Zu Gast bei CampagnoloTOUR im Inneren einer Auster

Jörg Spaniol

 · 30.07.2023

Zu Besuch in einem Betonquader voller Grandezza und Geheimnisse
Foto: Jörg Spaniol
Tanti auguri: Seit mittlerweile 90 Jahren produziert Campagnolo im italienischen Vicenza Rennradkomponenten. Den Markt dominieren heute andere, doch der Stolz ist ungebrochen. Zu Besuch in einem Betonquader voller Grandezza und Geheimnisse.

Campagnolo - TOUR war beim Rennrad-Komponentenhersteller zu Gast

Der Plan des Gewerbegebiets südlich von Vicenza ist an Nüchternheit kaum zu überbieten. Er verzeichnet die Straße der Wissenschaft, die Straße der Wirtschaft, die Straße der Physik. Und schließlich, genau gegenüber, getrennt durch sechs Fahrspuren voll rasender Betriebsamkeit, verläuft da die Straße der Chemie, die Via della Chimica – das Ziel einer langen Anreise. Eine Hausnummer ist überflüssig, denn der Schriftzug “Campagnolo” prangt in dunkelblauer Schreibschrift 36 Meter lang vom Dach.

Im Industriegebiet von Vicenza ist der gut 36 Meter lange Campagnolo-­Schriftzug kaum zu übersehen. Die Schnellstraße trennt die Zentrale von der Tochterfirma FulcrumFoto: Jörg SpaniolIm Industriegebiet von Vicenza ist der gut 36 Meter lange Campagnolo-­Schriftzug kaum zu übersehen. Die Schnellstraße trennt die Zentrale von der Tochterfirma Fulcrum

Rennradteile wachsen erwartbar nicht im Vorgarten eines Ponyhofs. Dass sie hier im Industrieviertel von Vicenza entstehen, ist in der globalisierten Wirtschaft trotzdem eine kleine Sensation: Marktführer Shimano und Aufsteiger SRAM produzieren überwiegend im günstigeren Asien. Campagnolo ist dagegen fast genau da geblieben, wo Firmengründer Tullio Campagnolo vor 90 Jahren beschloss, sich mit Rennrad-Komponenten zu etablieren.

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Campagnolo mag eine ruhmreiche Vergangenheit haben, aber wir schauen lieber vorwärts (Nicola Baggio, Marketingleiter)

Etwa 400 Angestellte sollen hier arbeiten, noch einmal genauso viele in zwei eigenen Fabriken in Rumänien. Was genau wo passiert, verrät die Marke nicht. Andeutungsweise liegt der Schwerpunkt von Laufradbau und Montage im vergleichsweise günstigen Rumänien. Wirtschaftliche Eckdaten wie Umsatz oder Gewinn? Ebenfalls Fehlanzeige. Als Familienunternehmer sind Tullios Erben keinem Aktionär Rechenschaft schuldig. Man gibt sich verschlossen wie eine Auster.

Auch im Hochlohnland Italien spielt Handarbeit noch eine Rolle. Große Teile der Fertigung hat Campagnolo jedoch ins günstigere Rumänien verlagertFoto: Jörg SpaniolAuch im Hochlohnland Italien spielt Handarbeit noch eine Rolle. Große Teile der Fertigung hat Campagnolo jedoch ins günstigere Rumänien verlagert

Campagnolo 4.0

Zur Feier des 90-jährigen Bestehens öffnet sich die Auster an diesem Morgen einen Spalt weit, um den Besucher aus Deutschland einzulassen. Und so, wie man vor dem Betreten mancher Labors in einen sterilen Anzug verpackt wird, steht bei Campa eine kompakte Informationsdusche vor dem Weg in die heiligen Hallen.

Drei Mann stark stehen Marketing und Produktmanagement für ein Update auf die aktuelle Version der Traditionsmarke bereit. “Wir entwickeln uns gerade zu Campagnolo 4.0”, sagt Marketingchef Nicola Baggio. “Campagnolo mag eine ruhmreiche Vergangenheit haben, aber wir schauen lieber vorwärts. Es geht nicht um Traditionspflege, sondern um die Bedürfnisse der Fahrer, um die Anforderungen des Marktes.”

Stabile Lieferkette

Und der ist noch immer aufnahmebereit. Glücklicher Zufall: Mit nach Firmenangaben 84 Prozent seiner Wertschöpfung in der Europäischen Union quietschte Campagnolos Lieferkette während der Corona-Pandemie weniger als die der Konkurrenten. Die neue Gravelbike-Komponentengruppe Ekar mit ihrer 1-×-13-Übersetzung kam zudem recht­zeitig, um die aktuelle Trendwelle mitzunehmen.

TOUR zu Besuch in einem Betonquader voller Grandezza und GeheimnisseFoto: Jörg SpaniolTOUR zu Besuch in einem Betonquader voller Grandezza und Geheimnisse

Große Komplettradhersteller, bei denen Campagnolo zuvor nur selten zu finden war, ordern für ihre Gravelbikes nun wieder in Vicenza. Um 41 Prozent soll sich der Gewinn von 2021 auf 2022 insgesamt gesteigert haben, sagt das Briefing.

Dann lässt eine perfekte Animation das neue High-End-Laufrad Hyperon aus vielen Car­bon­lagen auf dem Bildschirm entstehen. Speichen verbinden sich magisch mit einer kunstvoll geformten Nabe, das Rad dreht sich und kommt zum Stillstand. Klick, klick, klick, macht der Freilauf. Eine Schweige­sekunde, dann beginnt der Weg aus der virtuellen Welt der Präsentation in die große me­chanische Welt der Produktion.

Campagnolo steht unter Druck

In der Flächen-Maßeinheit “Fußballfeld” ausgedrückt: Gut zwei davon bedeckt allein die Fabrik in Vicenza. Höchstens ein Viertel davon – und auch das nur ausnahmsweise und in aufmerksamer ­Begleitung – werden wir sehen oder gar fotografieren können. Der globale Wettbewerb in der Radbranche ist scharf. Im Top-Segment des Marktes wird jedes Detailwissen, jedes Entwicklungsprojekt streng abgeschirmt. Und Campagnolo steht unter Druck.

Bevor Shimano in den 1970er-Jahren begann, in Europa Rennradkomponenten anzubieten, war Campagnolo der unumstrittene Platzhirsch. 1963, also 30 Jahre nach Erfindung des Schnellspannhebels und später der renntauglichen Kettenschaltung durch Tullio Campagnolo, fuhren 110 von 130 Fahrern der Tour de France von ihm entwickelte Komponenten. Ihr Image schien unantastbar, bis mit dem Erstarken des japanischen Konkurrenten, der Produktion erfolgloser Mountainbike-Komponenten und dem Tod des Gründers im Jahr 1983 die Gewissheiten bröckelten.

Nur die Kurbeln der Centaur-Gruppe bestehen noch aus geschmiedetem Aluminium. Im Gegensatz zur Carbonfertigung der anderen Gruppen ist ihr Anblick nicht geheimFoto: Jörg SpaniolNur die Kurbeln der Centaur-Gruppe bestehen noch aus geschmiedetem Aluminium. Im Gegensatz zur Carbonfertigung der anderen Gruppen ist ihr Anblick nicht geheim

Die Abwärtslinie der Marktanteile lässt sich grob in vorliegenden TOUR-Leserbefragungen nachvollziehen. Im Jahr 2000 besaßen ­29 Prozent der Leser Rennräder mit Campa-­Ausstattung, zehn Jahre später waren es noch 19 Prozent, in der Umfrage von 2022 lag der Anteil bei schmalen 13,5 Prozent. SRAM, erst seit 15 Jahren mit Rennradkomponenten auf dem Markt, erreichte zuletzt etwa 18 Prozent, bei Shimano verblieb der mit 67 Prozent überwältigende Marktanteil.



Campagnolo - Oft die Nase vorn

Auch wenn diese Momentaufnahme nur den deutschsprachigen Markt zeigt: Nur wenige globale Radmarken bieten noch Serien-Rennräder mit Campa-Ausstattung an. Wenn sie es tun, dann tendenziell am obersten Rand des Preisspektrums – da, wo es um die Feinheiten geht und der Entwicklungsaufwand ausufert. Dass Campagnolo hier überhaupt bestehen kann, ist beeindruckend, denn der viel breiter aufgestellte Konkurrent Shimano dürfte einen mindestens 20-fach höheren Umsatz erwirtschaften.

Auch SRAM ist mitsamt seiner Markenfamilie ein deutlich größerer Player. Das erlaubt ganz andere Entwicklungs-­Budgets, doch Campagnolo hatte in Sachen Innovationen oft genug die Nase vorn. Vor allem im Ritzelrennen ist die Lage eindeutig: Von 1980 bis heute hat Campagnolo die Kassetten von 6 auf aktuell 13 Kränze erweitert – durchschnittlich alle sechs Jahre legten die Italiener eine Scheibe drauf.

Es riecht nach Stahl und Öl

Unterwegs in der mehr als zehn Meter hohen Betonhalle. Es riecht nach Stahl und Öl und der guten, alten Industrie. Seit Beginn der 1980er-Jahre produziert Campagnolo an ­diesem Standort. Tonnenschwere Pressen ­formen Bandstahl zu Ritzeln, ausgefuchste Maschinen mit vielen Pneumatikschläuchen verknüpfen kleine Metallplättchen zu Fahrradketten. In etwa einem Dutzend Fräszellen verwandelt Hightech massive Stahlblöcke in filigrane Ekar-Ritzelpakete. Ein Roboter fährt gelegentlich blinkend dazwischen herum, doch auch er kann das Dilemma des Marketingmanagers nicht beiseiteräumen: Was hier geschieht, ist klassische Metallverarbeitung, die nicht für die Zukunft stehen soll.

Die Ekar-Ritzel werden weitgehend aus einem Stück massiven Stahls herausgefräst – ähnlich, wie SRAM es bei Top-Gruppen machtFoto: Jörg SpaniolDie Ekar-Ritzel werden weitgehend aus einem Stück massiven Stahls herausgefräst – ähnlich, wie SRAM es bei Top-Gruppen macht

Campagnolo - Die Zukunft ist unsichtbar

Doch das, was der wolkige Begriff von Campagnolo 4.0 umfassen könnte, ist so geheim, dass selbst ein Blick in die falsche Richtung schon umgeleitet wird. Hinter einer deckenhohen Wand soll sich die Galvanik befinden. Mal kurz reinschauen? Viel zu gefährlich – die Säuren, die Gase. An einem Arbeitsplatz mitten in der Halle hängen Carbonfelgen, aus denen in etwa eintägiger Handarbeit die mehr als 3000 Euro teuren Scheibenräder entstehen.

Ein Foto davon? Nein, auf keinen Fall, denn das speichenlose Scheibenrad und seine Fertigung sind eine Delikatesse des Hauses. Und hinter ihm beginne der ohnehin geheime Bereich der Carbonfertigung – ein Thema, das längst nicht nur die Laufräder, sondern auch die Schaltkomponenten bestimmt. Doch die Carbonfertigung ist sozusagen eine Auster in der Auster. Das Einzige, was auf sie verweist, ist eine Kühlkammer von der Größe eines Frachtcontainers. Ihr Temperaturdisplay zeigt minus 18 Grad. In ihr lagern Carbonmatten, heißt es.

Bitte weitergehen!

Einige Meter weiter läuft der glänzende Estrich des Flurs auf einen rundum verglasten Bürobereich in der Werkshalle zu. Darin glimmen ein Dutzend Monitore, dort steht ein Hightech-Mikroskop für metallurgische Untersuchungen der Rohmaterialien. Ein paar Mitarbeiter schauen konzentriert auf Teile ... bitte weitergehen. Dahinter ein ähnlicher Glaskasten, eine voll ausgestattete Fahrradwerkstatt, in der teilzerlegte Top-Räder bekannter Marken lehnen. Offenbar werden hier Testräder mit neuen Komponenten bestückt. Campagnolo soll höchst umfangreiche Praxis- und Labortests durchführen, heißt es ... Aber: Bitte weitergehen, keine Fotos.

Irgendwo hinter Stellwänden, Mauern und Türen mit Codeschlössern entwickelt Campagnolo die Software für die EPS-Schaltungen, die Formen der Bedienelemente und die Layups für die Carbonteile. Das alles, so ver­sichern die Begleiter aus Marketing und Produktmanagement, passiere hier, unter den Dächern des graugelben Betonbaus in der Via della Chimica. Allein, es bleibt unsichtbar.

Valentino Campagnolo

Ganz in der Nähe dieses Daches, es dürfte ­etwa unter dem Buchstaben “P” des dunkel­blauen Namenszuges sein, liegt ein Besprechungsraum mit dem gediegenen Flair von Chefetage. Parkettboden, Teppich, eine Sitzgruppe von Le Corbusier, eine Lampe und ­eine Garderobe aus kunstvoll verquickten Campagnolo-Komponenten. Dass Valentino Campagnolo der wahre Herr des Hauses ist, lässt schon die respektvolle Art erahnen, in der die Mitarbeiter seinen Namen nennen.

Das Firmengebäude wurde in den frühen 1980er-Jahren gebaut. Die ­Ästhetik dieser Zeit zieht sich von der Führungsetage bis in die KantineFoto: Jörg SpaniolDas Firmengebäude wurde in den frühen 1980er-Jahren gebaut. Die ­Ästhetik dieser Zeit zieht sich von der Führungsetage bis in die Kantine

Dabei klang es nicht so, als sei der Sohn des Firmengründers die in der Radbranche gelegentlich anzutreffende Art Chef, der in Flipflops seinen Teller Spaghetti auf einem Plastiktablett durch die Kantine balanciert und Angestellten auf die Schulter haut. Als Valentino Campagnolo, ein eleganter Herr Anfang siebzig, durch eine Seitentür eintritt, ist er der Erste, der am Konferenztisch Platz nimmt. Erst nach ihm lassen sich Marketingchef und Produktmanager nieder.

Seit dem Tod des Firmengründers vor 40 Jahren leitet Valentino Campagnolo die Firma. Sein Sohn Davide, der wahrscheinliche Thron­folger, ist aktuell Geschäftsführer des Campagnolo-Ablegers Fulcrum auf der anderen Seite der Schnellstraße. Unter Valentinos Führung ist Campagnolo in die Sackgasse der Mountainbike-Komponenten hineingerollt und wieder ­heraus, hat mit den Tour-Siegern Indurain, Pantani und Ullrich gejubelt, hat Pionierleistungen bei ­Aero-Laufrädern und Elektroschaltungen vollbracht.

Seit dem Tod des Firmengründers vor 40 Jahren leitet Valentino Campagnolo die FirmaFoto: Jörg SpaniolSeit dem Tod des Firmengründers vor 40 Jahren leitet Valentino Campagnolo die Firma

Anlass zur Sorge?

Jetzt, zum Jubiläum, ist dennoch nur ein einziges World-Tour-Team (AG2R) mit Campa­-Teilen unterwegs. Ein Anlass zur Sorge? Valentino Campagnolos ungemein ruhiger Redefluss schlägt auch bei diesem Thema keine Wellen. “In den vergangenen Jahren sind die Kosten für das Teamsponsoring drastisch gestiegen”, erklärt er, “deshalb mussten wir unsere Aktivitäten reduzieren. Es kommt aber auch nicht darauf an, möglichst viele World-Tour-Teams auszustatten. Es geht um solche, die auch gewinnen. Mittelklassige Teams, das ist nichts für Campagnolo. Campagnolo ist immer top, top, top.” Seine flache Hand markiert ein Niveau weit über der Tischplatte.

Auch die Technikentwicklung der vergangenen Jahre konzentriert sich auf die oberste ­Liga der Renn- und Gravelräder – ein kurz ­gelüftetes schwarzes Tuch über der nächsten Evolutionsstufe der Straßenkomponenten enthüllt teuerste High­-End-Technik. Die preiswerteren Gruppen der Vergangenheit wurden sukzessive eingestellt.

Aus Aluminium-Strangprofilen gebogene Rohlinge warten darauf, zu Campagnolo-Laufrädern 
geadelt zu werdenFoto: Jörg SpaniolAus Aluminium-Strangprofilen gebogene Rohlinge warten darauf, zu Campagnolo-Laufrädern geadelt zu werden

Doch der Massenmarkt, das strahlt die Marke ebenso aus wie ihr Chef, ist ohnehin nicht interessant: “Es ist die Pflicht von Campagnolo, neue Ideen hervorzubringen. Wir beobachten den Markt und überlegen, was wir ihm mit unseren Möglichkeiten an­bieten können, und ob es zur Marke Campagnolo passt. Unsere Struktur erlaubt es uns dann, schnell zu handeln und zu reagieren. Wir werden niemals Kopisten sein.”

Einige Fotos später zieht sich der Mann mit dem großen Markennamen in sein Büro zurück, kurz darauf schließt sich auch das Firmentor hinter dem Besucher. Die Auster namens Campagnolo klappt zu. In ihrem Inneren mögen wertvolle Perlen reifen, doch zusehen kann man ­dabei nicht. Sie schimmern erst, wenn sie kostbar und geheimnisvoll in der Auslage eines Rennrad-Juweliers liegen.

90 Jahre Campagnolo - Wegmarken

  • 1927: Erfindung des Schnellspannhebels zum Radausbau
  • 1933: Firmengründung in Vicenza
  • 1946: Gestänge-Kettenschaltung Cambio Corsa
  • 1950: Parallelogramm-Kettenschaltung Gran Sport mit Bowdenzug und Unterrohrhebeln
  • 1973: Die Super-Record-Schaltgruppe kommt auf den Markt
  • 1983: Tod des Firmengründers Tullio Campagnolo, Übergang an seinen Sohn Valentino
  • 1984: Schaltgruppe C-Record mit Delta-Bremsen
  • 1992: Hochprofil-Systemlaufräder Shamal; Pionier der Systemlaufräder
  • 1992: Ergopower-Schaltbremsgriffe (nach Shimano STI)
  • 2004: Gründung der Tochterfirma Fulcrum (Laufräder)
  • 2013: Elektroschaltung EPS
  • 2020: Gravelschaltung Ekar 1 × 13
Frühe Preziose: Schaltwerk der Campagnolo Gran SportFoto: Jörg SpaniolFrühe Preziose: Schaltwerk der Campagnolo Gran Sport

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