Mit einer elektronischen SRAM-Schaltung hatte Diana Rieger in ihrer Rennrad-Laufbahn bislang noch keinen Kontakt. Bisher kennt die Hobbyradsportlerin ausschließlich mechanische Shimano-Gruppen. „Mega“, findet die Mittvierzigerin die Gruppe aber schon nach den fünf Sekunden, in denen sie die Schaltlogik erklärt bekommt. Ändern wird sich ihre Meinung im Tagesverlauf nicht mehr, im Gegenteil: Ihr nächstes Rad soll genau so eine Schaltung haben. „FTUE“ nennen Marketing-Fachleute das, „First Time User Experience“. Fällt sie positiv aus, ist das die halbe Miete für ein erfolgreiches Produkt. Besonders wichtig werden solche Effekte bei Konkurrenzprodukten, die sich sehr ähnlich sind – zum Beispiel Rennradschaltungen.
Kaum etwas prägt die Fahrt auf dem Rennrad so nachdrücklich wie die Komponenten: Getreten, geschaltet und gebremst wird schließlich andauernd. Verantwortlich dafür ist ein Ensemble aus Einzelteilen, das in der Regel von einem Hersteller kommt und aufeinander abgestimmt ist. Dass das prima harmoniert und funktioniert, darf man von modernen Komponentengruppen erwarten: Die Grundfunktionen sind über Jahrzehnte gereift und immer weiter verbessert worden. Der Konkurrenzdruck weniger führender Hersteller führte dazu, dass die eigentlich simplen Funktionen heute von kleinen Wunderwerken der Technik erledigt werden, bei denen kaum noch etwas schiefgeht. Die Entscheidung für einen der Anbieter fällt gerade deshalb vielen nicht leicht.
Die Suche nach der passenden Gruppe ist traditionell auch eine Glaubensfrage. Solange Schaltungen ausschließlich mechanisch funktionierten, ging es hauptsächlich um die Bedienlogik als wichtigem Unterscheidungsmerkmal: Campagnolo, Shimano oder SRAM? Es war in der Regel eine Frage persönlicher Vorlieben, wo die Schalthebel sitzen sollen und wie leicht oder schwer sie zu betätigen sind. Im Zeitalter elektronischer Schaltungen, in dem Gänge nur noch per Knopfdruck und von Stellmotoren gewechselt werden, gehören solche Glaubenssätze doch eigentlich über Bord geworfen; man könnte sich auf harte Fakten konzentrieren. Oder doch nicht? Die Praxis zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. In ihrer mechanischen Performance liegen die Gruppen heute extrem nahe beieinander. Hakelige SRAM-Umwerfer, schleifende Shimano-Bremsen oder schwer erreichbare Campagnolo-Hebel sind Erinnerungen an eine Vergangenheit, die für das moderne Material nicht mehr zutreffen. Die Gruppen aller drei Hersteller schalten perfekt, bremsen hervorragend, laufen leise und zeigen ein vergleichbares Verschleißverhalten. Selbst beim Gewicht – für Rennradfahrer immer ein Grund, sich für oder gegen ein Produkt zu entscheiden – liegen die Anbieter kaum auseinander. Gerade mal 80 Gramm trennen nach unseren Messungen das leichteste (SRAM Red AXS) vom „schwersten“ Ensemble (Shimano Dura-Ace).
Umso mehr kommt es heute auf „soft skills“ an, die sich nicht so leicht in Zahlen fassen oder in Tabellen abbilden lassen: Passt die Bedienlogik der Schaltknöpfe, oder lässt sie sich ändern? Lassen sich Fahrdaten mit einer Smartphone-App auswerten, die Schaltung per Touchscreen justieren, Leistungsmessung oder Radcomputer einfach einbinden? Kann man die Akkus entnehmen oder muss das ganze Rad zum Laden an die Steckdose? Auch von Elektronik und Software abgesehen gibt es Argumente, die im Zweifel wichtiger sind als 80 Gramm Gewichtsunterschied: Wie gut fassen sich die Hebel an? Welche Übersetzungen gibt es, was kosten die Verschleißteile –und ist die Schaltung mit meinen Wunsch-Laufrädern kompatibel?
Für diesen etwas anderen Vergleich haben wir die Erfahrungen aus Tests und Praxiskilometern der vergangenen Jahre mit den unterschiedlichen Gruppen zusammengefasst, Radhersteller, Kollegen und Freunde nach ihrer Meinung gefragt und Laien wie Diana die Teile ausprobieren lassen. Mit drei aktuellen Rädern, die uns freundlicherweise der Hersteller Benotti aufgebaut hat, konnten wir einzelne Funktionen in der Praxis nachvollziehen und vergleichen. Dabei zeigt sich, dass sich auch langjährige Anhänger bestimmter Marken von positiven wie negativen Nutzererfahrungen durchaus umstimmen lassen. Zumindest in der Tendenz kristallisiert sich beim aktuellen Entwicklungsstand der Produkte ein Gewinner heraus: SRAM macht mit der neuen Red AXS offenbar vieles richtig; es gibt eingefleischte Shimano- und Campagnolo-Fans, die mit der neuesten Gruppe der einst belächelten Amerikaner liebäugeln. Gelobt werden vor allem die Bedienlogik, der zur Schaltung passende Radcomputer mit seinen Funktionen, die untereinander tauschbaren Akkus. Dass (fast) alles selbsterklärend funktioniert, dass auch Laien mit der einfachen App eine Schaltung einstellen, ein Powermeter koppeln und Daten auswerten können, wird als technologischer Fortschritt wahrgenommen. Davon kann Marktführer Shimano etwas, Traditionshersteller Campagnolo sogar sehr viel lernen. Die Italiener zeigen sich in diesen Disziplinen nämlich abgehängt: Über die komplizierte Einstellung der Schaltung und die sparsame App mit wenigen Funktionen sind viele Fans der Marke enttäuscht. Aber es gibt auch Schattenseiten der SRAM-Gruppe, zum Beispiel die hohen Ersatzteilpreise. Hier punktet Shimano, weil beispielsweise Ketten und Bremsscheiben auch für Mountainbike-Gruppen genutzt werden und somit überall verfügbar und preiswert sind. Auch die Kompatibilität mit quasi allen Laufrädern kann ein Argument für Shimano sein.
Wie so häufig ist aber nicht jedes Kriterium für jede Benutzerin oder jeden Benutzer gleich wichtig. Diana jedenfalls überzeugt der Erstkontakt mit SRAM zunächst. Wenn sie später über die Ersatzteilpreise für Ritzel und Kettenblätter nachdenkt, könnte die LTUE – „Long-Term User Experience“, sprich Langzeiterfahrung – aber unter Umständen eine andere Richtung nehmen. Dies gilt es natürlich zu vermeiden. Um selbst entscheiden zu können, haben wir die wichtigsten Infos zu den Herstellern auf den folgenden Seiten zusammengefasst. Außerdem geben wir Tipps, was es bei den Herstellern abseits der neuesten Top-Gruppen noch gibt und welche Übersetzungen für Ihren Einsatz die passenden sind.