Sie ist eine Legende. Die TOUR-Transalp, erstmals ausgetragen 2003, hat sich im Laufe der Jahre zu einem absoluten Highlight der Jedermann-Szene entwickelt. Die Idee, in sieben Etappen mit dem Rennrad über die Alpen zu fahren, ist bestechend und hat in mehr als zwanzig Jahren Transalp-Geschichte nichts von ihrer Faszination verloren. Neben den faszinierenden Strecken durch die schönsten Regionen der Alpen liegt das glasklar auch an der sportlichen Herausforderung: In diesem Jahr sind auf dem Weg von Lienz nach Riva del Garda mehr als 600 Kilometer und 15.000 Höhenmeter zu bewältigen – das setzt schon eine gewisse Erfahrung und ein paar Trainingsjahre auf dem Rad voraus, ist dafür aber auch ein ganz besonderer Punkt auf der Radsport-Bucketlist.
Nina Helbig und Oliver Lüs spielten schon länger mit der Idee, an der TOUR-Transalp teilzunehmen. Das Radsport-Paar aus Halle an der Saale, er 42 Jahre alt, sie 39, hat ein Faible für anspruchsvolle Strecken, die in ihrer Heimatregion Sachsen-Anhalt mangels hoher Berge auch mal betont lang ausfallen können. Die Mecklenburger Seen Runde mit 300 Kilometern haben sie ebenso schon unter die Räder genommen wie den Stoneman Erzgebirge und andere schwere Radmarathons. Beide erzielen jedes Jahr locker fünfstellige Kilometerleistungen mit dem Rennrad, besonders Nina ist eine extreme Vielfahrerin: Sie sitzt eigentlich jeden Tag im Sattel und bringt es auf mehr als 30.000 Kilometer im Jahr.
2023 machte ihr allerdings ein Verkehrsunfall im September einen Strich durch die Rechnung. Mit gebrochenem Ellbogen musste sie einige Zeit mit dem Radfahren aussetzen und hatte plötzlich ungewöhnlich viel freie Zeit. Zeit, die sie auch nutzte, um für die Radsaison 2024 Pläne zu schmieden – und just in dieser Phase entdeckte sie in TOUR die Aufforderung, sich für das “Team Diasporal-Alpen-Challenge” zu bewerben. Lustige Begebenheit am Rande: “Ich dachte erst, ich müsse mich alleine bewerben und Oliver auch, damit wir dann anschließend ein Team bilden können”, erzählt Nina. Doch die Sache klärte sich auf, die beiden bewarben sich als Team und hatten das Glück, aus mehr als 250 Bewerbungen ausgewählt zu werden.
Im Paket neben Transalp-Ticket und Equipment unter anderem enthalten: eine professionelle Leistungsdiagnose und darauf abgestimmte individuelle Trainingspläne. Verantwortlich dafür zeichnet Stefanie Mollnhauer mit ihrem Institut pro-formance in Weißensberg bei Lindau am Bodensee. Die ehemalige erfolgreiche Läuferin, Duathletin und Radsportlerin bringt als niedergelassene Ärztin sowohl den praktischen wie theoretischen Hintergrund mit. Sie sagt: “Eine Leistungsdiagnostik ist gerade auch für Hobbysportler sehr hilfreich, um die knappe Trainingszeit möglichst effektiv einzusetzen. Denn erst, wenn man seine individuellen Trainingsbereiche kennt, ergibt ein Training nach Herzfrequenz oder Watt überhaupt Sinn.”
An einem regnerischen Samstag im Februar widmet sie sich zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Heide-Maria Jäger dem TOUR-Transalp-Team. Nina und Oliver sind schon am Vorabend mit dem Zug aus Halle an der Saale angereist; für beide ist es das erste Mal in ihrer Radsport-Karriere, dass sie eine professionelle Leistungsdiagnostik in Form eines Laktat-Stufentests absolvieren können. Sie nutzen zwar Leistungsmesspedale an ihren Rädern, aber ihre Intensitätsbereiche fürs Training beruhen auf Erfahrungen und selbst gewonnenen Daten. Beide sind vor dem Test ein wenig aufgeregt, aber auch gespannt, welche Ergebnisse sie erzielen.
Erst wenn man seine individuellen Trainingsbereiche kennt, ergibt Training nach Herzfrequenz oder Watt überhaupt Sinn. - Stefanie Mollnhauer
Wenig später steht das Set-up. Das Rad auf der für wissenschaftliche Zwecke geeigneten Rolle ist passend eingestellt, Oliver mit Sensoren verkabelt, die Aufzeichnung seiner Pulswerte startklar. Die Belastung beginnt mit 100 Watt; alle fünf Minuten wird sie um 40 Watt erhöht, 30 Sekunden vorher entnimmt Stefanie Mollnhauer ihrem Probanden einen Tropfen Blut aus dem Ohrläppchen. Dies dient zur Bestimmung der Laktatwerte während des Tests, deren Verlauf bzw. Anstieg Auskunft darüber gibt, wie es um Olivers Leistungsfähigkeit bestellt ist. Diese Werte im Zusammenhang mit der jeweiligen Herzfrequenz bilden dann auch die Grundlage für die Trainingsempfehlungen und -pläne.
Typische Kurven einer Leistungsdiagnostik: Die obere Kurve bildet den Verlauf der Herzfrequenz ab. Dass sie am oberen Ende noch gerade verläuft, ist ein Hinweis darauf, dass das Limit noch nicht erreicht wurde. Die untere Kurve zeigt die Laktatentwicklung. Je länger sie parallel zur waagerechten Achse verläuft und je später sie nach oben abknickt, desto besser ist die aerobe Ausdauerleistung.
Oliver geht die Sache konzentriert an; die ersten Stufen bewältigt er noch recht locker, aber als nach 30 Minuten die 300-Watt-Schwelle fällt, ist ihm die Anstrengung deutlich anzusehen, der Schweiß rinnt, die Adern treten hervor, mit maximaler Willensanstrengung hält er die Pedale in Bewegung. Bei 380 Watt bricht er den Test schließlich ab. Stefanie Mollnhauer kommentiert: “Man hat schon während des Tests gesehen, dass Oliver ein gutes Niveau mitbringt.” Nachdem sie die gesammelten Daten ausgewertet hat, konkretisiert sie die Analyse: “Olivers Leistungsfähigkeit ist gut anhand der IANS (individuelle anaerobe Schwelle, Anm. d. Red.) zu beurteilen; alters- und geschlechtsspezifisch liegt er deutlich über dem Durchschnitt.
Seine IANS liegt bei einem Puls von 162 und einer Leistung von 230 Watt, das entspricht 3,4 Watt pro Kilogramm Körpergewicht.” Dieser Schwellenwert entspricht 76,6 Prozent von Olivers Maximalleistung. Nach Ansicht der Trainingsexpertin ist das ein mittlerer Bereich, was bedeutet, dass Ausdauer und Schnelligkeit etwa gleich gut trainiert sind. Mollnhauer ergänzt: “Trotzdem sollte Oliver noch mehr Augenmerk auf den Grundlagenbereich legen, gerade für ein Etappenrennen. Aber das ist dann ein Thema für die wärmeren Monate, wenn man wieder mehr draußen trainieren kann. Für den Testzeitpunkt sieht das aber schon ziemlich gut aus. Eine prima Basis, um weiter darauf aufzubauen!”
Den Verlauf von Olivers Herzfrequenz- und Laktatkurve analysiert Mollnhauer so: “Er hat recht viel schnellkräftige Muskulatur, die ja überhaupt den anaeroben Stoffwechsel kann. Oliver wird im Team auf jeden Fall derjenige sein, der Lücken zufahren kann.” Die erste Erkenntnis aus dem Test ist für Oliver in gewisser Weise eine Bestätigung und gleichzeitig auch überraschend: “Der FTP-Wert entspricht ungefähr dem selbst ermittelten Wert aus FTP-Rampentests. Ich hatte vermutet, dass die Tests auf Zwift weniger genau sind.” Die zweite wesentliche Erkenntnis des Elektroinstallateurs, der im Industrieanlagenbau arbeitet, teilt er vermutlich mit relativ vielen engagierten Hobbysportlern: “Ich fahre prinzipiell mit einer viel zu hohen Herzfrequenz – in allen Leistungsbereichen”, stellt Oliver mit Blick auf seine Testergebnisse etwas konsterniert fest.
Die konkreten Trainingspläne für die folgenden Wochen arbeitet Stefanie Mollnhauer anhand der Testergebnisse erst noch aus, so kurz nach der Leistungsdiagnostik sind sie noch nicht fertig. Aber eine Konsequenz ist Oliver schon klar und bringt ihn ins Grübeln: “Ich muss im Grundlagenbereich über längere Zeit mit niedrigerer Herzfrequenz trainieren. Das ist erst mal ungewohnt. Und Gruppenfahrten könnten so eventuell zu einem Problem werden.” Für Oliver – und auch Nina – keine Kleinigkeit, erklären sie doch beide, dass es einer der wichtigsten Aspekte ihres Sports für sie ist, am Wochenende gemeinsam mit Freunden lange Touren auf dem Rad zu unternehmen.
Wer für sich eine persönliche Leistungsdiagnostik ausschließt, jedoch das bestmögliche beim Training aus sich herausholen möchte, kann sich an unserer Trainingsserie orientieren. Wir haben die wichtigsten Pläne und Tipps zusammengetragen, unter anderem:
Dann ist Nina dran, um sich auf dem Ergometer Stufe für Stufe in der Belastung zu steigern und letztlich auszupowern. Allerdings schwingt eine leise Unsicherheit bei ihr mit: Die Folgen des Verkehrsunfalls sind noch spürbar, erzählt sie: “Die konservative Behandlung des Ellbogenbruchs war natürlich recht zeitaufwendig. Insgesamt war der Arm acht Wochen erst geschient und dann in einer Orthese. Bis Mitte Januar durfte ich gar nicht auf der Straße Rad fahren.” Mit vorsichtigem Training auf der Rolle hat sie zwar seit Oktober wieder begonnen, um etwas für ihre Fitness zu tun, aber für jemanden, der in normalen Jahren mehr als 30.000 Kilometer im Sattel verbringt, war und ist die Verletzung natürlich ein herber Einschnitt.
Mit Blick auf ihre Testergebnisse stellt die Trainingsexperten indes fest: “Ninas Leistungsfähigkeit stellt sich alters- und geschlechtsspezifisch deutlich überdurchschnittlich dar. Ihre individuelle anaerobe Schwelle liegt bei einer Herzfrequenz von 166 Schlägen und einer Leistung von 179 Watt; das entspricht 3,2 Watt pro Kilogramm Körpergewicht.” Kurioser Fakt am Rande: “Ninas Schwellenwert entspricht aktuell 76,7 Prozent ihrer Maximalleistung. Das ist fast exakt der gleiche Wert wie bei Oliver.” Bei Nina selbst mischt sich leichte Ernüchterung mit einer interessanten Erkenntnis. Ein wenig enttäuscht ist sie, dass sie ihre bärenstarke Grundlagenausdauer infolge des Unfalls weniger erhalten konnte als erhofft, obwohl sie so früh wie möglich wieder mit Training angefangen hat: “Das hat zwar gereicht, um die Grundlage prinzipiell zu erhalten, aber nicht in dem Maße, wie ich mir das erhofft hatte.”
Über die Stärken-Schwächen-Analyse bekommt man Hinweise, welche Schwerpunkte man im Training legen sollte. - Heide-Maria Jäger
Mit Blick auf ihre Werte aus der Leistungsdiagnostik stellt sie aber auch fest: “Meine bisherige maximale Herzfrequenz lag bei 186. Ich bin überrascht, dass ich da doch noch einiges verschenkt habe. Beim Test lag sie bei 190 Schlägen und Steffi (Mollnhauer, Anm. d. Red.) meinte, dass das noch nicht die maximale Ausbelastung war. Da kann ich also noch etwas Potenzial ausschöpfen.” Ein wichtiger Inhalt ihres Trainings in den nächsten Wochen ist damit schon vorgezeichnet: “Ich muss an meiner Fähigkeit arbeiten, mich maximal zu belasten”, sagt Nina. “Zuerst auf der Rolle und dann sicherlich auch draußen auf dem Rad.”
Den kleinen Wermutstropfen erkennt auch sie: “Im Rahmen von Gruppenfahrten wird es gar nicht so einfach sein, den Trainingsplan umzusetzen.” Der Vorfreude auf die TOUR-Transalp tut das freilich keinen Abbruch, das Team Diasporal-Alpenchallenge ist motiviert bis in die Haarspitzen. Zwar bekunden Nina und Oliver unisono, dass für sie Abenteuer und Erlebnis im Vordergrund stehen, aber das Klassement der Mixed-Teams werden sie trotzdem im Auge behalten. “Ich will da meine beste Leistung bringen”, bekräftigt Nina. Und Oliver nickt.