Unbekannt
· 13.07.2017
Glutenfreie Ernährung gilt auch für immer mehr Radsportler als hip. Kann der Verzicht auf die geliebten Nudeln tatsächlich gesundheitliche Probleme verringern – und sogar die Leistung verbessern?
Es ist der Stoff, aus dem die Träume sind – allerdings die Alpträume so manchen Sportlers: Gluten ist nicht nur in hip-veganen Großstadtkreisen zum Angstobjekt geworden. Selbst immer mehr Radsportler versuchen, dem auch als "Kleber-Eiweiß" bezeichneten Getreidebestandteil nicht auf den Leim zu gehen. Der Dominator der Tour zum Beispiel, Chris Froome, meidet Gluten nach Möglichkeit.
Mittlerweile, so bestätigen Sportmediziner und sportwissenschaftliche Untersuchungen, verzichten in manchen Ausdauerdisziplinen mehr als 40 Prozent der Leistungssportler auf Gluten, das sich aus Proteinen zusammensetzt und etwa dabei hilft, dass Brotteig beim Backen aufgehen kann. Verzicht auf Gluten bedeutet Verzicht auf Lebensmittel, die Weizen enthalten, sowie Roggen, Dinkel, Hafer, Gerste und andere Getreide. Viele Menschen nehmen freiwillig kein Gluten zu sich, erhoffen sich davon eine gesündere Ernährung – und bessere sportliche Leistung.
Doch wie es mit Ernährungsthemen so ist: Während die einen davon schwärmen, sind die anderen skeptisch. "Ich beobachte, dass es um das Thema einen großen Hype gibt", sagt Daniel König, Sportmediziner an der Uni Freiburg und mit vielen Spitzenathleten in Kontakt. Weit mehr Sportler verzichteten auf Gluten, als aus medizinischer Perspektive zu erwarten sei. "Die Diagnose stellen die Athleten fast immer selbst – und eine medizinische Überprüfung findet selten statt. Ob es tatsächlich positive Effekte gibt, wird meist nicht gemessen." Ist es also vielleicht eher ein Trend – der auch deutlich teurer ist als herkömmliche Ernährung?
Aus medizinischer Sicht gibt es zwei Gruppen von Personen, die auf Gluten in der Ernährung verzichten sollten: Da ist zum einen jene Gruppe, die unter der Krankheit Zöliakie leidet – hierzulande wird die Quote der Betroffenen auf etwa ein Prozent geschätzt. Bei Menschen mit Zöliakie entzündet sich die Dünndarmschleimhaut chronisch. Die Krankheit entsteht nicht infolge des Glutenkonsums; sie ist eine Autoimmunerkrankung mit vermutlich erblich bedingten – aber auch anderen – Auslösern.
Daneben etabliert sich in der Medizin zunehmend der Begriff "Glutensensitivität" für jene Menschen, bei denen zwar weder eine Allergie noch eine Zöliakie gefunden werden kann, bei denen sich körperliche Leiden aber durch Glutenverzicht verringern. Wie viele Personen dies betrifft, weiß man nicht genau. Bekannt sind aber ihre Symptome: Kopfschmerzen, Hautprobleme, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall sowie Blähungen sind die häufigsten.
SCHNELL AUCH OHNE GLUTEN
Patrick Konrad, Profi beim deutschen Team Bora, hat bewiesen, dass man auch mit Zöliakie beim schwersten Radrennen der Welt mithalten kann: Der 25-jährige Österreicher beendete die Tour de France 2016 als 65. des Gesamtklassements. Erst im Vorjahr war bei ihm die Darmkrankheit diagnostiziert worden. Bis dahin hatte er sich ernährt, wie es Radsportler traditionell tun: mit großen Mengen Kohlenhydraten. Lange Zeit merkte er gar nicht, dass etwas nicht stimmte: "Ich hatte früher Probleme mit dem Darm und dachte, dass das normal ist, wenn man stundenlang sitzt, hart trainiert und viel isst", erinnert sich Konrad. Als bei ärztlichen Untersuchungen aber ein Mangel an Eisen und Folsäure gefunden wurde, ging er zum Spezialisten – der bei Konrad die Krankheit feststellte. Es folgte eine etwa drei Monate dauernde Umstellung, eine Lernphase. "Man muss auf alles achten, denn viele vermeintlich glutenfreie Produkte sind doch kontaminiert", erklärt Konrad. Inzwischen kommt er ohne den Getreideklebstoff gut klar, statt Müsliriegel gibt es Reiskuchen. Seine Darmprobleme sind verschwunden. Konrad muss auf Gluten verzichten – aber er merkt, dass viele seiner Kollegen ebenfalls an dem Thema interessiert sind, ohne medizinische Indikation.
Das gilt etwa für Paul Voß, Konrads Teamkollegen. Wie viele Profis setzt sich auch der 30-Jährige mit Ernährungsthemen auseinander. Dabei hat er weder Zöliakie noch eine Glutensensitivität. Er hat das bislang auch nicht prüfen lassen, denn: "Ich hätte Angst vor den Ergebnissen, wenn ich auf Unverträglichkeiten getestet würde", sagt Voß. Er gibt zu, dass es ihn vor einigen Jahren noch amüsiert habe, wenn sein damaliger Teamkollege Linus Gerdemann Reis statt Pasta gegessen habe. Doch auch Voß wurde zunehmend sensibilisiert. Er merkte, dass er nach großen Pasta-Portionen Probleme mit Verdauung und Regeneration bekam. Dann stellte er – zumindest in Trainingslagern und vor wichtigen Wettkämpfen – seine Ernährung um, eliminierte Weizen und andere glutenhaltige Produkte – und profitiere seither davon, sagt er. Ganz nebenbei habe er auch sein Gewicht im Griff: "Es gibt so gut wie kein Snacken mehr." Weizenkekse oder ein Griff in die Müslipackung: Das geht eben nicht, weil da Gluten drin ist.
ALTERNATIVEN ZU WEIZEN
"Die Nachfrage nach glutenfreiem Essen wird gerade ziemlich groß", hat auch Jeaun-Mari Breytenbach festgestellt, die südafrikanische Teamköchin von Patrick Konrad und Paul Voß. Deswegen kocht sie inzwischen meist gluten- und weizenfrei – sie setzt auf Quinoa und Vollkornreis oder zumindest Eiernudeln –, verzichtet auf Zucker in Vorspeisen, Hauptspeisen und Desserts. Ihre Rezepte veröffentlicht sie im Internet. Folgt man Breytenbach, geht es beim Weglassen von Gluten nicht nur ums Reduzieren von Beschwerden, sondern auch darum, mit alternativen Nahrungsmitteln gesündere Kost herzustellen – etwa durch erhöhte Eiweißaufnahme.
Mit diesem Blick ist Breytenbach in guter Gesellschaft. Seit vielen Jahren schon sammelt das heutige Team Cannondale Erfahrungen mit glutenfreier Kost; Teamchef Jonathan Vaughters bekannte sich als Pasta-Gegner und ließ seine Mannschaft ab 2010 glutenfrei essen. Eines der Hauptargumente für den Verzicht ist die Theorie, dass sich ohne Gluten auch Entzündungen im Darm reduzieren lassen und damit die Regeneration verbessert wird, was wiederum der sportlichen Leistung zugutekommt. Auch der einstige Koch des Team Sky, Nigel Mitchell, gilt als Verfechter des freiwilligen Glutenverzichts; er soll damit Bradley Wiggins beim Formaufbau geholfen haben und kocht nun passenderweise für die Cannondale-Equipe.
Weniger um Leistungssteigerung als vor allem um seine Gesundheit geht es dagegen dem deutschen Radsportler Matthias Schindler, dessen großes Ziel die Paralympics 2020 sind. Seit einer misslungenen Tumor-Operation ist der 34-Jährige komplett querschnittsgelähmt; er saß zunächst im Rollstuhl, hatte große Gewichtsprobleme und stellte dann seine Ernährung um – auch, weil das Entstehen von Tumoren immer wieder mit Ernährung in Verbindung gebracht wird. Er meidet heute glutenhaltige Lebensmittel, weil für ihn Weizenprodukte voll seien mit problematischen Stoffen. Schindler litt nie bewusst unter dem Glutenkonsum, hatte keine Darmkrämpfe oder Durchfall wie andere Athleten. Doch er ist sich sicher, dass er vom Verzicht profitiert. Und er hat abgenommen – 25 Kilogramm seit seinem Höchstgewicht.
BESSER FÜHLEN, MEHR LEISTEN
Für Athleten wie Schindler ist die Forschungsgruppe Dr. Feil eine wichtige Quelle der Inspiration. Der Zusammenschluss von Forschern aus Sportwissenschaft, Medizin, Biologie und Physiotherapie macht seit Jahren gegen tradierte Ernährungsregeln mobil. Der Gründer des Teams, Wolfgang Feil, ist Autor des Buchs "Die F-AS-T Formel: Was erfolgreiche Sportler anders machen" – und er ist fest überzeugt, dass Gluten ein wichtiges Thema für Athleten sein sollte. Es sei aus Studien bekannt, dass Gliadin – einer der beiden Glutenbestandteile – Entzündungen fördere und die Darmdurchlässigkeit erhöhe. "Es gibt also ein belastendes Potenzial für Allergien und Entzündungen."
Aus dieser Perspektive ist es für leistungsorientierte Athleten ein echter Problemstoff, denn wer viel Sport macht, braucht viel Energie – und wer diese mit Weizenprodukten nachfüllt, gerät laut Feil in ein Dilemma: "Viele Menschen überhöhen die Menge des konsumierten Weizens. Dann wird der Darm dauerhaft mit größerer Durchlässigkeit konfrontiert, bekommt eher Entzündungen – und das führt zu Regenerationsproblemen und höherer Verletzungsanfälligkeit." Wer etwa beruflichen Stress erlebt und dennoch sportliche Ziele erreichen will, dem rät der Biologe und Sportwissenschaftler, in einer solchen Phase komplett auf Gluten zu verzichten – auch ohne medizinische Diagnose.
Manchmal ist es eben eine Frage des Gefühls, wie bei Timo Büttner, der in einem Fahrradgeschäft arbeitet und als ehrgeiziger Hobbyfahrer erfolgreich etwa am Alpenbrevet oder an der TOUR-Transalp teilgenommen hat. Der 41-Jährige ernährt sich nicht nur glutenfrei, sondern auch vegetarisch – seit einer Herz-Operation vor sieben Jahren setzt er auf gesunde Ernährung. Seit drei Jahren lässt er glutenhaltige Speisen weg – auch seine Frau macht mit, sie backen sogar ihr eigenes Brot mit alternativen Mehlen. "Wir fühlen uns dadurch besser", sagt Büttner.
Die Frage ist nur: Handelt es sich bei diesem Gefühl um einen Placebo-Effekt – oder lässt sich die Wirkung medizinisch nachweisen? Und ist das nicht ganz egal, solange die Menschen besser damit zurechtkommen?
Professor Daniel König aus Freiburg ist eher vorsichtig. Wenn landauf, landab über den Nutzen des Glutenverzichts geredet wird, hält er dagegen: "Der Rückschluss, dass glutenfreie Ernährung allgemein leistungsfähiger macht, lässt sich nicht belegen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Menschen ohne Reizdarmsyndrom vom Weglassen profitieren." So stellt eine aktuelle australisch-kanadische Studie vor allem einen Mangel an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu dem "Hype" fest. Auch Christine Graf vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft an der Deutschen Sporthochschule in Köln hat den Anti-Gluten-Trend unter Sportlern festgestellt und hält ihn "aktuell nicht für angemessen".
MÖGLICHER KOHLENHYDRAT-MANGEL?
Daniel König warnt gar davor, dass ein Weglassen etwa von glutenhaltigen Weizenprodukten sogar zu Problemen führen kann, wenn man sie nicht gezielt ersetze: So könne ein Mangel an Kohlenhydraten, aber auch an den Vitaminen B1 und B6, Zink und Selen auftreten. Wer die Ernährung mit Kohlenhydraten aus Getreiden gewohnt ist, muss erst einmal lernen, wie er die entsprechenden Mengen aus alternativen Quellen ersetzen kann – sonst droht ein Mangel an Energie. Sicherlich könne man diesen Effekt zum Abnehmen nutzen, doch bestehe hier eben auch ein Risiko. Graf weist außerdem auf häufig höhere Salz- und Fettwerte in glutenfreien Alternativprodukten hin.
Die Ansichten sind also kontrovers. Wolfgang Feil meint, dass die universitäre Forschung in Deutschland fünf Jahre hinterherhinke. "Weizen ist kein gutes Lebensmittel", sagt er. Doch die Argumentation der Forschungsgruppe Dr. Feil beim Thema Gluten überzeugt nicht alle Wissenschaftler. DSHS-Professorin Graf sagt: "Die Datenlage ist wissenschaftlich tatsächlich inkonsistent."
WISSEN ODER GLAUBEN?
Ist der Verzicht auf Gluten also nur eine Glaubensfrage? Das dürfte für manchen so sein. Doch immerhin sind die Fronten nicht so hart, wie es zunächst zu erwarten wäre. Der Mediziner Daniel König etwa wird keinem seiner Patienten die glutenfreie Ernährung ausreden, wenn der sich damit wohler oder in der Leistung zumindest verbessert fühlt. Und auch Wolfgang Feil predigt nicht unbedingt den Komplettverzicht auf Weizen, Roggen oder Dinkel. "Man sollte es nicht schwarz-weiß sehen, sondern die Gefahren des Glutens realistisch einschätzen."
Man könne immer noch eine Pizza essen oder mal eine Rosinenschnecke – nur solle man eben nicht dauerhaft alle Kohlenhydrate nur aus Weizen zu sich nehmen, sagt Feil. Im Zweifel, glaubt selbst der Weizenkritiker, sei es sogar besser, mitunter auch glutenhaltige Speisen bewusst beizubehalten. Denn sonst entwöhne man sich – was dann in Wettbewerben, etwa bei der Versorgung mit Riegeln, bei den glutenfreien Athleten zu großen Problemen führen könne.
Eines ist das Thema derzeit ganz sicher: ein attraktiver Markt. Denn neben den Massenmärkten für konventionelle Lebensmittel tun sich Nischen auf, in denen Menschen für den erwarteten Nutzen deutlich mehr bezahlen. Auch Radprofi Patrick Konrad benennt das Problem. Die Ernährung wird deutlich teurer, wenn man sie konsequent glutenfrei auslegt; selbst die Alternativen aus dem Supermarkt, wie glutenfreie Nudeln, kosten deutlich mehr als die Standard-Pasta. "Es kostet brutal mehr Geld, wenn man beim Essen konsequent auf die Gesundheit achtet", beobachtet auch der Handicap-Sportler Matthias Schindler. So stellt sich Profis wie Hobbyportlern gleichermaßen nicht nur die Frage, ob glutenfreie Ernährung die Leistung verbessert oder nicht; sondern auch, ob sie den Preis für – tatsächlich oder vermeintlich – gesünderes Essen bezahlen wollen. Im Moment lautet die Antwort vieler Athleten wohl: auf jeden Fall.
DAS IST GLUTEN
Gluten ist ein Stoffgemisch aus Proteinen in manchen Getreidesorten, eine Sammlung von ethanol- und wasserlöslichen Eiweißen. Im Weizen etwa besteht Gluten aus Gliadin und Glutenin, zwei Speichereiweißen. Gluten findet man in Dinkel, Weizen, Gerste, Roggen und anderen Getreiden. Hafer kann aufgrund seiner besonderen Zusammensetzung von Zöliakiepatienten vertragen werden, wenn er gesondert angebaut und verarbeitet wird. Haferprodukte aus dem gängigen Sortiment sind aber oft durch Rückstände von Weizen oder anderem Getreide verunreinigt.
GLUTENFREIE ALTERNATIVEN
Wer glutenfrei leben möchte, kann viele alternative Getreidesorten und andere Erzeugnisse wählen. Beliebt sind Amarant, Buchweizen, Hirse, Mais und Quinoa. Die Kartoffel gilt ebenso wie Reis als allgemeines Ersatznahrungs mittel mit hoher Kohlenhydratkonzentration – was es zur guten Alternative zu Weizennudeln macht. Auch Soja spielt in der glutenfreien Ernährung eine wichtige Rolle.
ZÖLIAKIE UND SENSITIVITÄT
Eine Zöliakie lässt sich in vielen Fällen mithilfe von Bluttests ermitteln. Hier werden im Labor bestimmte Antikörper im Serum nachgewiesen. Auch wenn es heute rezeptfreie Selbsttest-Kits gibt, raten Experten, bei Verdacht auf eine Zöliakie direkt zum Arzt zu gehen. Die Diagnose wird mit Gewebeproben aus dem Dünndarm gesichert. Eine Gluten-Sensitivität ist – anders als die Zöliakie – keine Autoimmunkrankheit, sondern eine Intoleranz. Sie lässt sich nicht durch Blut- oder Gewebetests diagnostizieren, sondern durch das Eliminieren von Gluten in der Nahrung und Beobachtung. Steigt das Wohlbefinden, wenn man Gluten vermeidet, kann man von einer Sensitivität ausgehen.