Jeder Radfahrer kennt das intensive Gefühl im Startblock, bevor das Rennen beginnt: Eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung lässt den Puls steigen, die Musik aus den Boxen fließt durch den ganzen Körper, und man kann die Beine kaum noch stillhalten. Nina Helbig und Oliver “Obi” Lüs aus Halle an der Saale sind schon seit Tagen aufgeregt. “Man fragt sich, wie das Wetter wird, was packe ich ein, schafft man das, klappt es, sich gut zu regenerieren und eine gute Leistung abzurufen”, schildert die 39 Jahre alte Nina, was ihr durchaus ein wenig Sorge bereitet hat. Der Start beeindruckt die beiden bereits – in so großem Rahmen haben sie ihren Sport noch nie ausgelebt.
Lienz in Osttirol bildet eine würdige Bühne für den Start der TOUR Transalp 2024: Der große Startbogen steht direkt am Hauptplatz, hinter den Absperrgitter sitzen Touristen in den Cafés und blicken interessiert auf das Spektakel. Lienz bezeichnet sich als Sonnenstadt, und diese Charakterisierung passt heute genau: Die Sonne strahlt warm über die rund 400 Starterinnen und Starter. Links und rechts der Absperrgitter stehen Zuschauer, und der Streckensprecher zählt über den Lautsprecher die Zeit bis zum Start herunter. Endlich geht es los – eine lange Zeit der Vorbereitung geht zu Ende.
Dass Nina und Obi bei Europas bekanntestem Etappenrennen für Hobbysportler als Mixed-Team starten, verdanken sie TOUR und dem Sponsor Diasporal. Sie haben sich bei der Ausschreibung durchgesetzt und starten als “Team Diasporal-Alpen-Challenge”. Das Projekt war klar umrissen: Ein Komplettpaket aus Leistungsdiagnostik, Trainingsbetreuung und Startplatz als Gewinn, begleitet von der TOUR-Redaktion während der Vorbereitung und beim Ritt über die Alpen. Einzige Voraussetzung: Die Bewerber durften zuvor noch nicht an der TOUR Transalp teilgenommen haben. Dass die beiden Hobbysportler aus Halle die Herausforderung Transalp meistern würden, ließ ihre Bewerbung erahnen. Beide bringen nicht nur viele Lebenskilometer mit, sondern fahren auch gerne große Distanzen. Auf der Langstrecke haben beide viel Routine – schnelle, kurze Rennen hingegen bedeuten Neuland. Vor ihnen liegen sieben Tage Radrennen – oder in Zahlen: 788 Kilometer und 16.600 Höhenmeter intensive Rennerfahrung.
Als es am 16. Juni um neun Uhr losgeht, werden die vielen Gedanken innerhalb von Sekunden abgelöst von einem einzigen: die Gruppe halten. Die ersten 25 Kilometer im flachen Drautal heizen Nina und der 42 Jahre alte Obi in einer Gruppe mit mehr als 40 km/h über die Straße. Weil sie den guten Windschatten nicht verlieren wollen, fahren sie längst am Anschlag. Obi merkt, wie sein Puls sich viel zu lange im Maximalbereich bewegt. Das ändert sich auch nicht, als die Straße sich aufstellt: Zwischen 12 und 19 Prozent Steigung ziehen das Feld jetzt in die Länge. “Ich brauche immer etwas, um reinzukommen”, sagt Obi und lässt Nina ziehen – erst später fahren sie wieder zusammen.
Auch wenn sie weit oberhalb des Wohfühlbereichs unterwegs sind, saugen sie die schönen Eindrücke auf: “Die Pustertaler Höhenstraße hatte sagenhafte Ausblicke für uns, und man hätte eigentlich öfter anhalten sollen.” Als sie nach 73 Kilometern und rund 2100 Höhenmetern im Ziel ankommen, sind sie ebenso glücklich wie erleichtert: “Die Stimmung und die Beine sind gut.”
Die starken Beine sind keine Überraschung: Nina und Obi lieben die Langstrecke und kommen auf mehr als 30.000 bzw. 20.000 Radkilometer im Jahr. Allerdings haben sie keine Erfahrung bei Alpenmarathons oder Radrennen: “Wir fahren schon mal 300 Kilometer, schnell für uns”, hatte Nina vor dem Start erzählt, “aber das ist so ein Punkt, wo man gar nicht weiß, wie es wird.” In den Bergen waren sie 2023, um auf eigene Faust den Triple Stelvio zu fahren – also alle drei Auffahrten zum Stilfserjoch hintereinander. 2022 sind sie mit 20 Kilogramm Gepäck in zehn Tagen durch Deutschland gefahren. Das erklärt auch, warum sie bei der TOUR Transalp große Sattelstützentaschen am Rad haben. “Die Leute fragen uns immer, was wir da drin haben. Regenjacke, Geldbeutel, meinen Trinkbeutel”, erklärt Obi. Sie wollen auf alles vorbereitet sein.
Aber nicht alles im Radsportleben ist planbar. Vor dem Start der zweiten Etappe ahnen Nina und Obi noch nicht, was in wenigen Minuten passieren wird. Im beschaulichen Silian schieben sie ihre Räder in den Startbereich, geben ihre Tagesbeutel ab, die ins Ziel transportiert werden. Sie plaudern mit den Mitfahrern der gestrigen Etappe und schauen aufs Höhenprofil: Heute geht es über Passo Cimabanche, Passo Falzarego und Passo Pordoi nach Moena ins Val di Fassa. Die Etappe startet um 9 Uhr, und es könnte ein entspannter Tag werden – doch um 8.59 Uhr entdeckt Obi, dass er einen platten Vorderreifen hat. Hektisch sucht Nina nach dem Technischen Service, doch der ist längst auf der Strecke. Der Countdown des Streckensprechers ertönt, und wie in einem schlechten Film sehen Obi und Nina die Starter langsam davonfahren. Ist das Etappenrennen bereits am zweiten Tag vorbei?
Bringt ein dummes Loch im Reifen die Transalp-Träume zum Platzen? Obi beginnt, den Schlauch zu tauschen, vier Minuten später ist er fahrbereit. Vier Minuten Zeitverlust klingen nicht nach viel, aber natürlich ist das Transalp-Peloton längst entschwunden. Keinen Windschatten zu haben, ist schon schlimm genug – zu allem Überfluss hängen die beiden jetzt in der Fahrzeugkolonne fest, die sich hinter dem Feld gebildet hat, Kreuzungen sind nicht mehr abgesichert. Ihre Strava-Aufzeichnung hält fest, was jetzt passiert: hartes Intervalltraining. Beschleunigung auf 37 km/h, dann wieder abbremsen und kurz darauf erneut beschleunigen. In einer anstrengenden Jagd kämpfen sie sich zurück ins Rennen. Nach rund 16 Kilometern biegt bei Toblach die Straße links ab. Im Höhlensteintal geht es jetzt stetig bergauf, nach und nach holt das Diasporal-Duo die Langsamsten am Ende des Feldes ein. Obi kämpft sich weiter nach vorne und wartet an der ersten Verpflegungsstation auf Nina. “Der erste Teil hat durch die Aufholjagd extrem viel Körner gekostet”, berichtet Nina später.
Mit den Pässen Falzarego und Pordoi stehen noch zwei harte Brocken auf dem Programm. Nach der anstrengenden Aufholjagd müssen sie ziemlich beißen und vor dem Ende der Etappe noch einmal die Nerven bewahren: In der Abfahrt zum Ziel ist Obis Vorderreifen erneut platt, und seinen Ersatzschlauch hat er bereits verbraucht. Ein Service-Fahrzeug ist zum Glück in der Nähe und versorgt ihn mit einem neuen Schlauch. Als Nina und Obi an diesem Tag gemeinsam über die Ziellinie fahren, sind sie heilfroh, dass sie die Etappe überstanden haben.
Auch wenn Nina und Oli die Transalp als Mixed-Team bestreiten, radeln sie nicht die ganze Zeit zusammen. Obi fährt schneller bergab, Nina ist bergauf im Vorteil. Jeder fährt sein Tempo, beide warten aufeinander an ausgemachten Punkten. Eine weit verbreitete Methode: Viele Teams treffen sich beispielsweise an der Verpflegungsstation. Man kann zwar auch alleine ins Ziel fahren – gewertet wird dann allerdings der langsamere Teamfahrer. Und seit 2019 können auch Einzelstarter an der Transalp teilnehmen. Sie stellen inzwischen mehr als 40 Prozent der Angemeldeten. Selbst wer alleine startet, lernt schnell gleichstarke Mitfahrer kennen. Auf der Strecke treffen sich Teilnehmer mit ähnlicher Leistungsstärke immer wieder. Die TOUR Transalp ist auch ein soziales Event: Ständig kommen Radfahrer im Ziel auf Nina und Obi zu, klatschen sie ab und kommentieren die gemeinsam bewältigte Etappe.
Ob Einzelstarter oder Teamstarter: Alle haben Respekt vor Tag vier, der Königsetappe der diesjährigen Transalp über 3000 Höhenmeter. Wie jeden Morgen stellen sich Nina und Obi in den Startblock B. Schon am ersten Berg merkt Obi, dass er heute starke Beine hat. Den Passo Brocon erklettert er noch gemeinsam mit Nina, danach fahren sie getrennt weiter – Nina geht die Abfahrten bewusst defensiv an. Es wartet einer der schönsten und anstrengendsten Anstiege der gesamten Strecke: Der Monte Grappa ist mit 1580 Höhenmetern am Stück ein echtes Schwergewicht. Schon kurz nach dem Beginn hinter dem kleinen Örtchen Caupo stellt sich die Straße mit mehr als zehn Prozent Steigung auf.
Die Sonne brennt vom Himmel, das Thermometer zeigt bald 30 Grad an, und es geht zunächst bei fünf bis sechs Prozent bergan. Die halb verblassten Schriftzüge auf der Straße erinnern noch an den Giro d’Italia. Die Straße schlängelt sich jetzt am kahlen Hang entlang und gibt den Blick auf die Ebene frei. Die Abfahrt vom Monte Grappa wird zur Fahrt in einen Glutkessel. In der tief gelegenen, dicht besiedelten Region staut sich die Hitze des Tages. Das Ziel liegt in der kleinen Gemeinde San Zenone degli Ezzelini, unweit von Bassano del Grappa. Die örtliche Gemeinde hat auf einer großen unbebauten Fläche ein schattenspendendes Zelt aufgebaut. Das Thermometer ist auf rund 34 Grad geklettert.
Nina und Obi haben in den Monaten vor der Transalp, zum ersten Mal in ihrem Rennradleben, gezielt trainiert. Das war für beide ungewohnt, weil deutlich weniger Kilometer, aber dafür intensive Intervalle im Trainingsplan standen. Nina begrüßt die Veränderung: “Ich mag es, wenn ich mich richtig abschießen kann. Ich denke, wir werden das auch irgendwie weiterführen”, sagt sie. Weil es rund um Halle an der Saale keine Berge gibt, sind sie viele Intervalle auf der Rolle gefahren. “Wir haben entschieden, dass es wichtig ist, sich an die Vorgaben zu halten, und das ist drinnen einfacher.” Ihr gutes Training macht sich bezahlt, das geschickte Ausnutzen von Windschatten hilft ebenfalls. “Wir hatten eine geile Gruppe”, sagt Nina im Ziel der sechsten Etappe. Mit acht Leuten haben sie auf den Flachstücken den Wind weggedrückt.
Stand vor dem Start das Durchkommen bei Nina und Obi noch an erster Stelle, wächst das sportliche Selbstbewusstsein nun von Tag zu Tag – und die Rangliste weckt den Ehrgeiz. So starten sie in Kaltern an der Weinstraße nicht nur mit Vorfreude, sondern auch mit großer Motivation auf die letzte Etappe. Die ersten Kilometer werden noch neutralisiert gefahren, aber sobald das Rennen eröffnet ist, treten Nina und Obi kräftig in die Pedale. “Wir sind heute mal Vollgas gefahren – alles, was geht. Mit einem 39er-Schnitt in den ersten Anstieg hinein”, erklärt Obi im Ziel. Sein Strava-Eintrag ist mit “GEEIIILLL!!!” überschrieben. Er hatte mit Nina abgesprochen, vorne mit der schnellen Gruppe zu fahren – während sie sich entschieden hatte, die letzte Etappe defensiv zu fahren. Die Zeit für die Etappe wird nicht am Ziel in Riva del Garda genommen, sondern aus Sicherheitsgründen schon nach 87 Kilometern auf dem letzten Berg. Die Ankunft in Riva ist dann eine doppelte Premiere für das Diasporal-Team: Zum ersten Mal sehen sie den Gardasee, und sie bekommen ihr erstes Finisher-Trikot der TOUR Transalp.
Die Aufregung vom Start: längst vergessen. Beide werden im Ziel von einem Gefühlsfeuerwerk durchflutet. Freude darüber, es geschafft zu haben, Stolz auf die eigene Leistung und auch etwas Wehmut, dass es schon vorbei ist. Obi hat das “Giro d’Italia-Feeling” gefallen, als in den Orten Menschen am Straßenrand standen und applaudierten. “Ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Wir hatten megagutes Wetter, haben ganz liebe Menschen kennengelernt und sind mächtig stolz, als Langstreckenathleten in einem Etappenrennen Platz 11 in der Mixed-Wertung geschafft zu haben!” Das lag sicher auch am gezielten Training, das den Blick der beiden auf den Radsport nachhaltig verändert hat. “Es war gut zu sehen, dass man auch mit weniger Training fit sein kann”, resümiert Nina. Der Leistungsvergleich mit ein paar Hundert anderen Frauen und Männern hat gezeigt: Nina und Obi können nicht nur lange, sondern auch schnell. “Es fetzt schon, Rennen zu fahren”, bringt es Nina auf den Punkt.