbreite an Übersetzungen mit konkurrenzlos enger Gangabstufung. Beide Kranzpakete weisen auf den ersten sieben Ritzeln Sprünge von nur je einem Zahn auf. Näher am stufenlosen Getriebe ist bis dato kein anderes Schaltsystem.
Ohne Frage ist die Zwölffachschaltung die aufsehenerregendste Neuerung der neuen Gruppen. Fast übersieht man dabei jedoch, dass Campagnolo mit der neuen Super Record und Record erstmals seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit einem ehernen Entwicklungsprinzip bricht. Während Shimano seine Gruppen halbwegs verlässlich alle vier Jahre komplett erneuert, haben sich die Italiener die Bauteile meist einzeln vorgenommen. Im einen Jahr wurde das Schaltsystem modifiziert, im Jahr darauf die Kurbeln verbessert und so weiter. Da bei Super Record und Record diesmal jedoch jedes Bauteil weitgehend oder komplett neu konstruiert wurde, darf man von zwei vollständig neuen Gruppen sprechen. Wobei der Abstand zwischen den Ensembles denkbar gering ist. Die Super Record unterscheidet sich von der Record im Wesentlichen durch exzessives Tuning mit Carbon- und Titan-Kleinteilen. Sie ist deshalb ein paar Gramm leichter und sehr viel teurer. Funktional und in Hinblick auf die Haltbarkeit tun sich die Gruppen nichts.
Nimmt man die Bauteile einzeln unter die Lupe, fällt zuerst das deutlich veränderte Schaltwerk auf. Die neue Optik beruht zum einen auf der Verwendung eines neuen Carbon-verstärkten Kunststoffs. Zudem wurden die Schaltröllchen größer und die obere Schaltrolle deutlich nach vorn verlagert. Künftig ist je Gruppe nur noch ein Schaltwerk mit mittlerer Käfiglänge verfügbar, das an konventionellen Schaltaugen sowie an den neuartigen Direct-Mount-Hängern montiert werden kann. Der früher oft verwirrende Variantenreichtum bei den Schaltwerken ist damit Vergangenheit. Mit dem vorderen Umwerfer, der deutlich kompakter ausfällt als bisher, reagiert Campagnolo auch auf den Trend zu breiteren Reifen. Vor allem bei Rahmen mit kurzen Hinterbauten kam es zuletzt häufiger vor, dass Reifen ab 28 Millimeter Breite mit dem Schwenkarm des Umwerfers kollidierten. Durch den veränderten Mechanismus bietet der neue Campa-Werfer nun genügend Platz für bis zu 32 Millimeter breite Reifen.
Die Ergopower-Bremsschalthebel für Felgenbremsen erhielten ihre erste große Revision seit 2008. Dabei wurde nicht nur die Schaltmechanik an die Erfordernisse des Zwölffach-Antriebs angepasst, sondern auch an der Ergonomie gefeilt. Die Bremshebel erhielten einen stärker ausgeprägten S-Schwung, zudem wanderte der Drehpunkt des Hebels etwas nach oben. Vor allem aus der Bremsgriffposition lassen sich die Bremsen deshalb leichter bedienen als bisher. Die Griffweite der Hebel kann nun über den Stift, der bisher zum Öffnen der Bremsen diente, werkzeuglos in zwei Stufen an große und kleine Hände angepasst werden. Das hinter dem Bremshebel liegende Schaltpaddel erhielt eine neue Form und ist ähnlich wie bei Shimano und SRAM leicht nach außen gewinkelt, was der natürlichen Handbewegung beim Schalten entgegen kommt. Der innen liegende Daumenschalter wurde vergrößert und wanderte etwas nach vorn. Damit ist er aus der Unterlenkerposition besser erreichbar. Durch die überarbeitete Mechanik sowie optimierte Schaltzüge konnten zudem die Bedienkräfte beim Schalten reduziert werden. Unverändert blieb die Schaltlogik des Ultra-Shift-Mechanismus, bei der mit einem Schaltvorgang bis zu drei Gänge hoch und bis zu fünf Gänge runter geschaltet werden kann.
Für Super Record und Record bietet Campagnolo künftig nur einen Kassettentyp an. Sowohl bei der 11-29-Kassette wie bei der 11-32-Kassette sind die oberen sechs Ritzel aus je zwei vollen Stahlblöcken gefräst; die unteren sechs Ritzel, die ebenfalls aus Stahl bestehen, werden einzeln gesteckt. Da die Kassetten exakt so breit sind wie ihre Elffach-Vorgänger, passen sie problemlos auch auf ältere Campa-Laufräder. Allerdings sind die einzelnen Ritzel, die Abstände zwischen den Ritzeln sowie die Kette schmaler als bisher. Skeptikern, die argwöhnen, dies könnte die Haltbarkeit des Antriebsstranges mindern, hält Campagnolo entgegen, dass dies auch bei den Erweiterungen von neun auf zehn und von zehn auf elf Ritzel befürchtet wurde, ohne sich zu bewahrheiten. Eine Aussage, die sich mit Erkenntnissen aus diversen TOUR-Tests deckt, bei denen sich Campagnolo-Antriebe meist als besonders langlebig erwiesen; die möglicherweise geringere Lebensdauer der Zwölffach-Komponenten dürfte daher kein dominantes Thema sein.
Technisch und optisch neu präsentieren sich auch die Kettenradgarnituren, die in den Abstufungen 50/34, 52/36 und 53/39 Zähne lieferbar sind. Neben den bisher erhältlichen Varianten mit 175, 172,5 und 170 Millimetern Länge sind künftig auch Kurbeln mit 165 Millimetern Länge verfügbar. Alle Varianten bestehen aus Carbon und basieren auf dem bekannten Design mit vierarmigem Kurbelstern und unterschiedlichen Lochkreisen für beide Blätter. Bei der Super-Record-Kurbel sind je zwei Arme des Sterns durch Brücken an den äußeren Enden verbunden. Die schon bisher sehr verwindungsresistente Kurbel soll deshalb noch steifer sein als bisher. Der Abstand der Kettenblätter wurde an die schmalere Kette angepasst, zudem wurde die Kettenlinie minimal nach außen verschoben. Dies soll bei Disc-Rennrädern mit 142 Millimetern Einbauweite am Hinterrad die gleiche Schalt-Performance sicherstellen wie bei konventionellen Rädern mit 130 Millimetern Einbauweite.
Die neuen Felgenbremsen sind mit klassischem Befestigungsbolzen sowie als Direct-Mount-Version erhältlich. Beide Zangen wurden für die im Trend liegenden breiteren Felgen optimiert und bieten Platz für mindestens 28 Millimeter breite Reifen. Durch einen integrierten Verstärkungsbügel soll die Direct-Mount-Bremse steifer sein als bisher. Für die Scheibenbremsvarianten beider Gruppen gibt es jeweils angepasste Ergopower-Hebel mit Zwölfgangmechanik, die künftig die jeweilige Gruppenbezeichnung statt wie im Vorjahr das neutrale H11-Logo tragen.
Die Auslieferung der neuen Gruppen beginnt noch im April. Mit der Preisgestaltung bleibt Campagnolo seinem Anspruch als Premium-Anbieter treu. Als günstigste Zwölffach-Gruppe soll die Record mit Felgenbremsen rund 1.960 Euro kosten, die Record mit Scheibenbremsen etwa 2.395 Euro. Für die Felgenbrems-Variante der Super Record werden ca. 2.915 Euro fällig, für die Super Record mit Discs rund 3.200 Euro. Einen ausführlichen Test der Zwölffach-Schaltung bringen wir in der nächstmöglichen Ausgabe.