Abseits der PisteRadtraining der Ski-Asse

Jens Vögele

 · 07.10.2023

Im Sommer trainieren die DSV-Athleten ­konsequent auf dem Rennrad – auch bei schlechtem Wetter
Foto: Jens Vögele
Wenn Deutschlands beste alpine Skirennläufer auf dem Podest landen, liegt das an einer soliden Grundlage. Warum Training auf dem Rennrad für die Top-Performance im Schnee so wichtig ist, zeigt ein Blick hinter die Kulissen.

“Eigentlich bin ich ja ein Sommermensch”, gibt Christian Schwaiger offen zu. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, stünde es nicht in krassem Kontrast zu seinem Beruf. Seit 2019 ist er Cheftrainer der alpinen Herrenmannschaft des Deutschen Skiverbandes (DSV) – und hat eigentlich sein ganzes Berufsleben dem Skisport gewidmet. Trotz aller Leidenschaft für den Wintersport liebt er es aber, kurz-kurz auf dem Rennrad zu sitzen und in seiner Heimat rund um Saalfelden in beacht­lichem Tempo anspruchsvolle Runden zu drehen.

DSV-Cheftrainer Christian Schwaiger ist leidenschaftlicher Rennrad­fahrer und legt in seiner Trainingsphilosophie großen Wert auf kompromisslose FitnessFoto: Jens VögeleDSV-Cheftrainer Christian Schwaiger ist leidenschaftlicher Rennrad­fahrer und legt in seiner Trainingsphilosophie großen Wert auf kompromisslose Fitness

Ski Alpin: Affinität zum Rennradsport

Dass es im Trainerstab und im Kader des DSV eine spürbare Affinität zum Rennradsport gibt, mag deshalb – zumindest partiell – an ihrem Chef liegen. “Skifahren alleine reicht heute schon lange nicht mehr”, stellt Christian Schwaiger fest. Um als Skirennläufer in der Weltspitze zu fahren, seien viele Faktoren wichtig, die allesamt perfekt zusammenspielen müssten.

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Dass es mitunter schwer zu vermitteln ist, wozu ein Skirennfahrer eigentlich Ausdauer benötigt, ist dem Bundestrainer klar. “Viele glauben, dass es das für zwei Minuten im Renntempo nicht wirklich braucht”, sagt er. Im Skizirkus aber ist das Rennrad – neben den Skiern ­natürlich – längst eines der wichtigsten Trainingsgeräte. Und in Christian Schwaigers Trainings-Philo­sophie spielt es eine ganz besondere Rolle.

Die Devise bei den Skifahrern: Intervalle auf dem Ergometer und Grundlage wenn immer möglich im Freien auf dem RennradFoto: Jens VögeleDie Devise bei den Skifahrern: Intervalle auf dem Ergometer und Grundlage wenn immer möglich im Freien auf dem Rennrad

“Ich bin seit 30 Jahren Trainer und verfolge diese Philosophie schon immer konsequent”, sagt er und ist froh, dass er diesbezüglich mit seinem fünfköpfigen Trainerteam auf einer Wellenlänge funkt. Konkret bedeutet das: Ohne perfekten körperlichen Fitnesszustand seiner Athleten sei alles nichts, sagt Schwaiger, er sei der Grundstein für die detaillierte und professionelle Trainingssteuerung. Deswegen lautet seine Devise: “Für mangelnde Fitness gibt es keine Ausrede.”

Als sich die Athleten des DSV-Speed-Teams im Ski Alpin, das sich aus den Disziplinen Abfahrt und Super-G zusammensetzt, im Hochsommer zum Konditionslehrgang in der Berchtesgadener Jäger-Kaserne zusammenfindet, sind die Grundlagen für die neue Saison schon längst gelegt. Die acht Kader­athleten – unter ihnen die internationalen Hoch­karäter Thomas Dreßen, Romed Baumann, Josef Ferstl und Andreas Sander – sind kurz davor, ins Trainingslager nach Chile zu reisen, um dort schwerpunktmäßig im Schnee zu trainieren. Was sie sich seit dem Start in die Vorbereitung Anfang Mai erarbeitet haben, soll sich jetzt ­bezahlt machen.

Ski Alpin: Rennen sind Ausdauersport

“Skifahrer belasten die Ausdauermuskulatur und nicht die Schnellkraftmuskulatur”, erklärt der Bundestrainer – auch wenn das für den Laien anders aussehe. Und genau deshalb sei es wichtig, im Konditionsaufbau nicht nur Kraft, sondern auch Ausdauer zu trainieren. Nicht nur um die Rennen unter höchster Konzentration zu meistern, sondern um sich genau auf diese zwei Minuten perfekt vorbereiten zu können. “Wenn wir im Schnee trainieren”, erklärt Schwaiger, “machen wir bei unserer spezifischen Belastung im Grunde ein hochintensives Intervalltraining – und das oft in einer Höhe von über 3000 Metern.” Das heißt konkret: acht bis zehn Trainingsfahrten pro Tag von je rund 40 Sekunden Dauer mit einem extremen Laktatspiegel – und dazwischen 15 Minuten Erholung im Lift bis zum nächsten Lauf.

Um die heutigen Rennski zu beherrschen, braucht es perfekte Athletik und AusdauerFoto: Jens VögeleUm die heutigen Rennski zu beherrschen, braucht es perfekte Athletik und Ausdauer

“Um das zu überstehen, müssen wir uns die Grundlage erarbeiten”, erklärt Schwaiger. Am Anfang der Vorbereitung stehen deshalb langsame und lange Einheiten auf dem Programm. “Damit schaffen wir die Basis für alles, was wir uns bis zum Weltcup-Saisonstart – in diesem Jahr am 28. Oktober in Sölden – erarbeiten müssen”, erklärt Reinhard Ronacher, der als erfahrener Top-Experte im Ausdauersport die DSV-Athleten im Sommer mit ausgeklügelten Trainingsplänen und -analysen unterstützt. “Natürlich trainieren wir anders als Radrennfahrer”, erklärt Ronacher. Die ganz großen Umfänge absolvieren die Skifahrer nicht auf dem Rad: “Mehr als vier Stunden ­fahren wir nicht”, sagt er.

Ski Alpin: Knieverletzungen sind ein Problem

In der Theorie wäre es aus Ronachers Sicht sogar wünschenswert, Dauerläufe ins Konditionstraining miteinzubauen – allerdings führt die Arbeit mit Skirennfahrern in der Praxis dabei zu Einschränkungen. Erstens weil die meisten Athleten um die 100 Kilo auf die Waage bringen und zweitens weil so gut wie jeder Skifahrer, der Leistungssport betreibt, irgendwann mit einer schwerwiegenden Knieverletzung zu kämpfen hat.



Thomas Dreßen zum Beispiel, der 2018 sensationell das legendäre Hahnenkamm-Abfahrtsrennen in Kitzbühel gewonnen und sich im darauffolgenden Winter eine Kreuz- bandverletzung zugezogen hat, muss sich seine Ausdauer mittlerweile ausschließlich auf dem Rennrad aneignen. “Ich bin mit dem Rennrad auf­gewachsen”, erzählt er von der – neben dem Skisport – großen sportlichen Leidenschaft in seiner Familie. Wenn möglich will er wie die meisten im DSV-Kader an die frische Luft zum Radeln. Grundlagentraining in der Gruppe bedeutet dann für ihn, sich möglichst in der Ebene zu ­bewegen und zu schauen, dass die starken Radfahrer im Wind fahren. Natürlich hat jeder einzelne dabei seine ­genau definierten Leistungsbereiche, die möglichst exakt eingehalten werden sollen.

Präzise Ergometer-intervalle

Zum Intervalltraining wechseln die Athleten in aller Regel auf den Ergometer. “So können wir viel präziser trainieren”, erklärt Dreßen. Wie komplex sich das abspielen kann, zeigt der Blick hinter die Kulissen beim Lehrgang in Berchtesgaden. Wenn es nicht plötzlich wie aus Kübeln geregnet hätte, hätte sich die regenerative 90-minütige Ausfahrt nach dem Frühstück mit anschließendem Stretching-Programm wahrscheinlich fast wie Wellness angefühlt. Der Nachmittag allerdings gestaltet sich zur schweißtreibenden Angelegenheit.

Nach einem von Reinhard Ronacher geleiteten Aufwärmprogramm mit vielen Übungen, die Koordination und ­Reaktion schulen, wechseln die Athleten auf die Hantelbank, auf den Ergometer und auf die bidirektionale Beinpresse – mit großen Widerständen sowohl bei der Streckung als auch bei der Beugung des Beins. Jeder der Athleten hat dabei seine individuell abgestimmten Vorgaben. Das Trainerteam mit Andreas Evers, Tobias Lux und Tobias Mayrhofer dokumentiert dabei genau, wie sich Laktatwerte bei steigenden Intensitäten ändern – in einer Atmosphäre, die von höchster Konzentration geprägt ist. Jeder weiß genau, was er zu tun hat. Die DSV-Trainingsmaschinerie läuft so präzise wie ein Uhrwerk.

Ski Alpin: Material und Trainingsmethodik

Wichtig für das Trainerteam ist dabei immer, die richtige Balance zu finden. Einerseits sollen intensive Trainingsreize gesetzt, andererseits Überlastungen vermieden werden. “Weder beim Kraft- noch beim Ausdauertraining liegt der Fokus auf Maximalleistung”, erklärt Cheftrainer Christian Schwaiger. Es gelte, die Schnellkraft, die Schnellkraftausdauer und die Kraftausdauer zu verbessern und bei der Ausdauerbelastung die Schwellen zu verschieben. “Maximale Spitzen erhöhen das Risiko von Verletzungen dramatisch in einer Sportart, die ohnehin sehr verletzungsanfällig ist”, erklärt er. Zudem würden zu hohe ­Intensitäten über die gesamte Saison im Ski Alpin hinweg zu einer zu hohen Gesamtbelastung führen.

Sepp Ferst (links), Romed Baumann (rechts)Foto: Jens VögeleSepp Ferst (links), Romed Baumann (rechts)

Dennoch würden sich wahrscheinlich die meisten Hobbyradfahrer an Thomas Dreßen und Co. die Zähne aus­beißen. “Mit Radprofis können wir natürlich nicht mithalten”, sagt Schwaiger, fügt aber schmunzelnd hinzu: “Wir haben schon richtig gute Rennradfahrer im Kader, die fünf Watt pro Kilogramm Körpergewicht treten können – und bei 100 Kilo ist das schon eine Nummer.”

Sich auszutauschen, das Netzwerk zu pflegen und sich permanent fortzubilden – das ist für Christian Schwaiger wie für das gesamte Trainerteam im DSV eine Selbstverständlichkeit. Schwaiger steht etwa mit Ausdauersport-Koryphäe Dan Lorang in Kontakt, der die Radprofis vom Team Bora-Hansgrohe oder Triathlon-Star Jan Frodeno zu absoluten Weltklasseathleten formt. Im DSV gibt es somit ein waches Bewusstsein dafür, dass sich nicht nur das Mate­rial, sondern auch die Trainingsmethodik immer weiterentwickeln muss. “Das Set-up eines Skis von heute ist ohne Top-Athletik gar nicht fahrbar”, sagt Schwaiger. “Ohne das richtige Material kannst du natürlich keine Rennen gewinnen, aber ohne Athleten, die es in jeder Hundertstelsekunde beherrschen, auch nicht.”

Alle Details im Blick

Wenn die acht Athleten zum Trainingslager nach Chile aufbrechen, dann müssen sie rund viereinhalb Tonnen Material mitnehmen – für jeden Rennfahrer rund 60 Paar Ski. Und damit diese Materialschlacht nicht umsonst geschlagen wird, wollen sie sich sicher sein, in der Vorbereitung auf jedes mögliche Detail geachtet zu haben. Je näher die Weltcupsaison rückt, desto mehr gerät das Rennrad dann naturgemäß und wetterbedingt in den Hintergrund.

Wer aufs Podest will, darf nicht nur die Beine trainieren; maximale Belastungsspitzen werden aber vermiedenFoto: Jens VögeleWer aufs Podest will, darf nicht nur die Beine trainieren; maximale Belastungsspitzen werden aber vermieden

Der Ergometer dient dann in erster Linie zur Regenera­tion, Trainingsreize werden in der Rennsaison wesentlich dosierter als in der Vorbereitung eingesetzt. Aber wenn die Jungs mal wieder auf dem Treppchen stehen oder bei ­Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen Edelmetall holen – dann können sich alle Radsport-Fans sicher sein: Ohne die Vorbereitung auf dem Rennrad sind solche Erfolge nicht möglich.

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