Simon Geschke blickt mit TOUR auf seine Karriere zurück

Tim Farin

 · 29.11.2024

Simon Geschke jubelt nach seinem Solo auf der 17. Etappe der Tour de France 2015. Als Ersatzmann im Team eingesprungen, feiert er auf einer schweren Alpenetappe seinen größten Triumph
Foto: dpa/pa; David Stockman
Simon Geschke hat seine lange Karriere im Radsport beendet. Wir haben ihn nach seinem letzten Rennen zu Hause in Freiburg getroffen und mit ihm Bilder seines Lebens angeschaut.

Sohn eines Radsport-Idols

Jürgen Geschke (links) war selbst gefeierter Radsportler. Hier begleitet er seinen Sohn bei der Wahl zu Berlins Sportler des Jahres 2015Foto: Imago Images; Camera 4Jürgen Geschke (links) war selbst gefeierter Radsportler. Hier begleitet er seinen Sohn bei der Wahl zu Berlins Sportler des Jahres 2015

“Ich würde nicht sagen, dass mein Vater mich zum Radsportler erzogen hat. Aber er war maßgeblich daran beteiligt, dass ich den Sport wahrgenommen habe. Das ging ja kaum anders. Zwar war seine aktive Karriere schon lange vorbei, als ich auf dem Rad saß. Aber er war solch ein gefeierter Bahnradsportler, Weltmeister, Olympionike gewesen und dieser Sport in der damaligen DDR so groß, dass es noch immer in unserer Familie steckte. Und das merkte ich als kleines Kind ständig. Mit meinem Vater habe ich meine ersten Rad-Erfahrungen gesammelt, wir sind bei uns in Brandenburg mit dem Mountainbike herumgefahren. Richtig Lust bekam ich aber durch etwas anderes: den Boom um das Team Telekom, die neuen Helden Jan Ullrich und Erik Zabel, die ja auch aus der Ex-DDR kamen wie wir. Ja, ich wollte auch so berühmt sein wie die. Und ich hatte das Selbstbewusstsein, dass ich daran glaubte. Ich war zehn, elf Jahre alt, als ich mit dem Sport anfing, die ersten Rennen fuhr. Mein Vater sah, dass ich Talent hatte, er konnte das beurteilen. Natürlich war er ein anderer Fahrertyp gewesen, als ich es sein wollte. Ich fand immer nur den Straßenradsport faszinierend, er hatte die Leute mit Bahnsprints gefesselt. Aber vom Sport verstand er viel. Er führte mich spielerisch heran. Und dann schickte er mich nach Berlin zu seinem alten Verein, wo er Ehrenmitglied war und ich mich wirklich gut entwickeln konnte. Gleichzeitig beriet er mich während der folgenden Jahre, auch noch, als ich schon meinen eigenen Trainer hatte. Mein Vater hatte immer die richtige Expertise, und das hat mir auf meinem Weg bis zum Ende der U23 sehr geholfen. Dieses Interesse ist in unserer Familie übrigens Männersache. Meine Mutter und meine Schwester haben den Sport nicht betrieben und ganz sicher auch nicht jedes meiner Rennen mit Leidenschaft verfolgt. Aber bei der Tour haben sie dann schon zugeschaut. Ich weiß, dass mein Vater, selbst ein riesiger Fan des Straßenradsports, heute sehr stolz ist auf mich.”

Start in die Karriere bei Skil-Shimano

Der Einstieg in den Profisport gelang beim kleinen niederländischen Team Skil-Shimano. Geschke avancierte vom Amateur zum Tour-TeilnehmerFoto: Imago Images; GeisserDer Einstieg in den Profisport gelang beim kleinen niederländischen Team Skil-Shimano. Geschke avancierte vom Amateur zum Tour-Teilnehmer

“Ich hatte bis zum Ende der U23 einen klassischen Karriere-Aufbau und das Ziel Profisportler immer verfolgt, auch wenn es manchmal sehr hart war. In der Schule zum Beispiel, neben dem Gymnasium, ist das enorm kräftezehrend. Das Abi habe ich geschafft, nicht gut, aber zur Sicherheit. Das war ein steiniger Weg. Danach wurde es immer besser, ich habe Zivildienst an der Berliner Charité geleistet und mehr Zeit fürs Training bekommen, war danach in der U23 sogar noch in einer Sportförderkompanie der Bundeswehr. Ich hatte Zeit, mich zu entwickeln. Es ist der Wahnsinn, wie sich das innerhalb der vergangenen 15 Jahre verändert hat. Heute sind viele ­Junioren körperlich auf einem Niveau, das ich damals selbst am Ende der U23 kaum hatte. Es wird viel wissenschaftlicher gearbeitet, aber der Druck ist auch größer, man hat kaum noch die Zeit für eine geduldige Ausbildung. Ich war ein guter U23-Fahrer, aber nicht der Knaller. Zudem war ich Allrounder. Und das war auch ein Problem. Denn für deutsche Allrounder wurde es 2008, als ich mein letztes Ausbildungsjahr hatte, richtig eng. Die Dopingskandale – Fuentes und alle danach – hatten gerade in Deutschland die Strukturen zerstört. Das alte Telekom-Projekt war Geschichte, Gerolsteiner machte zu, der Markt war voll mit gestandenen Konkurrenten. Ein ähnlicher Fahrertyp wie ich, Paul Voß, ging damals zu Milram – doch auch da war bald Schluss. Ich bekam dort die Absage, hatte aber das Glück, dass ich über meinen Freund Henning Bommel auch Robert Wagner kannte, der damals bei Skil-Shimano fuhr. Der wiederum schrieb mir ein paar Wochen später: “Hast du schon was?” Er stellte Kontakt mit Iwan Sprekenbrink her, dem Teamchef der niederländischen Mannschaft, wir trafen uns bei der WM in Varese und er gab mir einen Vertrag. Ich habe nicht groß verhandelt, dafür gab’s keine Basis, aber ich bin sehr froh, dass ich diesen Vertrag unterzeichnet habe. Fast zehn Jahre war das Team meine Heimat. Innerhalb von einem Jahr sprang ich vom Amateurniveau zur Tour de France, und genau wie das ganze Team war ich zuerst überfordert, konnte aber schnell sehr viel lernen. Das hat viel mit Merijn Zeeman zu tun, der als Trainer enorme Aufbauarbeit geleistet hat. Ich bin sehr dankbar für diese Zeit.”

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Karriere als Edelhelfer

Geschke war später mit Vollbart unter den Helfern im Peloton leicht zu erkennen. Hier eskortiert er Tom Dumoulin bei dessen Giro-Sieg 2017Foto: Getty Images; Tim de WaeleGeschke war später mit Vollbart unter den Helfern im Peloton leicht zu erkennen. Hier eskortiert er Tom Dumoulin bei dessen Giro-Sieg 2017

“Es hat meine Karriere schön gemacht, dass ich nie gezögert habe, wenn es ums Helfen ging. Ich habe mich für andere eingesetzt. Das haben die Teams gemerkt. Ich vermute, das hat mich auch als Neo- Profi direkt zur Tour gebracht. Ich konnte zwar auch mal eigene Ergebnisse einfahren, geschätzt hat man an mir aber, dass ich mich Tag für Tag komplett entleeren konnte für den Erfolg eines anderen. Es gibt da schon Unterschiede: Wenn Fahrer als Helfer agieren und am Ende selbst noch 15. auf einer Etappe werden, müssen sie ja etwas zurückgehalten haben. Bei mir war das anders: Ich war froh, wenn ich es überhaupt noch ins Ziel geschafft habe. So war es zum Beispiel mit Tom Dumoulin, für den ich mehrmals ein wichtiger Helfer bei Rundfahrten war. 2017, als Tom den Giro gewann, war ich eigentlich gar nicht vorgesehen, ich hatte es mit dem Training im Frühjahr über­zogen. Dennoch kam ich dazu, weil Tom mich als Helfer schätzte. Viele Helfer ­machen, weil sie ihrer Rolle gerecht werden wollen, dumme Sachen: Sie drücken zu sehr aufs Tempo und schaden damit ihrem Leader, oder sie überblicken nicht die Rennsituation. Ich war relativ clever, habe uns zum Beispiel mal an Kuppen vor der Abfahrt nach vorne gebracht. Wenn der Leader einen schweren Tag hatte, kalkulierte ich das ein. Damals, beim Giro, ging es mir überraschend gut, auf einer Etappe musste ich mehrfach auf Tom warten. Es war wichtig, dass ich mich in ihn hineinversetzen konnte, dass ich in Reichweite blieb. Helfen hat mich ausgezeichnet, auch für John Degenkolb und Marcel Kittel habe ich das gemacht, und das sogar in Rennen, die mir eigentlich nicht so sehr lagen. Das Schöne daran: Ich hatte immer ein wirklich attraktives Rennprogramm, war zwölfmal bei der Tour. Darauf kann ich stolz sein, ich ­blicke auf eine erfüllte Karriere.”

Solo zum Erfolg

Auf dem Weg nach Pra-Loup in den französischen Alpen wagte es Geschke 2015, gegen starke Konkurrenten anzugreifen – und belohnte sichFoto: dpa/pa; RothAuf dem Weg nach Pra-Loup in den französischen Alpen wagte es Geschke 2015, gegen starke Konkurrenten anzugreifen – und belohnte sich

“Wenn ich die Bilder von meinem einzigen Etappensieg bei der Tour de France sehe, setzt das immer noch Endorphine frei. Wenn ich als Zwölfjähriger ein Drehbuch hätte schreiben können, dann hätte ich das genau so gemacht. Okay, vielleicht hätte ich mich zum Tour-Sieger fantasiert. Aber Spaß beiseite: 2015, auf dem Weg durch die Alpen, da befand ich mich in einer herausragenden Konstellation. Ich war oft in meiner Karriere nahe dran an solchen Erfolgen, aber auf dem Weg nach Pra-Loup merkte ich, dass ich meine Chance in der Attacke suchen musste. Ich wusste, dass auch andere Fahrer in der Spitzengruppe stark waren, bergauf sogar viel besser als ich. Deshalb habe ich angegriffen. Und ich habe den Vorsprung ins Ziel gerettet. Das war eindeutig der größte Triumph meiner Karriere, es gibt nichts Schöneres. Man muss es einordnen: Für einen Fahrer wie mich gibt es nicht viele Gelegenheiten in einer Karriere, solche Tour-Etappen zu gewinnen, viele kommen nie auch nur in die Nähe – trotz starker Laufbahnen. Zwei Jahre vorher war ich schon mal in einer Spitzengruppe und hatte Siegchancen, aber im Sprint hatte ich dann keine Chance. Zwei Tage vor meinem Etappensieg in Pra-Loup hatte ich es auch versucht, da bin ich am Ende Vierter geworden. Ich wusste: Jetzt oder nie, ich bin stark, ich muss es probieren! In der Spitzengruppe waren Kletterer wie Richie Porte und Adam Yates. Also habe ich mich 50 Kilometer vor dem Ziel davongemacht. Ich hätte meine Chance an diesem Tag – objektiv – auf zehn Prozent geschätzt. Aber es hat geklappt. Das war einzigartig, und danach wurde es auch schwieriger für mich. Denn jeder wusste jetzt, dass ich das Zeug für einen Etappensieg in den Alpen hatte.”

Die bleibende Enttäuschung

Ein Heldenritt endete bitter. Simon Geschke trug 2022 auf neun Etappen der Tour de France das rot gepunktete Bergtrikot, gab die Wertung aber aus der HandFoto: Getty Images; Michael SteeleEin Heldenritt endete bitter. Simon Geschke trug 2022 auf neun Etappen der Tour de France das rot gepunktete Bergtrikot, gab die Wertung aber aus der Hand

“Dieser Moment wird mich bis an mein Lebens­­ende ärgern. Ich bin geschlagen, ich ­weine, es ist die 18. Etappe der Tour 2022, die letzten relevanten Bergpunkte sind vergeben. Dass ich bei der Tour das Bergtrikot so kurz vor dem Ende verloren habe, war aus sportlicher Sicht eine riesige Niederlage. Man könnte zwar sagen: Ich bin einfach nur froh, das Trikot mal getragen zu haben, kein anderer Deutscher hatte es so lange wie ich. Aber ich hatte damals eine wahnsinnig große Chance, Sportgeschichte zu schreiben – und eigentlich hätte ich das auch schaffen müssen. Ich hatte meine Form schon bei der Tour de Romandie gezeigt, die Beine und den passenden Punktevorsprung hatte ich vor der letzten Bergetappe auch. Aber ich bin an Kleinigkeiten gescheitert. Ich hätte beispielsweise ein paar Tage davor auf dem Weg nach Mende nicht in der Ausreißergruppe bleiben sollen, das war ein harter Kampf bei Hitze, der mir nur drei Punkte gebracht hat. Solche Tage darf man sich bei der Tour nicht erlauben, wenn man am Ende die Kraft noch braucht. Und an dem Tag, als ich das Bergtrikot an Jonas Vingegaard verloren habe, hat sich mein Team auch nicht gerade clever angestellt. Die Sport­lichen Leiter wirkten nervös, meine Teamkollegen auch, und dadurch haben alle zu viel gemacht. Am Berg hatte ich das Gefühl, dass ich rückwärtsfahre. Ich hätte gern eine Zeitmaschine und würde mit dem Wissen von heute noch mal zu dieser Tour fahren.”

Noch einmal im Rampenlicht

Beim Giro 2024 fuhr Geschke als Leader und war überraschend stark. Er trug stellvertretend für Tadej Pogacar (in Rosa) das blaue Berg­trikotFoto: Getty Images; Dario BelingheriBeim Giro 2024 fuhr Geschke als Leader und war überraschend stark. Er trug stellvertretend für Tadej Pogacar (in Rosa) das blaue Berg­trikot

“In meiner letzten Saison wollte ich es noch mal wissen, und gerade der Giro d’Italia war für mich immer etwas ganz Besonderes – da wollte ich in Top-Form sein. Ich habe mich so akribisch vorbereitet wie lange nicht mehr, habe mehrere Höhentrainingslager gemacht, beim Krafttraining noch mal zugelegt und auch die Erholung sehr ernst genommen. Ich bekam ja in meinem Team recht unverhofft die Rolle des Kapitäns für diese Rundfahrt, bei Cofidis hatten wir vorher keinen klaren Leader festgelegt. Es war das erste Mal, dass ich bei einer Grand Tour selbst aufs Gesamtklassement gezielt habe, und das hat hervorragend funktioniert. Meine Form war genauso gut wie vor 2022, mit inzwischen 38 Jahren konnte ich gut mit der Weltspit­ze mithalten. Rang 14 beim Giro war am Ende ein schönes Ergebnis, genauso schön bleiben die Erinnerungen an die Fahrten im Blauen Trikot des Bergbesten. Das trug ich allerdings nur als Stellvertreter für Tadej Pogacar, der ja schon gleich am Anfang der Rundfahrt die Bergwertung für sich reklamiert hatte. Ich hatte nie die Illusion, ihm dieses Trikot abzujagen. Es war schön, dass ich überhaupt mit Leuten mithalten konnte, die aus einer anderen Radsport-­Generation kommen. Gefühlt fanden meine erste Grand Tour und mein letzter Giro in zwei völlig unterschiedlichen Radsport-Welten statt, die jungen Fahrer sind mit Anfang 20 fertige Athleten, wissenschaftlich top ausgebildet, nach Talent gescoutet aus der ganzen Welt. Aber irgendwie hatte ich es immer noch geschafft, dranzubleiben. Das hatte ich mir bewiesen, und das war ein schöner Erfolg zum Ende.”

Zeit für die Familie und mehr Freiheit

Im Oktober 2024 beendet Geschke seine Karriere in Münster, mit seiner Ehefrau Sophie erwartet er ein Kind - und investiert in ein Freiburger HotelFoto: dpa/pa; RothIm Oktober 2024 beendet Geschke seine Karriere in Münster, mit seiner Ehefrau Sophie erwartet er ein Kind - und investiert in ein Freiburger Hotel

“Ich habe zum Glück einen perfekten Rahmen gefunden, um auf hohem Niveau aus dem Sport auszusteigen. Es war ein guter Abgang. Jetzt bin ich froh, dass ich etwas Neues anfangen kann. Es war eher Zufall, dass sich alles so gefügt hat. Sophie und ich haben im vergangenen Sommer geheiratet, jetzt haben wir auch noch Nachwuchs bekommen – es könnte nicht besser sein, denn ich komme sozusagen direkt aus dem Vollzeitprofisport in die Vaterrolle. Dafür möchte ich mir Zeit nehmen, möchte für die beiden erst einmal da sein und in Ruhe ankommen. Es gibt für die kommenden Monate darüber hinaus keinen Plan, keinen Zwang, irgendwas Berufliches zu starten. Aber klar ist auch: Ich möchte dem Radsport verbunden bleiben und werde nicht für mehrere Jahre von der Bildfläche verschwinden. In einem halben, vielleicht einem Jahr werde ich mich um neue Rollen in diesem Sport kümmern. Er ist mir wichtig, und ich glaube, dass ich hier viel weitergeben kann. Parallel zu meinem Karriereende habe ich schon eine neue Sache vorangebracht. In Freiburg habe ich mich mit Hoteliers zusammengetan, um Höhentrainingslager ohne große Anreise möglich zu machen. Wir haben im Bikehotel in Freiburg zwei Apartments mit einer Hightech-Anlage versehen und ermöglichen es den Besuchern, im Schwarzwald die Effekte eines Aufenthalts auf dem Teide oder in der Sierra Nevada zu simulieren. Das war ein persönliches Investment, von dem ich überzeugt bin – weil ich es selbst schon in der Vorbereitung auf meinen letzten Giro genutzt habe. Meine Karriere hat mich erfüllt. Ich freue mich auf die Zeit, die vor mir liegt.”

Simon Geschke - zur Person

Simon Geschke (13. März 1986, Ost-Berlin) startete beim Berliner TSC in den Nachwuchs, wo auch sein Vater aktiv gewesen war. 2008 war er Stagiaire beim deutschen Team Milram, 2009 stieg er bei Skil-Shimano (später andere Sponsoren) in den Profisport ein und blieb dort ein Jahrzehnt. Nach zwei Jahren bei CCC beendete er seine Laufbahn bei Cofidis (2021–24). Geschkes erster Profisieg gelang beim Criterium International 2011. Sein größter Erfolg war ein Tour-Etappensieg 2015. Geschke bestritt zwölfmal die Tour, den Giro viermal und die Vuelta fünfmal.

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