Return-to-SportTraining nach einer Verletzung

Anja Reiter

 · 23.09.2022

Return-to-Sport: Training nach einer VerletzungFoto: Skyshot/Greber

Stürze und Verletzungen lassen Saisonpläne scheitern und beenden manchmal sogar Karrieren. Wie können Radsportler gestärkt aus unfreiwilligen Trainingspausen nach der Reha hervorgehen?

An den dunkelsten Tag seiner Radsportkarriere erinnert sich Michael Schwarzmann noch sehr lebendig: Für sein damaliges Team Bora-Hansgrohe startet der Profi im April 2018 bei der Tour of the Alps. In einer schnellen Abfahrt, mitten in den österreichischen Bergen, unterschätzt er eine scharfe Kurve, fliegt über die Leitplanke, schießt den Abhang hinunter. “Ich hatte Glück, dass ich von einem Baum gebremst wurde”, erinnert sich Schwarzmann. Unter Schock klettert er die Böschung hinauf, setzt sich an den Straßenrand. Dort bleibt ihm die Luft weg, die Lunge kollabiert. Dann geht es schnell: Teamwagen, Helikopter, Krankenhaus.

Der Sturz hat nicht nur seine Lunge demoliert, sondern auch viele Knochen gebrochen: ein Schulterblatt, sieben Rippen, einen Wirbel. Zwei Wochen lang muss er im Krankenhaus bleiben, erst auf der Intensivstation, dann im normalen Krankenbett, am Ende geht es zur Reha nach Hamburg. Heute sitzt der 32-Jährige wieder im Sattel und fährt für das Team Lotto-Soudal. Den Weg zurück musste er sich jedoch mühsam erkämpfen.

Sportmediziner Jan-Niklas DrosteFoto: privat
Sportmediziner Jan-Niklas Droste

Egal ob ambitionierter Hobbyradler oder Profisportler - Stürze, Unfälle und Verletzungen ­zählen zu den unerwünschten Nebenwirkungen des Radsports. Sie wirbeln Trainingspläne durch­einander, beenden vorzeitig die Saison - und manchmal sogar Karrieren. Doch wie findet man einen produktiven Umgang mit einer verletzungsbedingten Trainingspause? Wie stärkt man Körper und Psyche in dieser Zeit - und was hilft bei der Reha?

Die häufigsten Verletzungen

Was in einer verletzungsbedingten Pause sinnvoll und erlaubt ist, hängt natürlich stark von der Art und Schwere der Verletzung ab”, sagt der Sportmediziner Jan-Niklas Droste, der bis 2020 als Leitender Teamarzt bei Bora-Hansgrohe auch Michael Schwarzmann betreute. Laut einer ­Studie des Klinikums Hamburg zählen Prellungen der Weichteile und Abschürfungen zu den häufigsten Verletzungen im Profiradsport, daneben Verstauchungen und Zerrungen. Schwerwiegender sind Frakturen, von denen bei Rennrad-Unfällen vor allem der Schultergürtel und die oberen Extremitäten betroffen sind, bis hin zu lebensgefährlichen Verletzungen des Kopfes.

Neben akuten Verletzungen machen Überlastungsfolgen einen großen Teil der Schäden im Radsport aus. Unter Amateuren soll ihr Anteil laut einer aktuellen Studie etwa vier Prozent betragen; im Profibereich dürfte die Quote weit höher sein. Überlastungsbeschwerden treten vorwiegend dort auf, wo sich Mensch und Maschine treffen - an Händen, Füßen und am Gesäß. Aber auch Knie, Schulter, Nacken, Lendenwirbelsäule und Becken sind häufig betroffen. Laut einer umfangreichen Studie norwegischer Wissenschaftler von 2010 schmerzt in 58 Prozent der Trainingsausfälle von Profis der untere Rücken, bei mehr als einem Drittel das vordere Knie.

Die Brüche sind längst verheilt - seit dieser Saison fährt Michael Schwarzmann (Mitte) für das Team Lotto-SoudalFoto: Getty Velo
Die Brüche sind längst verheilt - seit dieser Saison fährt Michael Schwarzmann (Mitte) für das Team Lotto-Soudal

Im Profisport regeln sogenannte Return-­to-Sport-Protokolle den Wiedereinstieg ins Training nach Verletzungen. Bei Gehirnerschütterungen empfiehlt der Radsport-Weltverband UCI eine vollständige Ruhezeit von 24 bis 48 Stunden und laut Protokoll “mindestens eine Woche lang keine Rückkehr zum Wettkampf, nachdem sich die Symptome gebessert haben” (ausführlicher Report in TOUR 5/2021).

In der Praxis wollen die meisten Sportler freilich möglichst bald wieder im Sattel sitzen - ihr Körper ist schließlich ihr Arbeitsmaterial, in das sie viel investiert haben. So auch Mi­chael Schwarzmann: Noch im Schockraum des Lienzer Krankenhauses fragte er seinen Teamarzt Jan-Niklas Droste: “Werde ich am Giro d’Italia teilnehmen können?” Droste entgegnete damals, dass Schwarzmann froh sein könne, überhaupt hier zu sein. “Im Rückblick muss ich sagen: Zum Glück ging es mir so gut, dass ich überhaupt wieder Rennrad fahren konnte”, gibt Schwarzmann heute zu.

Sport-Reha statt Radtraining

Droste rät betroffenen Sportlern und Sportlerinnen, sich in jedem Fall an den ärztlichen Rat zu halten und nicht frühzeitig mit dem Training zu beginnen - selbst bei vergleichsweise leichten Verletzungen. “Radfahren ist eine lineare Sportart, bei der man über lange Zeit das gleiche Bewegungsmuster wiederholt.” Aufgrund der vielen Wiederholungen sei das Risiko groß, sich falsche Bewegungsmuster durch eine schiefe Haltung auf dem Rad anzugewöhnen. Wer etwa wegen eines geprellten Beckens seine Gesäßmuskulatur nicht richtig nutzen könne, riskiere Folgeschäden wie einseitige Knieprobleme, wenn er trotzdem radle.

Eine weitere Gefahr sind Folgeunfälle: Wer mit angeknackstem Handgelenk auf dem Rennrad sitze, könne die Bremse nicht so schnell wie gewohnt ziehen. “Gerade als Amateursportler sollte man mit dem Trainingseinstieg lieber länger warten.

Die Trainingspause ohne Rennrad bedeutet jedoch nicht, dass man auf dem Sofa versauern muss. Reha-Übungen zur Kräftigung, Dehnung und Mobilisierung helfen Profis wie Amateuren dabei, zur alten Form zurückzufinden. Während man in der akuten Entzündungsphase körperliche Belastungen eher meiden sollte, könne man in die anschließende Reparationsphase durchaus wieder aktiver werden, so Sportmediziner Droste. Sinnvoll sei es zum Beispiel, in dieser Zeit an körper­lichen Defiziten zu arbeiten - vom schmerzenden Rücken bis zur schwachen Rumpfmuskulatur. Auch leichter Ausdauersport - vom Spazierengehen bis zum Ergometer - seien sinnvoll. “Wer die unerwartete Trainings­pause vernünftig nutzt, wird überrascht sein, wie gut man anschließend wieder auf das Rad kommt.

Nicht mit Profis vergleichen

Oliver Gallob, selbst Triathlet und mehr­­maliger Ironman-Finisher, arbeitet als Reha-Trainer an der Hubertus-Klinik in Bad Wiessee. Er warnt davor, sich als Hobbysportler allzu sehr mit den Profis zu vergleichen - das gelte auch für verletzungsbedingte Pausen. “Profisportler haben nach dem Training Zeit zur Regeneration und für Massagen, unsereins sitzt den ganzen Tag im Büro. Ruhephasen kommen da zu kurz.

Viele Profis würden den Verschleiß des Körpers in Kauf nehmen, schließlich sei Rennradfahren ihr Beruf. Amateure, die den Sport als Freizeitvergnügen betreiben, sollten lieber auf ihren Körper achten, um ihr geliebtes Hobby noch länger ausüben zu können.

Reha-Trainer in der Hubertus-Klinik in Bad Wiessee, Oliver GallobFoto: privat
Reha-Trainer in der Hubertus-Klinik in Bad Wiessee, Oliver Gallob

Bei vielen Hobbyrennradlern, die mitten im Beruf stehen, beobachtet Gallob eine gefähr­liche Tendenz: Statt bei Verletzungen oder Rückenschmerzen das Rennrad ein paar Tage stehen zu lassen, würden sie, vom Ehrgeiz getrieben, weiter Kilometer schrubben - neben vollen Arbeitstagen und dem Familienleben. Er rät dazu, in der verletzungsbedingten Pause lieber Ausschau nach Ausgleichssport zu halten. Insbesondere Schwimmen und Yoga seien empfehlenswert: “Viele Rennradfahrer haben verkürzte Hüftbeuger und einen verspannten Nacken. Streckbewegungen sind hier optimal.

Gegen die Angst

Um die unfreiwillige Radpause produktiv zu nutzen, sind aber auch mentale Stärke und Resilienz notwendig. Der Sportpsychologe Markus Gretz unterstützt Rennradsportler beim Umgang mit Krisen. Wer in der Trainingspause in ein Motiva­tionsloch falle, solle sich auf die positiven Seiten des Sports besinnen. Dabei können Visualisierungstechniken helfen. Neben der Arbeit mit Fotos und Vide­os ist auch eine mentale Reise in die Vergangenheit und Zukunft möglich. Welche Trainingsmomente aus der Vergangenheit rufen positive Emotionen hervor, auf welche zukünftigen Ereignisse freut man sich? Es kann auch sinnvoll sein, Trainingspartner und Kollegen einzubinden, um Stärke, Vertrauen und Motivation wiederzuentdecken.

Bei der Arbeit mit verunfallten Sportlern spiele auch das Thema Angst eine große Rolle, so Markus Gretz. “Viele Rennradfahrer machen den Fehler, die Unfallsituation immer wieder zu analysieren - und sich dabei zu viele Vorwürfe zu machen.” Wer zu sehr ins Grübeln gerate, riskiere eine Angstspirale. “Eine Verletzung ist auch immer ein kleines Trauma, das sich ins Gedächtnis einprägt.” Er rät Sportlern und Sportlerinnen, sich schon im Reha-Prozess mit dem Thema Angst zu beschäftigen, etwa durch das Formulieren von sogenannten Wenn-Dann-Sätzen. Worauf fokussiere ich mich, wenn die Fahrbahn wieder glatt oder die Kurve in der Abfahrt eng ist? Wer diese Fragen für sich beantwortet,­ ­habe Techniken an der Hand, um der eigenen Angst nicht ausgeliefert zu sein.

Sportpsychologe Markus GretzFoto: privat
Sportpsychologe Markus Gretz

Michael Schwarzmann tastete sich nach seinem Unfall vorsichtig zurück an sein früheres Fitnesslevel. “Meine Lunge hatte nur noch 30 Prozent der ursprünglichen Leistung”, erinnert sich der Radprofi an diese Zeit, “schon nach einem einstündigen Spaziergang kam ich an mein Limit.” Drei Wochen nach dem Unfall fuhr er zur Reha nach Hamburg. Jeden Tag verbrachte er zwei bis vier Stunden in den Trainingsräumen: Kreuz­heben zur Stärkung der gebrochenen Wirbel, leichte Gewichte, anschließend Massagen. “Für mich war das damals megaharte Arbeit.” Nach weiteren zwei Wochen konnte Schwarzmann zum ersten Mal wieder auf der Straße Rennrad fahren. “Von da an ging es immer nur nach oben.”

Sport-Reha: Tipps fürs Comeback

Zeit zum Genesen nehmen

In der akuten Entzündungsphase einer Verletzung, die meist ein paar Tage dauert, sollten Sie auf körperliche Belastungen verzichten.

Reha-Pause für Defizite nutzen

Ob Rückentraining oder Stärkung der Rumpfmuskulatur - in der anschließenden Regenerationsphase können Sie Ihre Schwachstellen trainieren, um gestärkt zurückzukommen.

Ausgleichssportart in Reha-Pause suchen

Schwimmen, Yoga, Rudern - je nach Art der Verletzung können Sie in der Reha-­Pause eine andere Sportart für sich entdecken.

Auf den ärztlichen Rat hören

Wer zu früh mit dem Rennradtraining beginnt, riskiert Folgeschäden durch eine schiefe Haltung oder erneute Unfälle durch Fahrfehler.

Langsam ins Training starten

Ver­suchen Sie beim Wiedereinstieg nicht, den Trainingsplan nachzuholen. Lieber sachte starten und die ­Intensität langsam steigern.

Angstspirale vermeiden

Setzen Sie sich schon in Ihrer Reha-Pause mit dem Thema Angst vor Unfallsitua­tionen auseinander. Machen Sie ein Fahrsicherheitstraining, schöpfen Sie Vertrauen in Ihr Können.