Die Radsporthistoriker waren sich einig: So einen Radsportler wird es nie wieder geben. Einen wie Eddy Merckx, der Tour, Giro, WM und Klassiker in Serie gewann – meist am Ende langer Soloritte. Es war in einer Zeit, als Sportfotografie noch weitgehend in Schwarz und Weiß aufgenommen wurde. In der Moderne sind große Radsporterfolge viel farbenfroher, wenn jetzt ein junger Mann als rechtmäßiger Erbe des Belgiers antritt: Tadej Pogacar, der sich im abgelaufenen Radsportjahr Trikots in Rosa und in Gelb sowie mit Regenbogenstreifen schnappte – mit geradezu lausbübischen Attacken, bei denen die Farben seines Trikots auch mal unter einer dicken Staubschicht verschwanden wie bei den Strade Bianche – bei denen er gleich im ersten Saisonrennen eine Solo-Fahrt hinlegte, wie sie im modernen Profiradsport als unmöglich galt.
Merckx hat seine Nachfolge quasi testamentarisch verfügt: “Es ist offensichtlich, dass er jetzt über mir steht. Es gibt keinen Zweifel mehr”, sagte Merckx der französischen Zeitung L’Equipe. Viel zu groß sei mittlerweile die Leistungsdichte im Profi-Radsport, viel zu wichtig die Rollen der Teams und Helfer, als dass man noch mit einer Fahrweise wie zu Zeiten von Eddy Merckx und Fausto Coppi zum Erfolg kommen könnte. Pogacar hat die Experten Lügen gestraft. Unmöglich Scheinendes möglich gemacht. Der 26-jährige Slowene ist der herausragende Vertreter einer neuen Rennfahrergeneration, die nicht ängstlich abwartet, sondern das Spektakel und das Risiko sucht – mit einer Fahrweise, die man in der Ära von Lance Armstrong und Christopher Froome kaum noch gesehen hatte.
Auch Pogacar hat starke Helfer an seiner Seite. Seine Equipe UAE Team Emirates gilt international als am stärksten besetzt – finanziert durch geradezu märchenhaften Reichtum aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo dank großer Vorkommen von Erdöl und Erdgas auch viel Geld für den Radsport aus dem Boden schießt. Doch Pogacar lässt seine Eskorte gerne früh zurück und sucht sein Heil in der Flucht. Seine Rekordfahrten in der Saison 2024 hat man eben zuletzt in der Ära von Fausto Coppi und Eddy Merckx gesehen.
Natürlich hat die Überlegenheit des stets lausbubenhaft auftretenden Radprofis auch Fragen und Zweifel verursacht. Es gab Diskussionen um mutmaßlich missbräuchliche Anwendung von Kohlenmonoxid. An der Ernsthaftigkeit der Dopingkontrollen in seiner Heimat Slowenien gab es laut internationalen Beobachtern durchaus Zweifel – aber der Slowene lebt mit seiner Lebensgefährtin Urska Zigart, ebenfalls Radprofi, in Monaco, wie viele der international besten Radsportler. Es mag Zweifel geben, aber es gibt keine Beweise, dass “Pogi” irgendetwas Verbotenes getan hat, um zum Überflieger der Szene zu werden – oder ob er etwas anderes tut als seine Konkurrenten. Und man sollte nicht vergessen: Eddy Merckx ist mehrmals beim Doping erwischt worden. Weitgehend folgenlos.
Letztlich gewinnt Pogacar auch, weil er das Risiko langer Solo-Ritte nicht scheut – er fährt oft nur wenige Momente deutlich schneller als die Konkurrenten, die sich das oft so früh im Rennen nicht trauen. Und er profitiert dann in der Folge davon, dass sich die Verfolger gegenseitig lähmen, niemand will die Arbeit für die anderen übernehmen – teamübergreifende Zusammenarbeit gibt es selten. Der Vorsprung wächst.
Es mag Leute geben, die empfinden Langeweile, wenn zu oft der Gleiche gewinnt. Aber Pogacar hat dem Radsport viel Spektakel geschenkt. Wer Spannung und Rennentscheidungen um Hundertstelsekunden auf den letzten Metern eines Rennens sehen will, kann sich ja Massensprints ansehen. Da mischt das Leichtgewicht aus Slowenien nicht mit. Aber vielleicht versucht er bald, auch hier die herrschende Radsportlehre zu widerlegen.
Bei Mailand-San Remo war er in dieser Saison als Dritter im Sprint mit Jasper Philipsen und Michael Matthews relativ nah dran am Sieg bei seinem vierten Monument. An Paris-Roubaix will er sich bald einmal versuchen. Olympiasieger war er noch nie – in diesem Jahr verzichtete er auf den Start in Paris. Dort schnappte sich dann Remco Evenepoel zweimal Gold in den Straßenwettbewerben. Im Jahr 2025 will Pogacar zum ersten Mal die Vuelta in Spanien gewinnen, das hat er bereits angekündigt. Und auch das Triple aus Gesamterfolgen bei Giro, Tour und Vuelta binnen einer Saison hält der Alleskönner nicht für unmöglich – aber erst später in seinem noch jungen Rennfahrerleben. Es gibt also noch viel zu tun für Tadej Pogacar – selbst nach einem Rekordjahr. Es wird spannend zu sehen, was er noch alles schafft.