Robert Kühnen
· 16.09.2021
Schön schlank oder kraftvoll muskulös? Die Beine eines Rennradfahrers verraten viel über seine Fähigkeiten – aber längst nicht alles. Was es über Radfahrerbeine noch zu wissen gibt, steht hier.
Mögen Sie Ihre Beine? Ja? Das ist gut. In einem Sport, der so sehr auf der Leistungsfähigkeit der Beine beruht, sollte man ein gutes Verhältnis zu ihnen haben. Ganz gleich, ob Sie sich Ihre Beine dicker oder dünner, kürzer oder länger wünschen – Sie sollten sie so mögen, wie sie sind und stolz darauf sein, dass Sie durch den Rennradsport Ihre Beine zu dem geformt haben, was sie sind. Was für eine Fleißarbeit! Abertausende von Radkilometern stecken in Ihren Muskeln, und meistens sieht man den Beinen von Rennradfahrern diese Fleißarbeit auch an.
Kein Leistungssportler tritt auf dem Rennrad mit haarigen Beinen an. Wer rasiert, bringt seine Muskeln besser zur Geltung. Erst wenn die Beine gerodet sind, modelliert das Licht die feinen Nuancen in der Muskulatur, lenkt den Blick auf die lebende Plastik. Zu narzisstisch, finden Sie? Geschmackssache. Das nackte Bein ist für viele vor allem ein Statement: Ich gehöre zur „Speed-Kaste“. Rasieren ist eine rituelle Handlung, ein Abgrenzen gegenüber Nicht-Radsportlern und all jenen, die den Sport weniger ernst nehmen. Nebenbei lassen sich haarlose Beine natürlich auch besser massieren und sind im Falle einer Verletzung leichter zu pflegen – alles richtige und oft vorgetragene Argumente.
„Rad fahren macht dicke Beine.“ Dieses Vorurteil hört man oft. Das Gegenteil ist der Fall: Je höher die Rennklasse, desto dünner die Beine, zumindest im Straßenradsport. Rennradprofis trainieren und hungern sich jeden unnötigen Ballast ab, um die Muskulatur für den Ausdauersport Radfahren zu optimieren. Die Beine werden dünn, weil ausdauernde Muskeln eher schlanke Muskeln sind, die besonders gut mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt werden können
Was geschieht durch Training mit der Muskulatur? Stark vereinfacht betrachtet, bestehen Muskeln aus zwei verschiedenen Fasertypen: den ausdauernden roten (Typ I) Fasern und den schnellkräftigen weißen (Typ II). Die weißen Fasern sind dicker, kräftiger und zucken schneller – gut für den Sprint. Die roten sind ausdauernder und speichern mehr Energie – gut für lange Strecken. Außerdem gibt es noch eine Art Mischfasern, die kräftiger sind als die roten und ausdauernder als die weißen. Ob Ihre Muskulatur über mehr rote oder weiße Fasern verfügt, ist im Wesentlichen genetisch bedingt. Umfangreiches Ausdauertraining fördert den Aufbau und die Leistungsfähigkeit der roten, ausdauernden Typ-I-Fasern. Es gibt zwar Anzeichen, dass durch spezifisches Training Muskelfasern des einen Typs vollständig in den anderen Typ umgewandelt werden können, aber unter Wissenschaftlern herrscht darüber keine Einigkeit. Fest steht jedoch, dass sich der Anteil roter Muskelfasern durch Training deutlich besser steigern lässt als jener der weißen, schnellkräftigen Fasern.
Straßenfahrerbeine haben also in der Regel einen hohen Anteil an roten Fasern. Im Unterschied zum Büromenschen verfügt der Sportlermuskel aber auch über ein viel dichteres „Rohrleitungsnetz“, das die Blutversorgung bis hinein in die fein verästelten Kapillaren übernimmt und die Versorgung der Muskelkraftwerke mit Sauerstoff sicherstellt. Die Anzahl der Mitochondrien, der Zellkraftwerke in den Muskelfasern, ist in Radfahrerbeinen und deren Muskeln besonders hoch. Die Fähigkeit, „Treibstoff“ in Form von Glykogen und Fett in den Muskeln einzulagern, ist bei hoch trainierten roten Fasern deutlich ausgeprägter als bei untrainierten. In der Summe führt all dies dazu, dass die Ausdauerleistungsfähigkeit eines trainierten Radlerbeins bei ähnlichen Abmessungen wie ein „Bürobein“ bis zu viermal so hoch sein kann.
Die Dicke des Beines sagt aber noch nichts über die Maximalkraft des Radfahrers – sie gibt nur einen ersten Anhaltspunkt. Wie viel Kraft die Beine letztlich entfalten, hängt auch davon ab, wie viele Fasern für eine gewünschte Bewegung mobilisiert werden können. Ein Bodybuilder mit dicken Beinen hätte gegen einen viel schlankeren Radfahrer wohl keine Chance auf dem Rad, auch nicht in einem Sprint. Hohe Maximalkraft geht jedoch auf jeden Fall mit einem größeren Beinumfang einher, was man an Bahn-Sprintern, den explosivsten Radsportlern auf zwei Rädern, gut beobachten kann. Straßensprinter hingegen, die lange Strecken und Berge bewältigen müssen, bevor sie sich im Sprint messen können, haben im Vergleich dazu viel schlankere Beine. Sie müssen wie alle Straßenfahrer einen Kompromiss finden aus Ausdauer und Kraft. Die individuelle Abmischung dieser konkurrierenden Eigenschaften macht einen Radrennfahrer zu dem, was er kann und ist – jedenfalls aus muskulärer Sicht.
Nur wenn man den Fahrer kennt und weiß, zwischen welchen Polen sich der Sportler im Zyklus seiner Form bewegt. Mit zunehmender (Ausdauer-)Form werden die Beine allgemein schlanker und fettärmer. Jan Ullrich beispielsweise hat zum Ende der Tour de France regelmäßig die eindrucksvollsten Beine. Dann zeichnen sich seine gewaltigen Oberschenkelmuskeln messerscharf ab unter papierdünner Haut. Alles Überflüssige ist weggeschmolzen während der dreiwöchigen Hatz durch Frankreich. Aber auch von dieser Regel gibt es Ausnahmen. Stephen Roche, der große Ire, der 1987 innerhalb einer Saison Giro d’Italia, Tour de France und Weltmeisterschaft gewann, stürmte mit gänzlich unspektakulären, dünnen und kaum definierten „Baby-Beinen“ zu seinen Erfolgen. Und wenn man einen der kleinen, leichten spanischen Kletterspezialisten sieht, ist man versucht zu rufen: „Zum Jugendrennen nach rechts!“ – so dünn sind die Beine der Spezialisten. Vom Bein auf die Form zu schließen, ist demnach sehr, sehr schwierig. Und bestimmt kennt jeder Radfahrer ein Beispiel für ein Beinpaar, bei dem er sich schon grandios verschätzte.