Andreas Kublik
· 25.10.2025
TOUR: Clara, wie wichtig ist Ihnen Erfolg?
CLARA KOPPENBURG: Er ist mir schon wichtig. Natürlich bringt er einen weiter im Leben, man hat durch ihn ein gewisses Ansehen im Umfeld. Aber weil man erfolgreich ist, heißt das nicht automatisch, dass man viel glücklicher ist. Ich habe gemerkt, dass Erfolg nicht alles ist.
Was ist Ihr Antrieb im Radsport?
Mein Antrieb ist die Leidenschaft für das Radfahren. Dieses Gefühl von Freiheit beim stundenlangen Trainieren durch wunderschöne Landschaften. Gleichzeitig treibt mich der Wettkampf an: meinen Körper und Kopf zu challengen und meine Grenzen auszutesten. Ich möchte Rennen gestalten und alleine oder im Team gewinnen.
Und was bedeutet es für Sie, wenn Sie keinen Erfolg haben?
Die letzten zwei Jahre hatte ich gar keinen Erfolg und musste damit umgehen. Ich habe andere Sachen gefunden, die mich glücklich machen. Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der sehr perfektionistisch ist und immer das Optimum herausholen möchte. Es war schon früher in der Schule oder während des Studiums so, dass ich immer die Beste sein wollte. Mittlerweile ist mir wichtiger, dass ich glücklich bin und auch genießen kann.
Sie haben im vergangenen August auf Instagram gepostet: Sie seien in der Vergangenheit zwar die Berge mit dem Fahrrad geradezu hochgeflogen, aber sie räumten ein: „Ich war nicht gesund, ich war nicht glücklich, ich war nicht ich selbst.“ Es klang, als wollten Sie die Öffentlichkeit einen Blick in Ihre Seele erlauben. Was wollten Sie der Öffentlichkeit genau mitteilen?
Es war zwar cool, dass ich Rennen gewonnen hatte. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass sich andere zwar für mich gefreut, aber immer auch gedacht haben: Die ist nur so gut, weil sie so dünn ist und nicht, weil sie eine starke Radfahrerin ist; ist es wirklich gut, wenn jemand auf diese Weise ein Rennen gewinnt? Diese Gedanken hatte ich im Kopf.
Sie schafften bei der WM 2018 als beste Deutsche Ihren Durchbruch als Radprofi, feierten im folgenden Frühjahr einen deutlichen Sieg bei der Setmana Valenciana – als Sie bei der Bergankunft des Etappenrennens den Konkurrentinnen davonflogen. Wie groß waren die Zweifel damals wirklich?
Zum damaligen Zeitpunkt dachte ich, ich mache auf jeden Fall das Richtige. Aber ich habe bald gemerkt: Mein familiäres und soziales Umfeld leidet sehr darunter, dass ich so einspurig fahre. Rückblickend kann man sagen, dass ich damals sowohl ein bisschen mich selbst als auch mein Leben neben dem Radsport verloren hatte. Und vor allem wegen meines zunehmenden Untergewichts haben sich viele Menschen in meinem Umfeld große Sorgen gemacht.
Sie wogen bei 1,70 Meter Körpergröße noch 46 bis 47 Kilogramm. Das gilt laut gängiger Werte als kritisches Untergewicht, bei dem man einen Arzt aufsuchen sollte. Wie kam es dazu, dass Sie von Ihrem vorherigen Wettkampfgewicht von rund 53 Kilogramm derart abmagerten?
Es war nicht wie bei einer klassischen Essstörung, bei der man sich erbricht oder wirklich gar nichts isst. Für einen normalen Menschen habe ich wahrscheinlich gut gegessen – aber eben nicht genug für mein Trainingspensum. Ich habe damals exzessiv Sport getrieben. Ich habe alles mitgenommen, bei dem ich mich zusätzlich bewegen konnte. Wenn ich einen Massagetermin in zehn Kilometern Entfernung hatte, bin ich mit dem Rad hingefahren. Ich habe mir gesagt: Da kriegst du 20 Kilometer extra – klasse! Und vor allem beim Sport, während des Trainings, habe ich viel zu wenig gegessen.
Das war Absicht?
Für mich war leider das Training eine kleine Flucht, auf der ich mich selbst betrogen habe. Da konnte ich extrem viele Kalorien verbrennen, ohne dass jemand sieht, dass ich nichts esse. Ich wusste dann, ich habe aus dem Training ein Defizit, das ich daheim managen kann.
Managen heißt was genau?
Ich konnte meinen Eltern zuhause zeigen, dass ich normal esse. Ich wohne in der gleichen Straße wie meine Eltern.
Haben Sie im Laufe der Zeit eine Diagnose bekommen?
Mir wurde keine richtige Diagnose gestellt. Im Laufe der Jahre habe ich mir meine eigene zusammengebastelt. Wenn man die Bilder von damals anschaut, liegt es auf der Hand. Ich kann nicht sagen, ich sei super gesund gewesen. Ich würde von einem klassischen REDs sprechen.
REDs ist eine im Leistungssport bekannte Krankheit: Athleten essen zu wenig für ihren Bedarf und nehmen ab – das kann weitreichende Gesundheitsschäden verursachen …
Viele sagen, dass REDs nicht automatisch eine Essstörung ist. Aber wenn man sich perfekt ernähren würde, hätte man dieses REDs nicht. Heutzutage wird uns in den Teams ganz klar gezeigt, wieviel wir essen müssen. Und wenn man es nicht tut, gerät man in ein Energiedefizit.
Junge Sportlerinnen und Sportler mit extrem dünnen Körpern sieht man immer wieder – gerade in Sportarten, in denen das Gewicht stark die Leistung und Ergebnisse beeinflusst. Dazu gehören Langstreckenlauf, Skispringen, Sportklettern und im Radsport Wettbewerbe mit langen Anstiegen. In der Wissenschaft hat man diese sichtbare Entwicklung mit dem Fachausdruck REDs (frühere Schreibweise: RED-S) belegt. Es ist die Abkürzung für einen englischen Begriff: Relative energy deficiency in sport. Übersetzt: Relatives Energiedefizit im Sport.
Es gilt als komplexes Syndrom. Sehr einfach ausgedrückt: Sportler nehmen im Verhältnis zu ihrem Energieverbrauch, vor allem durch intensives Training, zu wenig Energie wieder auf. Schlicht: Sie essen zu wenig angesichts ihres deutlich erhöhten Bedarfs. Dadurch magert der Körper ab. Das kann zu schweren Gesundheitsgefährdungen durch Nährstoffmangel führen wie Osteoporose (zu geringe Knochendichte) und Störung des Hormonhaushalts. Das kann bei Frauen das Ausbleiben der Periode und bei Männern Erektionsstörungen verursachen. Weitere Folgeerscheinungen können Depressionen und Schlafstörungen sein, sowie erhöhte Stress- und Infektanfälligkeit.
Wann ist Ihnen klar geworden: Sie sind auf einem Weg, der Sie krank und kaputt macht?
Es war ein schleichender Prozess. Aber mir war von Anfang an klar, dass es nicht gut für mich ist. Aber das Einzige, das mir wichtig war: gut im Sport zu sein. Alles andere habe ich komplett ausgeblendet. Mir war es total egal, dass ich meine Periode verloren hatte. Ich dachte, jetzt bin ich eine noch bessere Athletin.
Ich habe gemerkt: Familie und soziales Umfeld leiden sehr darunter, dass ich so einspurig fahre. Ich hatte mein Leben neben dem Radsport verloren. Und mit meinem Gewicht vielen Menschen Sorgen gemacht. – Clara Koppenburg
Wie kamen Sie darauf, dass eine Frau ohne Periode eine besonders gute Athletin ist?
Das hatte sich unter den Radfahrerinnen so herumgesprochen: Die richtig Guten haben keine Periode, weil ihr Körperfettgehalt so niedrig ist. Man hört, das sei ein richtig gutes Zeichen, dass man voll im Training ist. Ich habe das aufgeschnappt, in meinem Kopf passend gemacht und mich dann daran festgeklammert. Mir war völlig bewusst, dass ich total untergewichtig bin, dass es gesundheitsgefährdend ist und dass es nicht schön aussieht. Aber an diesem Untergewicht wollte ich auch nicht wirklich etwas ändern. Das ist die Krux bei der ganzen Sache: Wenn man mit so einer Schiene so erfolgreich fährt, warum soll man dann daran etwas ändern?
Wie ist Ihre Familie damit umgegangen? Ihr Vater ist Sportarzt, er hat lange Profi-Teams im Radsport wie RadioShack und Tudor betreut.
Mir ist die Tragweite des Problems relativ schnell klar geworden, weil meine Eltern sofort interveniert haben. Eigentlich hatte mir mein Papa verboten, das Rennen in Valencia zu fahren. Er hat gesagt: Du bist zu dünn, du darfst jetzt keine Rennen fahren. Das ist gefährlich!
Ihre Reaktion?
Ich habe ihn angebettelt: „Ich habe so hart dafür trainiert. Ich bin den entscheidenden Berg (Xorret de Cati; Anm. d. Red.) bereits im Trainingslager abgefahren. Das ist mein Rennen!“ Er hat es mir dann doch erlaubt. Und nach dem Rennen habe ich mich durch den Sieg bestätigt gefühlt.
Und wie hat man es in Ihren Teams gesehen?
Als ich im Mai 2019 von der Kalifornien-Rundfahrt zurückkam, ich wurde dort Vierte, haben mir der Teammanager Claude Sun und der Sportliche Leiter Dirk Baldinger von meinem damaligen Team WNT-Rotor mitgeteilt, dass ich wegen meines Gewichts erstmal keine weiteren Rennen fahren darf, weil ich nicht gesund sei und sie Angst hätten, dass ich bei einem Start ein Risiko eingehen würde ...
Eigentlich ein vernünftiger Schritt Ihres Arbeitgebers …
Ich konnte das zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht nachvollziehen. Ich war richtig sauer. Mein Denken war: Wie können die mich jetzt stoppen? Ich fahre gerade so gut Rad, es macht so viel Spaß, ich bin gerade auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Im Nachhinein bin ich meinem damaligen Team total dankbar. Sie haben diesbezüglich alles richtig gemacht.
Sie haben dann Gewicht zugelegt, um wieder Rennen fahren zu dürfen. Aber Ihr Gewicht war über viele Jahre kritisch. Es bedeutet einen massiven Energie- und Nährstoffmangel. Wie kann man unter diesen Umständen derartige Ausdauerleistungen bringen?
Mein Körper konnte mit ganz, ganz wenig Energie gut auskommen. Mein Magen war dann auch viel kleiner. Kleinste Mengen haben schon ausgereicht, dass mein Körper wieder so einen Funken Energie hatte. So habe ich mich über den Tag gerettet. Heute könnte ich mir nicht mehr vorstellen, beim Radfahren nicht zu essen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das vor ein paar Jahren gemacht habe, wie ich mit so wenig Energie so lange so hart fahren konnte. Ich glaube wirklich, dass das einfach eine innere Überlistung war, dass mein Kopf einfach viel stärker war als alle Signale vom Körper.
Wie haben Sie das im Rennen geregelt?
Im Rennen ging es um Erfolg, meine sportliche Leistung, da wollte ich wirklich gut sein. Ich wusste, dass mein Körper mehr Energie braucht. Auch im Rennen habe ich im Vergleich zu anderen viel, viel, viel zu wenig gegessen. Aber ich habe deutlich mehr gegessen als im Training.
Sie kämpften jahrelang mit Ihrem Gewicht, Ihrer Gesundheit, mit sich selbst. Wie lief das genau?
Immer wenn ich so ein bisschen auf dem aufsteigenden Ast war, bin ich wieder in so ein extremes Loch gefallen. Ich habe extrem sensibel auf Stress reagiert. Sobald ich gestresst oder traurig war, habe ich ungewollt wieder extrem an Gewicht verloren – zwei bis drei Kilo innerhalb einer Woche.
Und dann kamen noch schwerwiegende Unfälle in Ihrer Familie dazu. Ihre Mutter lag nach einem schweren Radunfall im Jahr 2020 lange im Koma und brauchte Zeit, um sich davon zu erholen.
Durch die ganze Stresssituation ist mein Gewicht bis auf 43 Kilo runter. Da ging dann wirklich gar nichts mehr. Ich wusste nicht, wie ich mit dem Stress und der Traurigkeit umgehen sollte. Ich war in einer Depression. Ich bin im Oktober 2020 für zehn Wochen in eine Klinik gegangen, um das alles aufzuarbeiten.
Die Therapie war bedingt erfolgreich. Trotz Klinik-Aufenthalt saßen Sie in den folgenden Jahren wieder sehr abgemagert bei Rennen im Sattel …
Dieses Defizitproblem ging so von Ende 2018 bis 2022/2023, da hatte ich immer das gleiche Untergewicht. Die Valencia-Rundfahrt 2019 habe ich mit 47 Kilo gewonnen. Und das war für mich immer im Kopf: mit diesem Gewicht bin ich am leistungsfähigsten.
Die Sturheit hatte Folgen. Sie stürzten 2021 und 2022 jeweils beim Giro d’Italia, erlitten zweimal einen Beckenbruch – auch wegen der durch die mangelnde Ernährung zu niedrigen Knochendichte ...
Innerhalb von einem Jahr zweimal ein Beckenbruch – das hat dann etwas mit mir gemacht. Das ist keine einfache Verletzung. Das hätte das Ende meiner Radsportkarriere sein können. Mir wurde zunehmend bewusster: So kann es nicht weitergehen. Ich muss jetzt etwas verändern.
Ich bin geschockt darüber, wie ich früher ausgesehen habe und dass ich mein Aussehen als nicht so schrecklich empfunden habe. Ich habe mich zwar nicht als schön, aber als Athletin empfunden. – Clara Koppenburg
Wie blicken Sie auf die damaligen Fotos von Ihnen?
Ich bin ein bisschen geschockt darüber, wie ich damals ausgesehen habe, und dass ich das selbst als nicht so schrecklich empfunden habe. Ich habe mich zu der Zeit nie als schön empfunden. Aber ich habe mich als Athletin empfunden. Ich dachte wirklich: So muss eine Spitzensportlerin aussehen! Einen Mann würde man mit so einer Figur bejubeln und sagen: Boah, ist der in Form, man sieht jede Vene an seinen Beinen. Bei einer Frau wird das anders wahrgenommen. Und das kann ich auch verstehen. Frauen sind nicht dafür gemacht, so ausgezehrt zu sein. Sie haben einen anderen Körperbau, sollten einen höheren Körperfettanteil haben.
Es war ein langer Kampf, ein Auf und Ab. Warum war jetzt der richtige Zeitpunkt, sich der Öffentlichkeit anzuvertrauen? Die öffentliche Diskussion um das sichtbar niedrige Gewicht von Pauline Ferrand-Prévot, der Siegerin der vergangenen Tour de France, die Meinungsäußerung von Demi Vollering dazu – hat Ihnen das Mut gemacht?
Ja. In dem Moment habe ich einfach das Gefühl gehabt: Es ist gut, dass sich die Top-Fahrerinnen darüber unterhalten und sich jeder gegenseitig seine Meinung sagt. Ich fand, es muss angesprochen werden.
Was denken Sie, wenn Sie Pauline Ferrand-Prévot auf dem Tour-Siegerpodium sehen – deutlich dünner als zuvor?
Ich bin ein bisschen zwiegespalten. Also ich verstehe absolut, dass es kritisch beäugt werden kann, weil sie natürlich jetzt sehr, sehr am Limit ist mit ihrem Körpergewicht. Aber es ist lange nicht so schlimm, wie es bei mir damals war. Es ist bei ihr im Rahmen, man hat das Gefühl, sie hat es unter Kontrolle. Sie macht das seit Jahren mit diesem Jojo-Effekt.
Die Diskussion unter den Rennfahrerinnen und über die Medien hat sich an der Frage entzündet, ob dieses extreme Gewichtsmanagement zwingend notwendig ist, um im Radsport der Gegenwart und Zukunft erfolgreich zu sein. Gerade an langen Bergen beim Saisonhöhepunkt Tour de France …
Diese Message sollte nicht verbreitet werden – vor allem mit Blick auf junge Radfahrerinnen. In den vergangenen Jahren haben andere Fahrerinnen wie Demi Vollering und Lotte Kopecky mit einem starken Körper, mit viel Kraft, ein positives Vorbild gesetzt. Übrigens glaube ich, dass das Problem im Männerradsport genau das gleiche Ausmaß hat. Mir haben ein paar Männer aus dem Radsport geschrieben, dass sie die gleichen Probleme haben, dass es ihnen nicht gut geht. Aber es wird eben nicht so offen darüber gesprochen wie bei den Frauen.
Das Verschweigen ist das Problem?
Ich verstehe nicht genau, warum sich Menschen dafür schämen sollten. Es ist eine Krankheit. Warum haben Menschen so Angst, darüber zu sprechen? Wenn jemand sich das Bein bricht, wird ihm geholfen und eine Reha angesetzt. Es gibt einen Plan. REDs sollte nicht unter den Tisch gekehrt werden. Aber es sollte auch auf niemanden mit dem Finger gezeigt werden.
Wie haben Sie die Reaktion auf Ihren Insta-Post erlebt?
Es kam eine Welle an Reaktionen auf mich zu. Aber es war positiv, weil wirklich ganz viele Menschen Interesse gezeigt haben und mit mir reden wollten – womit ich nie gerechnet hätte. Sehr, sehr viele Radfahrerinnen oder andere Sportler haben mir geschrieben, dass sie das extrem wichtig finden und dass sie in ähnlichen Situationen sind. Von daher, wenn ich auch nur ein paar Frauen oder Männern damit geholfen habe, ist mir das schon ganz viel wert.
Hatten Sie wie bei Ihrem Outing zuvor einen Schlüsselmoment, der Ihnen den entscheidenden Ruck gegeben hat, gesund zu essen, Gewicht zuzunehmen?
Es hat lange Zeit der letzte Anstoß gefehlt. Der ausschlaggebende Grund war eigentlich, dass mein Papa im Dezember 2023, als wir mit dem Team Tudor gemeinsam im Trainingslager waren, einen sehr schweren Fahrradunfall hatte. Am Krankenbett hat er meine Hand genommen und meinte: Clara, tu mir einen Gefallen und iss einfach! Er hatte Angst, dass mich das alles wieder so mitnimmt, wie der Unfall meiner Mama.
Der Unfall hatte sehr weitreichende Folgen. Ihr Vater ist seither querschnittgelähmt …
Das war für mich so der größte Changing Point, würde ich sagen. Da hat es bei mir wirklich im Kopf zu 100 Prozent Klick gemacht. Ich wollte nicht mehr das Sorgenkind der Familie sein. Alle Kraft und Energie musste einfach in Papa fließen. Ich habe mir gesagt: Ich muss jetzt einfach Taten sprechen lassen und zunehmen.
Haben Sie Angst vor einem Rückfall?
Nee. Das kann mir nicht mehr passieren, auf gar keinen Fall. Aber ich bin einfach froh, dass ich so glimpflich aus der ganzen Situation herausgekommen bin. Es hätte schlimmer ausgehen können in Sachen Knochenbrüche. Es hätte sein können, dass ich auch bei normalem Gewicht meine Periode nicht wiederbekommen hätte. Ich hatte Angst davor, dass ich nicht mehr in der Lage gewesen wäre, meine eigene Familie zu gründen. Und ich hätte mir sämtliche sozialen und familiären Kontakte zerstören können – es haben sich viele Menschen von mir abgewandt, weil sie einfach nicht wussten, wie sie mit mir und meinem Problem umgehen sollen.
Ist denn dann gleich alles gut, wenn das Gewicht stimmt?
Wenn man sich vom Untergewicht erholt hat, ist nicht alles blumig. Im Gegenteil! Man hat richtig Probleme auf dem Fahrrad. Ich kenne sehr, sehr viele Radfahrerinnen, die wieder ein normales Gewicht haben, die aber extrem unter den Nachwirkungen von REDs leiden und einfach nicht mehr so leistungsfähig sind.
Wie haben Sie das am eigenen Leib erfahren?
Vor zwei Jahren bin ich bei der Tour um die Top 15 gefahren, habe mich wirklich auf die Bergetappen gefreut. In diesem Jahr habe ich jeden Tag das Gefühl gehabt, um das Zeitlimit zu kämpfen. Ich habe an den Bergen dermaßen gelitten! Ich fahre plötzlich gefühlt mit 16 Wasserflaschen auf meinem Rücken diese Berge hoch. Es fühlt sich furchtbar an, als würde mich jemand die ganze Zeit zurückziehen. Zu den schlimmen Zeiten hatte ich einen Körperfettanteil von 4,8 Prozent. Ich brauche einen Wert von mindestens 13 bis 14 Prozent, damit die Hormone im Gleichgewicht sind. Das Ziel ist jetzt, das perfekte Gleichgewicht zu finden zwischen Körpergewicht und Power.
Haben Sie einen Plan, wie Sie wieder dauerhaft ins Gleichgewicht kommen?
Ich weiß nicht genau, wie das geht und ich habe auch leider keine Hilfe. Mein Körper muss mir wieder vertrauen und sollte wissen, dass ich ihm jetzt immer konstant Energie liefere. Im Moment denkt er: Ich hamstere alles, was mir Clara gibt – es könnten wieder schlechte Zeiten kommen.
Apropos Nachwirkungen: Sie haben für das kommende Jahr keinen neuen Vertrag bekommen. Auch mit dem Hinweis auf Ihre fehlenden Ergebnisse …
Mir wurde gesagt: „Wir sind superstolz auf dich, du gehst den richtigen Weg, mach’ genau so weiter! Das braucht einfach Zeit, zwei bis drei Jahre. Aber wir haben diese Zeit nicht“. Mir wurde auch schon gesagt, ich solle es ganz mit dem Radsport sein lassen. Das war der Moment, an dem ich mir gesagt habe: Denen muss ich zeigen, dass ich es zurückschaffe.
Ich habe mit dem Radsport noch nicht abgeschlossen. Es macht mir zu viel Spaß. Ich will zeigen, dass ich es zurückschaffe, dass ich nicht nur gut war, weil ich zu dünn war. – Clara Koppenburg
Der Spitzensport ist diesbezüglich ein schwieriges Feld. Es geht um Leistung, Schwächen sind nicht vorgesehen.
Es sollten alle darauf schauen, wie man den betroffenen Fahrerinnen helfen kann. Sie sollten nicht dafür bestraft werden, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben, nämlich wieder gesund zu werden. Ich würde mir wünschen, dass uns jemand da an die Hand nimmt. Ich bräuchte jemanden, der mir sagt: Wir glauben an dich, wir wollen den Schritt mit dir gemeinsam gehen und bringen dich wieder dahin zurück, wo du warst.
Vertrag hin oder her – es geht für Sie im Radsport weiter?
Ich habe mit dem Radsport auf gar keinen Fall abgeschlossen, dafür macht er mir zu sehr Spaß und ich liebe ihn zu sehr. Ich möchte mir, aber auch der ganzen Radszene beweisen, dass ich nicht nur gut war, weil ich so dünn war, und jetzt schlecht bin, weil ich zu viel auf den Rippen hab’ oder normal bin. Sondern, weil ich eine richtig gute Athletin bin, weil ich einfach hart dafür arbeite, weil ich Talent habe und mental stark genug bin. Und nicht, weil ich mit meinem Gewicht spiele.
Clara Koppenburg ist als Späteinsteigerin in den Radsport gekommen. Sie spielte in ihrem Heimatort Lörrach in ihrer Kindheit Fußball, betrieb dann intensiv Leichtathletik, ehe sie nach einer Verletzung rund um ihr Abitur aufs Rennrad wechselte. Während ihres Studiums in Konstanz (Sportwissenschaft) trat sie in den Radsportverein Seerose Friedrichshafen ein und trainierte dort mit der drei Jahre jüngeren Liane Lippert. 2014 bestritt Koppenburg ihre ersten hochkarätigen Radrennen und erhielt in der darauffolgenden Saison ihren ersten Profivertrag beim Team Bigla. Ihren Durchbruch erlebte sie im Jahr 2018, als sie auf der sehr bergigen Strecke der Straßen-WM in Innsbruck als beste Deutsche 18. wurde. Es folgte mit dem Wechsel zum deutschen Rennstall WNT-Rotor das erfolgreichste Jahr mit zwei Siegen und vielen Topplatzierungen vor allem bei bergigen Etappenrennen.
Für Beobachter war allerdings sichtbar, dass die junge Frau die Wettkämpfe mit extrem abgemagertem Körper bestritt, ihr Wettkampfgewicht lag über mehrere Jahre bei 46 bis 47 Kilogramm auf 1,70 Meter Größe. Das bedeutet medizinisch kritisches Untergewicht. In persönlichen Krisen waren es nur noch 43 Kilogramm. Rund vier bis fünf Jahre brauchte Koppenburg, um wieder ein gesundes Verhältnis zu Nahrung und Sport zu entwickeln. Das machte die 30-Jährige Mitte August in einem Post auf ihrem Instagram-Account öffentlich und sprach über ihren Kampf gegen eine Krankheit, die sie als REDs-Syndrom bezeichnet (siehe Kasten, Seite 74). Mittlerweile hat Koppenburg wieder ein gesundes Gewicht, für die kommende Saison jedoch keinen Vertrag bei einem Profiteam. Koppenburg hat einen Abschluss in Sportwissenschaft. Vater Andreas Gösele-Koppenburg betreute als Sportarzt die Olympia-Teams der Schweiz und mehrere Profiteams bei den Männern. Aktuell ist er beim Tudor Pro Cycling Team tätig. Ihre ein Jahr ältere Schwester Hannah ist Musikerin und spielt unter anderem Konzerte mit Dave Stewart, bekannt als Mitglied der Eurythmics.