„Zu lohnenden Zielen führen keine Abkürzungen“, soll die amerikanische Opernsängerin Beverly Sills einmal gesagt haben. Was sie möglicherweise auf die Ausbildung ihrer Stimme bezogen hat, gilt übertragen auf den Sport auch für die Power-to-Weight-Ratio, das ideale Verhältnis von Leistung zu Körpergewicht auf dem Rad: für Ersteres muss trainiert, für Letzteres die Ernährung sowie die Zahl auf der Waage kontrolliert werden. Ohne Disziplin keine Verbesserung. Zumindest galt das bis vor Kurzem. Denn seit 2018 ist das Abnehmen per Spritze in der EU erlaubt: Seinerzeit nämlich ließ die Europäische Union die Substanz Semaglutid zur Gewichtsreduktion zu. Das ist der Wirkstoff, der unter anderem in den inzwischen schon berühmt-berüchtigten Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy steckt, die sich in dieser Funktion explodierender Beliebtheit erfreuen: Laut Informationsdienst Statista ist Ozempic mit einem Bruttoumsatz von 16,1 Milliarden Euro inzwischen bereits das am zweithäufigsten verkaufte Medikament weltweit.
Mit Hilfe der Abnehmspritze schlank werden und bleiben, ohne zu hungern und die Ernährung umzustellen – das klingt verlockend. Auch für Athleten in Disziplinen, in denen geringes Körpergewicht einen Leistungs- und Wettbewerbsvorteil bringt, wie dem Rennradsport. Denn „eine Gewichtsabnahme erhöht in der Theorie die relative Sauerstoffaufnahme. Das ist ein wichtiger Marker der körperlichen Leistungsfähigkeit und gerade im Radsport mitentscheidend für eine hohe Leistungsfähigkeit, insbesondere bergauf“, erläutert Dr. Stephan Prettin, Oberarzt am Institut für Bewegungs- und Arbeitsmedizin des Universitätsklinikums Freiburg. Die Pfunde können mithilfe von Semaglutid in beträchtlichem Ausmaß purzeln: Studien berichten von einem durchschnittlichen Gewichtsverlust durch den Wirkstoff von 10 bis 15 Prozent. Das kann auf dem Rad einen erheblichen Vorteil bedeuten und über Sieg oder Platz zwei entscheiden.
Zudem, so sagt Sport- und Ernährungsmediziner Stephan Prettin, gebe es Hinweise in Studien, dass Ozempic die Auswurfleistung des Herzens verbessern kann. Die beschreibt, wie viel Blut das Herz pro Minute in den Kreislauf pumpt und bestimmt dadurch mit, wie viel Sauerstoff zur arbeitenden Muskulatur gelangt, wie schnell Laktat abtransportiert wird oder auch, wie flott sich die Beine nach intensiven Intervallen erholen.
Allerdings wurden diese Daten an Patienten erhoben, die an Diabetes mellitus oder Herzinsuffizienz erkrankt waren. Für sportlich aktive Menschen gibt es derzeit noch kaum belastbare wissenschaftliche Daten. Während sich noch kein Radprofi öffentlich dazu bekannt hat, Semaglutid zu nutzen, finden sich jedoch vermehrt Beiträge und Videos von ambitionierten Hobbyradsportlern, die mit dem Wirkstoff experimentieren. Dabei ist Semaglutid an sich gar nicht zum Abnehmen gedacht. Medikamente mit diesem Wirkstoff entstanden vielmehr, um Diabetes Typ 2 und Fettleibigkeit, die sogenannte Adipositas, zu behandeln. Denn Semaglutid ist ein sogenannter GLP-1-Rezeptor-Agonist. Das ist, vereinfacht gesagt, eine Substanz, die das Hormon GLP-1 im Darm imitiert und sich an die entsprechenden Rezeptoren bindet. Dieses körpereigene Hormon spielt eine wichtige Rolle im Glukosestoffwechsel und bei der Regulierung des Sättigungsgefühls.
Semaglutid senkt unter anderem den Blutzuckerspiegel, und zwar direkt über eine Insulinausschüttung und indem es die Zuckerneubildung in der Leber hemmt. „Indirekt reguliert es außerdem den Blutzuckerverlauf, indem sich der Magen langsamer entleert und man sich länger satt fühlt“, erklärt Stephan Prettin. Weiterhin mindert Semaglutid den Appetit, indem es auf das Sättigungszentrum im Gehirn wirkt. Weniger Hunger bedeutet im Normalfall, weniger zu essen. Dadurch sinkt die Kalorienaufnahme – und wer weniger Energie zu sich nimmt als verbraucht, nimmt ab. Dank ausbleibender Blutzuckerspitzen entsteht obendrein auch kein Heißhunger, der das Kaloriendefizit mit einem Futter-Flash zunichte machen könnte. Was beim ursprünglichen Einsatzzweck von Semaglutid gewollt war und für den Therapieerfolg wichtig ist, eignet sich aber nicht unbedingt dafür, möglichst unkompliziert und ohne gezielte bzw. kontrollierte Ernährung zum Wettkampfgewicht zu kommen.
„Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein Ausdauersportler wie ein Rennradfahrer oder ein überwiegend inaktiver Mensch diese Mittel einnimmt, insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Energieumsätze und Kohlenhydratverbräuche“, warnt der Sport- und Ernährungsfachmann. Denn Rennradfahrer verbrennen während des Trainings und in Wettkämpfen viel Energie, vor allem in Form von Kohlenhydraten. Wer zu wenig Kalorien aufnimmt, weil Semaglutid den Appetit bremst, kann sich in einen relativen Energiemangel vor, während und nach (langen) Trainingseinheiten manövrieren. In der Folge bricht die Leistung ein. Zudem regeneriert der Körper nach Belastungen unter Umständen schlechter, wodurch er sich weniger gut an den Trainingsreiz anpasst.
„Unterm Strich kann der Einsatz von Semaglutid zu einer Abnahme der Leistungsfähigkeit führen, und da haben wir noch nicht über die potenziellen Nebenwirkungen gesprochen“, erklärt Stephan Prettin. Die wiederum sind nicht zu unterschätzen.
Bei Athleten, insbesondere bei Ausdauersportlern, können bei Einnahme von Semaglutid eher gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Bauchschmerzen und Verstopfung auftreten. Das liegt unter anderem daran, dass sich bei sportlicher Ausdauerbelastung Blut vom Darm in die arbeitende Muskulatur verlagert und die nach vorne gebeugte Haltung auf dem Rennrad auf den sich nur langsam leerenden Magen-Darm-Trakt drückt. Denkbar schlechte Voraussetzungen, um vernünftig zu trainieren oder ausreichend Energie aufzunehmen (und bei sich zu behalten).
Aufgrund von Magen-Darm-Beschwerden und einer reduzierten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme besteht zudem das Risiko zu dehydrieren. Und: „Die verlangsamte Magenentleerung kann die Energieaufnahme vor und während des Trainings beeinträchtigen und so zu Mangelversorgung führen. Die appetithemmende Wirkung von Semaglutid führt zwar zu Gewichtsverlust, kann aber auch eine unzureichende Kalorienzufuhr verursachen, was Muskelschwäche, Muskelabbau und eine Verringerung der Belastbarkeit begünstigt“, weiß Sportmediziner Prettin und liegt damit auf einer Linie mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, beispielsweise denen einer Studie aus 2024, die einen um 0,8 Prozent höheren Muskelverlust durch den GLP-1-Rezeptor-Agonisten feststellte als durch den natürlichen Alterungsprozess.
Auch mental kann sich Semaglutid negativ auswirken, zum Beispiel in Form von Konzentrationsproblemen, Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit, Schwindel sowie Müdigkeit. „Die stärkere Kontrolle über das Essverhalten kann bei einigen Athleten darüber hinaus zu zusätzlichem mentalem Druck, Angst vor Leistungseinbußen oder gar Essstörungen führen“, warnt der Internist, Sport- und Ernährungsfachmann.
Auch die Antidoping-Behörden sind bereits auf den „Wunderwirkstoff“ aufmerksam geworden. Als Dopingmittel – und damit verboten – ist Semaglutid zwar nicht eingestuft. Seit 2024 steht der Wirkstoff aber auf der Liste von Substanzen, die die Welt-Antidoping-Agentur (WADA) überwacht, um zu verfolgen, ob und wie er in und außerhalb von Wettkämpfen verwendet wird. Das bedeutet, Athletinnen und Athleten werden bei Dopingkontrollen auch auf Semaglutid getestet, wenn auch (noch) ohne Konsequenzen.
Dr. Prettin hält für Ausdauersportler ohnehin den konservativen Weg zum Traumgewicht für den besseren als die Abkürzung über die Abnehmspritze: „Wichtig ist eine ausgewogene, energiekontrollierte und ballaststoffreiche Ernährung mit ausreichend Mikro- und Makronährstoffen, die den hohen Energiebedarf deckt, aber ein leichtes Kaloriendefizit erzeugt, um Fett abzubauen ohne Muskelmasse zu verlieren. Dazu gezieltes Krafttraining, um die Muskulatur zu schützen“, rät er. Je nach Ambition und Leistungsklasse kann gegebenenfalls eine professionelle Ernährungsberatung sinnvoll sein und, so ergänzt Stephan Prettin: „Als Ernährungsmediziner würde ich zudem immer dazu raten, sich keine zu utopischen Ziele in zu kurzer Zeit zu stecken. Am besten funktionieren langfristigere Strategien mit einem realistischen Ziel.“
Dr. Stephan Prettin ist Internist, Sportmediziner sowie Ernährungs- und Höhenmediziner. Er arbeitet als Oberarzt am Institut für Bewegungs- und Arbeitsmedizin des Universitätsklinikums Freiburg und ist im Radsport seit Jahrzehnten beruflich und privat verwurzelt.