Als Thibaut Pinot am Ende der achten Etappe der Tour de France 2020 abgeschlagen das Ziel in Loudenvielle erreicht, trauert eine ganze Nation. 19 Minuten hinter Etappensieger Primož Roglič, die Hoffnungen auf den ersten französischen Toursieg seit 35 Jahren bleiben, wie so oft in der Vergangenheit, unerfüllt. Der Grund für die Unfähigkeit des Franzosen, mit den Besten mitzuhalten: “Mein Rücken tat so weh, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte”, gab ein sichtlich frustrierter Pinot zu Protokoll, “ich konnte nicht mehr in die Pedale treten.” Besonders bitter: Ein Jahr zuvor hatte ihn eine angeschlagene Oberschenkelmuskulatur zur vorzeitigen Aufgabe gezwungen.
Angesichts immer weiter verfeinerter Trainingsmethoden, optimierter Ernährungsstrategien und scheinbar grenzenlosem Materialtuning: Bleibt da möglicherweise ein wesentlicher Bereich unberücksichtigt – eben die Körperstatik des Radsportlers? “Das Zusammenspiel von Muskeln, Sehnen, Faszien und dem Skelett mit seinen Gelenken ist maßgebend für unsere Körperstatik”, sagt Dr. Oliver Ludwig von der Technischen Universität in Kaiserslautern. Der Diplom-Biologe ist Experte für Sportbiomechanik mit den Schwerpunkten der Haltungs- und Bewegungsanalyse.
“Die Körperstatik, umgangssprachlich die Körperhaltung, passt sich immer wieder den Anforderungen des Alltags, des Sporttreibens und den durch Verletzungen provozierten Abweichungen im Körper an.” Radsportler seien hier besonders anfällig für Defizite und daraus resultierende Probleme, unabhängig davon, ob ein angeborener Rechts-Links-Unterschied oder muskuläre Ungleichgewichte vorliegen. “Der Radsport ist eine der wenigen Sportarten, bei denen sich ein sehr flexibles System, der Mensch, an ein sehr starres System, das Rad, ankoppelt. Durch diese mechanische Koppelung können zum einen muskuläre Dysbalancen entstehen, zum anderen wirken sich anatomische Asymmetrien, zum Beispiel ein zu kurzes Bein, stark auf die Bewegung des Beckens und damit der Lendenwirbelsäule aus”, erklärt Dr. Ludwig.
Die Füße als das Fundament des Menschen haben entscheidenden Einfluss auf die Körperstatik. Auf diesen wenige Quadratzentimeter großen Flächen lastet das komplette Körpergewicht, Tausende Schritte werden täglich zurückgelegt. “Der Fuß ist beim Radfahren das Bindeglied zwischen Sportler und Material, durch ihn wird die Kraft auf das Rad übertragen”, weist Bikefitting-Experte Jens Machacek auf die Bedeutung der Füße hin, die seiner Meinung nach zu wenig beachtet wird. Machacek vereint die Kompetenzen aus Fahrradbiometrie und orthopädischer Schuhtechnik. Er hat in der Vergangenheit zusammen mit der Forschungs- und Entwicklungsstätte für Sportgeräte (FES) in Berlin schon Radschuhe für die Bahn-Olympiasieger Maximilian Levy und Kristina Vogel entwickelt.
Der gelernte Orthopädietechniker gibt sein Fachwissen aber seit vielen Jahren nicht nur an Radsportler weiter, auch das deutsche Tennis-Davis-Cup-Team sowie Athleten aus der Nordischen Kombination und dem Fußball vertrauen auf seine Expertise. “Probleme in den Gelenkebenen Knie, Becken und Rücken resultieren meiner Erfahrung nach sehr oft aus einer mangelnden oder falschen Torsion des Fußes. Diese Verdrehung ist aber entscheidend für den Leistungs-Output auf dem Rad”, meint er. Aus dieser Erkenntnis heraus hat Machacek eine spezielle orthopädische Einlegesohle für Radschuhe entwickelt. “Damit lässt sich nicht nur die Druckverteilung im Schuh optimieren, auch die Unterschenkelrotation und die Kniestabilität profitieren von der individuellen Fußbettung”, beschreibt er das Wirkungsprinzip der Einlagen.
Zudem lasse sich der Leistungsgewinn, gemessen in Watt, mit diesem Hilfsmittel erhöhen. “Fehlhaltungen und Ausweichbewegungen bedeuten automatisch immer Kraftverlust, einhergehend mit Einbußen in der Wattabgabe”, so Machacek. Fußdruckmessungen bei Bahnsprintern hätten unter Einsatz der Innensohle einen Leistungszuwachs von etwa 160 Watt ergeben. Bei einer deutschen Top-Fahrerin aus dem MTB-Weltcup betrug der Mehrwert 17 bis 18 Watt.
Radprofi Pascal Ackermann nutzt orthopädische Schuheinlagen schon seit Jahren. “Wir sind fünf bis sechs Stunden am Tag in unseren Radschuhen, da können wir uns Fußbrennen oder Taubheitsgefühle einfach nicht erlauben. Wir Fahrer sprechen natürlich über solche Dinge miteinander und geben Tipps. Obwohl ich keine grundsätzlichen Probleme mit den Füßen habe, fing ich an, individuelle Sohlen zu nutzen – schon wegen der optimalen Kraftübertragung und ein paar Watt mehr”, beschreibt der Sprinter seine Motivation.
Da der Körper eine Kette von Gelenken beschreibt, beeinflusst die Fußstellung zwangsläufig auch die Haltung der Knie. Und wird ein Gelenk in seiner Stellung verändert, hat das Auswirkungen auf andere Gelenke. “Früher hat man Radsportler dazu angehalten, die Knie möglichst aerodynamisch nahe ans Oberrohr zu schieben. Heutzutage ist die Wissenschaft weiter und hat erkannt, dass es biomechanisch günstiger ist, Knie und Fußspitze beim Treten in einer Linie verlaufen zu lassen”, sagt Machacek. Kommt es im Alltag oder beim Radfahren immer wieder zu Knieschmerzen, empfiehlt Dr. Ludwig zunächst zur Abklärung der Beschwerden eine ärztliche Diagnose.
Gravierende Knieerkrankungen können dabei erkannt beziehungsweise auch ausgeschlossen werden. Sollten Physiotherapie und gezielte Übungen keine dauerhafte Linderung herbeiführen, rät er zu einer Haltungs- und Bewegungsanalyse. Diese könne Gewissheit geben, ob eine Fehlstellung, zum Beispiel O- oder X-Beine, oder eine Beinlängendifferenz vorliegt. “Diese Abweichungen der natürlichen Beinachse können durch gezieltes Kraft- und Mobilitätstraining kompensiert werden”, empfiehlt der Analytiker.
“Die kostengünstigste Analyse ist übrigens das eigene Auge”, meint Ludwig. “Der Sportler kann lernen, durch Selbstbeobachtung Fehlstellungen und Asymmetrien zu erkennen. Auf dem Rad haben wir genügend Zeit, ein regelmäßiger Blick auf unsere Knie kann schon verraten, ob diese beim Treten verstärkt nach außen oder innen abweichen. Das kann man sofort selbst korrigieren.” Auch Umbauten am Fahrrad können helfen, die Beinachse beim Treten ins rechte Lot zu bringen und damit die Knie zu entlasten. Ergonomie-Spezialist SQlab beispielsweise bietet zur individuellen Anpassung Pedale mit unterschiedlichen Achslängen an. Mit vier verschiedenen Maßen von -5 bis +15 Millimeter können Beinachsenabweichungen und auffällige Fußrotationen abgedeckt werden.
Hinsichtlich einer Gesetzmäßigkeit sind sich die Experten einig: Im Zentrum des Körpers, im Beckenbereich, lässt sich ein Großteil der Ursachen für Schmerzen beim Pedalieren ausfindig machen. Ein Beckenschiefstand, ein zu kurzes Bein aufgrund einer Beinlängendifferenz; diese Auffälligkeiten wirken sich stark auf die Bewegung des Beckens und damit auch auf die Lendenwirbelsäule aus. “Eine ungünstige Sattelpositionierung bei Beinlängendifferenz führt immer wieder zu Schmerzen im Lendenwirbelbereich aufgrund einer starken einseitigen Kippbewegung des Beckens”, erklärt Dr. Ludwig.
Machacek hat beobachtet, dass zunehmend öfter Muskelverkürzungen auftreten und interpretiert das als Folgeerscheinung der Corona-Jahre: “Von mir betreute Sportler haben aktuell mehr Verkürzungen in der hinteren Oberschenkel-, Gesäß- und unteren Rückenmuskulatur. Vermutlich durch vermehrtes Sitzen während Covid. Das schränkt die Beweglichkeit des Beckens erheblich ein.” In Zahlen ausgedrückt: Vor Corona hatten drei von zwanzig Athleten Defizite, heute sind es sieben von zehn. Für diese Muskelpartien empfiehlt er regelmäßiges Dehnen, denn ohne eine vernünftige Beckenkippung müsse es zwangsläufig zu Problemen auf dem Sattel und im Schulter-Nacken-Bereich kommen.
Viele Radsportler, insbesondere wenn sie mit dem Rennradfahren beginnen, klagen über Schmerzen in Schultern und Nacken. “Das ist erst einmal nicht ungewöhnlich”, konstatiert Machacek. “Die Position auf einem Rennrad ist eine ganz andere als auf einem City- oder Trekkingrad. Wir müssen durch die Krümmung des Rennlenkers deutlich weiter nach vorne greifen, sitzen dadurch gestreckter auf dem Rad. Hinzu kommt, dass der Sattel höher als der Lenker steht, um eine aerodynamische Position einnehmen zu können. An diese sogenannte Überhöhung müssen sich unsere Statik und vor allem die Wirbelsäule erst gewöhnen.”
Ein seitlicher Blick auf die Wirbelsäule des Menschen lässt sofort erkennen, dass diese in ihrem Verlauf einem doppelten S gleicht. Diese S-Form kann von Geburt an oder durch einseitiges Verhalten von der Norm abweichen. Schmerzen in der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sind dann nicht selten. Da die Wirbelsäule an ihren jeweiligen Enden mit Kopf und Becken verbunden ist, kann es auch in diesen Körperebenen zu Problemen kommen. Schon anhand eines Tastbefundes kann sich eine Fehlstellung erkennen lassen, Röntgen oder eine lichtoptische Vermessung der Wirbelsäule liefern genauere Ergebnisse.
“Wir können schnell und berührungslos die menschliche Wirbelsäule hochauflösend optisch vermessen”, erklärt etwa Carsten Diers, Geschäftsführer des gleichnamigen Instituts für ganzheitliche Haltungs- und Bewegungsanalysen. “Über einen Licht-Projektor wird ein Linienraster auf den Rücken geworfen, das mittels Software analysiert wird. Daraus kann dann in Echtzeit ein dreidimensionales Abbild der Wirbelsäule samt Muskelrelief konstruiert werden”, beschreibt er die strahlungsfreie Messmethode.
“Daten zum Verlauf der Wirbelsäule sind äußerst hilfreich, wenn der Sportler das Gefühl einer falschen Sitzposition auf seinem Rad hat”, weiß Jens Machacek. “Damit können wir dann direkt beim Bikefitting in einer Korrektur der Sitzposition individuell reagieren. Oft reicht etwa ein kürzerer Vorbau, um die Sitzposition aufrechter und damit komfortabler zu gestalten.” Immer wiederkehrende Rückenschmerzen im Alltag sollte man nach Möglichkeit aber schon beim Kauf eines neuen Rennrads nicht einfach ausblenden.
Der Stack-to-Reach-Wert eines Rahmens – also das Verhältnis von Länge zu Höhe – entscheidet darüber, wie gestreckt die Sitzposition ausfällt. Das ist ein wichtiger Grund dafür, warum TOUR die Werte für Stack und Reach seit vielen Jahren in allen Tests für jedes Rad ermittelt und in den Testergebnissen aufführt. Ein weiterer Grund ist, dass diese beiden Werte die Geometrie eines Rahmens deutlich exakter und praxisgerechter beschreiben als die klassische Rahmenhöhe.
Ein Stack-to-Reach-Quotient von über 1,55 entspricht einer komfortablen und den Rücken entlastenden Sitzposition. “Aufgrund der typischen wenig flexiblen Sitzhaltung auf dem Rad haben viele Radsportler einen Rundrücken”, beschreibt Dr. Ludwig eine häufige Erkenntnis seiner Analysen. Dieser könne sich dann auch negativ im Alltag auswirken. “Ein gezieltes Training ist dann unumgänglich. Der Sportler muss aus der gekrümmten Haltung raus, ein Training zur Aufrichtung der Brustwirbelsäule mit Kräftigung der Muskulatur zwischen den Schulterblättern sollte regelmäßig durchgeführt werden.
Auch das sogenannte Core-Training, die Stabilisation der Körpermitte, wird von Radfahrern oft vernachlässigt. Die Bauch- und Rückenmuskulatur muss aber auf dem Rad einen Großteil der Haltearbeit übernehmen.” Auftretende Probleme oder Schmerzen im Zusammenhang mit der Körperstatik müssen immer individuell betrachtet werden, zu unterschiedlich können die Ursachen für Beschwerden sein. Ein allgemeingültiges Rezept gibt es hier nicht. Aber durch ein Erkennen, Analysieren und Handeln lassen sich immer passende Lösungsansätze finden. Sei es eine Körperanalyse, ein Hilfsmittel, ein Bikefitting oder individuelle Dehn- und Kräftigungsübungen.