Als Peter Segeroth nach Köln zog und wieder mit dem Rennradfahren loslegte, hatte der damals 49 Jahre alte IT-Projektmanager bald keine Lust mehr auf Alleinfahrten. Es war 2017, er suchte Anschluss an eine Gruppe, recherchierte im Internet und fand das Angebot eines Vereins mit italienischem Namen. “Als ich zum ersten Mal zur Cappuccino-Runde gefahren bin, war ich überrascht, wie viele Leute da an der Severinstorburg standen”, erinnert sich Segeroth an sein erstes Treffen mit der Scuderia.
“Es war schön zu sehen, wie dann von diesem Platz aus Gruppen in verschiedene Richtungen fuhren, wie sich das alles wie von selbst organisierte”, sagt der Mann, der längst Mitglied sowie seit 2021 im Vorstand ist und die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins managt. Segeroth suchte nach einer Möglichkeit, nicht mehr nur auf eigene Faust durchs Umland zu fahren, und fand die Lösung mitten in der Stadt. Die Ausfahrten der Scuderia mit Start und Ziel in der wuseligen Südstadt sind Fixpunkte für Kölner, die nach Gesellschaft im Sattel suchen. In diesem Veedel, kölsch für “Viertel”, liegt eines der Epizentren der Stadt, hier ist die Kneipendichte hoch und der Karneval besonders feierlich.
Auslöser für den Aufschwung des Radsports an dem Ort, wo traditionell der Rosenmontagszug startet, war der Wunsch von ein paar Hobbysportlern nach einem Team. Als der Gymnasiallehrer Ole Buckendahl und ein Freund 2010 auf die Teilnahme bei Rund um Köln zielten, wollten sie sich als Mannschaft statt als Einzelstarter melden. Da sie aus der Kölner Südstadt kamen, suchten sie einen geeigneten Teamnamen.
Der italienische Migrationshintergrund ist in diesem Stadtteil stark, und so kamen sie auf “Scuderia”, das italienische Wort für “Rennstall”. Etwas Formelles zu gründen, hatten sie zunächst gar nicht im Sinn – aber das änderte sich bald. “Manche wollten Lizenzrennen fahren, es kamen Versicherungsfragen auf, da haben wir eben einen Verein gegründet”, sagt der 42 Jahre alte Buckendahl. Dieser Schritt liegt zehn Jahre zurück. Inzwischen hat die Scuderia mehr als 200 Mitglieder.
Bei meiner ersten Cappuccino-Runde war ich überrascht, wie viele Leute da an der Severinstorburg standen. - Peter Segeroth, Vorstandsmitglied
Ein Sonntagnachmittag Anfang März in einem alten Industriegebiet im rechtsrheinischen Köln-Mülheim, wo inzwischen ein Kultur- und Arbeitsquartier wuchert. Vor der Filiale einer Kölner Kaffeefirma stehen Pokale auf Terrassentischen. Bald darauf kommt ein Grüppchen Frauen und Männer auf Gravel- und Cross-Rädern auf den Parkplatz gerollt, sie alle tragen Trikots in Blau und Gelb und haben gerade ihre finale Tour der Winterzeit gemacht – bei frühlingshaften Bedingungen. “Wir feiern hier heute zusammen den Abschluss der Cross-Saison, weil wir viele sportlich Aktive haben, aber vor allem auch viele Leute, die uns anfeuern und tatkräftig unterstützen”, sagt Christian Höfener, 48, ein Vertriebler für Sportartikel, der sich mit dem Querfeldein-Sport bei der Scuderia Südstadt befasst.
Die Cross-Sparte des Vereins ist erst seit ein paar Jahren herangewachsen, aber sie ist sehr lebhaft. Etwa 30 Aktive aus dem Verein seien im zurückliegenden Winter bei Cross-Rennen mitgefahren, sagt Höfener, viel größer sei noch die Beteiligung der Scuderia-Mitglieder als Streckenposten und Unterstützer. Der Verein hat ein eigenes Cross-Rennen im NRW-Cross-Cup ausgetragen. “Das können wir aber nirgendwo in Köln umsetzen, die Behörden erlauben das nicht”, sagt Höfener. In den Parkanlagen und Grünflächen der Stadt herrscht zu viel Konkurrenz mit Hundehaltern, Spaziergängern, Naturschutz und bürokratischen Widersachern. Also weicht man in eine Stadt westlich von Köln aus, nach Pulheim. Höfener sagt mehrfach das Wort “Community”.
“In der Scuderia machen wir so viele verschiedene Sachen, du hast die Chance, dich da immer einzusortieren und einzubringen – das ist Community.” Hinzu kommt sportlicher Erfolg. Beim NRW-Cross-Cup stellte die Scuderia im vergangenen Winter das beste Team. 2022 feierte der Kölner Verein gar einen EM-Titel: Im belgischen Namur hatte Katrin Iglhaut das Rennen der Klasse 35–39 Jahre gewonnen.
Auch Katharina Garus hat der Scuderia schon einige Erfolge eingebracht. Die 42 Jahre alte Redakteurin gewann bei der UCI-Masters-WM im Cyclocross in Hamburg 2023 die Bronzemedaille. Zur Scuderia kam sie vor gut fünf Jahren aus der Not. Weil sie nach etlichen Jedermann-Rennen Lust auf Lizenzsport hatte, war sie auf der Suche nach einem sportlichen Verein in Köln. “Ich hatte damals die Vorstellung, da findet sich bestimmt ein Verein mit Frauenradteam – aber das gibt es halt nicht”, erinnert sich Garus. Stattdessen fahndete sie anders weiter, nun nach einem Klub, der ihrer Lebensart entgegenkam. “Ich dachte: Südstadt, das ist mir sympathisch. Ich wollte keine klassische Vereinsmeierei, aber hatte schon Lust auf einen modernen Verein, in dem sich die Leute engagieren.”
Die Scuderia machte auf sie damals einen aufgeschlossenen Eindruck. Das hat sich bestätigt. “Ich glaube, dass bei uns die Quote der Engagierten extrem hoch ist und dass wir kaum Karteileichen haben”, sagt Garus. Hört man sich bei der Scuderia um, so scheint das an den verschiedenen Themengebieten zu liegen, die sich die Vereinsmitglieder erschließen, sowie an einer Vereinskultur, in der Ideen Platz zur Umsetzung finden: Cross-Rennen fahren und auch selbst organisieren, Ausfahrten für verschiedene Niveaus und E-Cycling-Termine austragen, den Lizenzrennsport vorantreiben – all das ist in den vergangenen Jahren passiert, lanciert von einzelnen Mitgliedern und nicht etwa nur von wenigen Leuten im Zentrum.
Wir sind inzwischen aktiv im Verbandssport und stützen den organisierten Sport auch mit Beiträgen. - Ole Buckendahl, Gründer und Präsident
Die Scuderia Südstadt ist nicht nur direkt in einem der lebhaftesten Viertel Kölns entstanden und zu Hause. Sie ist geprägt von dieser Herkunft, ihre Mitglieder betonen das “Südstädtische”. Diese Gegend ist eine Mischung aus tiefer kölscher Tradition und viel Offenheit für “Immis”, wie man in Köln die Einwanderer nennt – egal ob sie aus Troisdorf oder Tonga kommen. Die Menschen wählen überwiegend Grün, hier kam der Schriftsteller Heinrich Böll her, das Viertel ist Heimat des politisch aktiven Musikstars Wolfgang Niedecken und des sozialliberalen ehemaligen Bundesministers Gerhart Baum – mehr muss man über die gesellschaftliche Stimmung hier kaum sagen.
Der Verein tritt ebenfalls gesellschaftlich aktiv und auf Basis von Werten auf, wie Garus sagt. Sie gehörte einem Team an, das im Auftrag der Mitglieder ein neues Leitbild für die Scuderia erarbeitet hat. “Wir haben hinterfragt, wofür wir stehen wollen”, sagt Garus, “es ist uns wichtig, dass wir diese Aspekte und Werte verbindlich festlegen.” Herausgekommen ist ein Papier, das den Verein in seinem Wesen beschreiben und auch auf ethische Prinzipien eichen soll. Rassismus, Sexismus, Gewalt und Antisemitismus werden explizit ausgeschlossen. Schon zuvor hat sich der Verein den Auftrag gegeben, Prävention gegen sexualisierte Gewalt im Sport zu betreiben – ein Thema, zu dem Peter Segeroth auch in einem Team der Scuderia arbeitet und das im Vereinssport immer relevanter wird.
Als Ole Buckendahl mit seinen Freunden vor gut 14 Jahren eine informelle Scuderia startete, die ersten Treffs im Internet ausschrieb, hatte er keine Berührungspunkte mit dem organisierten Radsport. “Inzwischen kann man schon sagen, dass wir aktiv sind im Verbandssport und dass wir den organisierten Sport mit unseren Beiträgen stützen”, sagt Buckendahl. Die Scuderia Südstadt hat einen Vertreter im Vorstand des Radsportbezirks, sie hat mitgeholfen bei den Social-Media-Aktivitäten im organisierten Radsport und auch im Verein, der die Kölner Radbahn betreute. Im Nachwuchs ist die Scuderia selbst noch nicht so recht gewachsen, aber für die Jugendförderung setzt sie sich auf der anderen Rheinseite ein.
An einem Gymnasium in Köln-Deutz hat die Scuderia eine Radsport-AG aufgebaut und betreut die Jugendlichen. Der “Presidente”, wie er in der Scuderia genannt wird, sieht einen starken “Idealismus” bei den Mitgliedern. Der wuchs weiter zu einem Verein, der klassischen Lizenzsport betreibt, der sogar sein eigenes Kriterium austrägt. “Das war am Anfang gar kein Thema für uns, aber die Leute kamen zu uns – und daraus sind die Colonia Kids entstanden.”
Das Team und die Scuderia organisieren in Köln-Poll ihr eigenes Kriterium, das Wahoo Rival Crit. Es soll einen modernen Radsport verkörpern. “Der Aufwand ist riesig, aber es ist ein cooles Rennen, und wir schaffen es, ein breites Spektrum anzusprechen – bis hin zu den Jugendklassen und einem Hobbyrennen für Frauen”, sagt Laura Polaczek, die bei der Scuderia den Lizenzsport betreut.
Im Verein hört man häufig, dass es nicht ums Wachstum geht. Aber in einem Segment möchte die Scuderia doch gern mehr Menschen mitnehmen. “Man muss in die Köpfe der Frauen kommen”, sagt Polaczek. Die 37-Jährige weiß, dass es gerade in Köln nicht an Rennradfahrerinnen mangelt. Aber der Schritt in Radsportvereine sei groß. “Viele Frauen trauen sich das Fahren in der Gruppe nicht zu, haben Hemmungen.” Deshalb bietet Polaczek, im Hauptberuf Architektin, gemeinsam mit Teamkolleginnen einen wöchentlichen Termin für Frauen an.
Etwa 20 Radfahrerinnen seien bei den Ausfahrten regelmäßig gemeinsam aktiv, “Testosteron spielt dabei keine Rolle – ich bin mir sicher, dass wir auf diese Weise zugänglicher werden”, sagt Polaczek. Im Mittelpunkt des “Women’s*Wednesday” steht die “Integration von Frauen ins breite Spektrum der Scuderia”, sagt sie. Darin unterscheidet sich der Verein im Fokus von aktivistischeren Teams wie etwa den Cyclits aus Köln, die sich ausgemacht feministisch und aktivistisch präsentieren.
Wir haben viele sportlich Aktive, aber vor allem auch viele Leute, die uns tatkräftig unterstützen. - Christian Höfener, Vorstandsmitglied und Cross-Wart
Die Ausfahrten unter Frauen ebenso wie die wöchentlichen Runden mit Start am Chlodwigplatz bilden den Kern der Scuderia. So etwas findet man gerade in Großstädten sonst schwer. Hier starten die Touren mitten im historischen Stadtgebiet. Zudem sind sie offen für Nichtmitglieder. Während der Coronapandemie und wegen der Kontaktverfolgungsregeln hat der Verein sich zudem ein Angebot im Netz gebaut, das immer noch und immer stärker genutzt wird. Inzwischen greift auch ein anderer Verein aus Köln auf die Software zurück. Die Touren der Scuderia finden sich in diesem “Meetup-Planner”, der ebenfalls ohne Vereinsmitgliedschaft funktioniert.
“Das Tool hat sich bewährt – und die überwiegende Mehrheit der Leute, die zu den Ausfahrten kommen, meldet sich tatsächlich an”, sagt Peter Segeroth. So zeigt sich bei Start und Ziel, aber auch im Digitalen, wie aktiv die Scuderia ist. Um vom Mitfahrer zum Mitglied zu werden, gilt es allerdings eine Schwelle zu überwinden – das sogenannte “Assessment”. Darauf weist Vereinschef Buckendahl hin. Die Scuderia lässt nur Menschen in ihre Reihen, die von drei Mitgliedern eine Empfehlung bekommen haben.
“Wir wollen, dass die Leute zu uns passen und dass die Mitglieder sich auch untereinander kennen”, sagt der Präsident. Man lernt sich also beim Training kennen, spricht, danach erst gibt es Chancen. Denn das Gemeinsame ist nicht nur beim Fahren wichtig, sondern auch hinterher. Die Scuderia bezeichnet sich seit ihrer Gründung als “Thekenmannschaft”, und das soll auch so bleiben. Nach den Ausfahrten gehört ein Stopp in der Südstadt-Kultkneipe “Ubierschänke” fest zum Programm. Und der größte Teil der Sportlerinnen und Sportler, sagen die Scuderisti, komme auch hinterher mit zum Kölsch.