Es war mehr drin. Das wird auch Robert Gesink selbst seit dem Abschluss der diesjähirgen Vuelta desöfteren gedacht haben. Er wird es nicht auf diese eine Spanien-Rundfahrt beziehen, die nach 18 Jahren als Profi sein letztes Rennen war. Auf eigene Rechnung ist der Niederländer schon lange nicht mehr gefahren. Vielmehr wird er es in Bezug auf seine gesamte Karriere sehen. Denn die begann äußerst vielversprechend, verlor aber an Schwung, bevor sie überhaupt ihren Höhepunkt erreichte.
Der heute 38-Jährige macht dafür zwei Ereignisse verantwortlich, wie er dem niederländischen Radsportportal Wielerflits sagt. Im Herbst 2010 stirbt sein Vater nach einem schweren Sturz in einem Mountainbike-Rennen. “Getrieben von einem Hass auf Alles und Jeden habe ich danach wie ein Verrückter trainiert”, schildert er seine Gefühlslage. Anfangs zahlte sich das noch aus. “Ich bin sehr stark aus dem Winter gekommen, habe die Oman-Rundfahrt gewonnen, war Zweiter bei Tirreno-Adriatico und Dritter bei der Baskenland-Rundfahrt.” Doch dann ist die Luft raus.
Gesink deutet im Rückblick Burnout-Symptome an. “Ich war geschafft und bin einem ordentlichen Tief gelandet. Ich hatte mir nicht die Zeit gegeben, alles zu verarbeiten. Der Schmerz ging nie ganz weg”, sagt er, und ergänzt: “Das Fahrrad hat mir viel gegeben, aber leider auch manchmal sehr viel genommen.“
Vor dem Unglück um seinen Vater war Gesink eines der am heißesten gehandelten Rundfahrt-Talente, was er seit der Unterschrift unter seinem ersten Profivertrag regelmäßig nachweisen konnte. 2007 war sein erstes Jahr im Eliteteam von Rabobank, zuvor war er bereits ein Jahr in der angeschlossenen Kontinentalmannschaft unterwegs gewesen, wurde dort Zweiter der Tour de l’Avenir. Seine Debütsaison bei den Profis sah bei der Tour of Belgium auch seinen ersten Etappensieg. Die damals noch deutlich schwere Deutschland Tour beendete er als Vierter der Gesamtwertung, kurz darauf wurde er Zweiter der Polen-Rundfahrt.
Im Jahr darauf startete Gesink mit einem Tagessieg bei der Tour of California und Rang vier bei Paris-Nizza in die Saison. Den Fleche Wallonne beendete er als Vierter. Bei den Olympischen Spielen in Peking fuhr er sowohl im Zeitfahren als auch im Straßenrennen in die Top 10. Kurz darauf nahm er seine erste Grand Tour in Angriff und beendete die Vuelta als Siebenter.
Im Rabobank-Team stieg Gesink neben Denis Menchov 2009 zum Kapitän für die Rundfahrten auf, was vor allem an Rang vier beim Criterium du Dauphine kurz vor der Tour de France lag. Für die Frankreich-Rundfahrt bedeutete das für den 22-Jährigen nicht weniger als eine Rolle mit reichlich Aufmerksamkeit und erstmals auch einem gewissen Druck. Doch bevor das Abenteuer so richtig begann, war es auch schon wieder vorbei. Gesink stürzte auf der 5. Etappe und schleppte sich mit gebrochenem Handgelenk noch ins Ziel, trat am nächsten Tag aber nicht mehr an.
Besser lief es bei der Vuelta, allerdings machte auch dort ein Sturz ein noch besseres Ergebnis zunichte. Denn nach der 13. Etappe hatte sich Gesink bis auf Platz zwei der Gesamtwertung vorgearbeitet, nach einem schweren Tag in der Sierra Nevada mit einer Bergankunft keine halbe Minute Rückstand auf den Führenden Alejandro Valverde. Bis auf die 19. Etappe verteidigte der Niederländer diese Position. Doch ein erneuter Crash zwei Tage zuvor hatte den Niederländer so geschwächt, dass er auf der letzten Bergetappe sowie im Zeitfahren am vorletzten Tag nicht mehr mit den Allerbesten mithalten konnte und noch auf Rang sechs abrutschte.
Dennoch hatte er damit bewiesen, dass er in die Riege der besten Rundfahrer seiner Generation aufgestiegen war. Ein Sieg beim Giro dell’Emilia im Oktober und Platz sechs beim Giro bestätigten das auch für die hügeligen Klassiker.
Und so ging Gesink in sein Schicksaljahr 2010. Alles war auf die Tour ausgelegt. Dass die Form passt, bewies er bereits bei der Tour de Suisse. Mit einem Solo-Etappensieg an der Bergankunft in La Punt übernahm er auch die Führung in der Gesamtwertung, wirkte vor dem Abschlusszeitfahren bereits wie der sichere Sieger. Ein äußerst schwacher Tag im Kampf gegen die Uhr ließ den 24-Jährigen aber doch noch auf Platz fünf abrutschen.
An seiner exponierten Rolle für die anstehende Tour änderte das aber nichts. Und nach Anlaufschwierigkeiten konnte der Niederländer seine Form auch in Frankreich bestätigen. Er kämpfte sich sukzessive nach vorne beendete die Rundfahrt als Sechster, wurde aber durch die nachträgliche Disqualifikation seines Teamkollegen Menchov und dem vermeintlichen Sieger Alberto Contador noch auf Rang vier gestuft.
“Wie Robert dort herumfuhr, dachte ich wirklich, dass dieser Junge in zwei Jahren unschlagbar sein würde”, erinnert sich sein damaliger Trainer Louis Delahaije, zuletzt Cheftrainer der Deutschen Triathlon Union, bei Wielerflits zurück. Und er war nicht der einzige, der in Gesink einen potenziellen, beinahe designierten Tour-Sieger sah.
Doch dann kommt alles anders. Nach dem “Wut-Frühjahr” 2011 zieht die Tour im Sommer nur so an Gesink vorbei. Er wird 30. Zwar fährt er zwischendurch im Weißen Trikot des besten Jungprofis. Doch auch in diesem Rennen stürzt er, zieht sich eine Rückenverletzung zu. Auf dem ersten Teilstück in den Pyrenäen kassiert er mehr als 17 Minuten Rückstand, das Rennen ist gelaufen.
Dennoch scheint es, als könnte er sich langsam wieder aus seinem Loch herausarbeiten. Beim Grand Prix de Quebec ist nur Philippe Gilbert besser und so peilt Gesink die Weltmeisterschaft an, um sich auf dem eigentlichen Sprinterkurs, den Mark Cavendish schließlich als Sieger verlassen wird, vielleicht über eine Gruppe für ein schweres Rennen sorgen zu können. Doch soweit kommt es nicht.
In der Vorbereitung auf die WM trainiert Gesink auch auf Kopfsteinpflaster. Als er abbremst, um einem Auto die Vorfahrt zu gewähren, stürzt er. Obwohl seine Geschwindigkeit niedrig war, ist die Verletzung schwer: ein komplizierter Bruch im Oberschenkel. Zwar ist die folgende Operation erfolgreich, doch seine Biomechanik kann nicht vollständig wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt werden, es bleiben kleine Abweichungen im Bewegungsapparat. Und die sind fatal.
Der Niederländer muss neu laufen und Radfahren lernen. Die volle Power kehrt nie wieder in das lädierte Bein zurück. “Dann bin ich immer mit zwei verschiedenen Beinen im Kraftraum gefahren. Es gab viele Beschwerden, Schmerzen, was wiederum zu den notwendigen Positionsänderungen auf dem Rad führte. Dieser Unterschied war der Anfang von viel Elend”, sagt er. Und analysiert: “Wenn ich zurückblicke, teile ich meine Karriere in zwei Teile. Vor und nach der Fraktur. Dieser Bruch hat meine Leistung nach 2011 stark eingeschränkt. Meine Entwicklung als Rundfahrer hat dort aufgehört. Für einen Spitzensportler, der auf höchstem Niveau Ergebnisse anstrebt, ist ein solcher Beinbruch sehr einschränkend. Danach war alles viel schwieriger.”
Doch damals will er das noch nicht einsehen. Und auch die Ergebnisse kamen in der Saison 2012 zurück. Zunächst gewann der inzwischen 26 Jahre alte Niederländer die Kalifornien-Rundfahrt, beendete danach die Tour de Suisse nur 25 Sekunden hinter Sieger Rui Costa als Vierter. Das Comeback scheint zu glücken. Zur Tour holte ihn allerdings das Pech wieder ein. Er stürzte auf der 6. Etappe, ein paar Tage später stieg er aus, um sich besser auf die Vuelta vorbereiten zu können. Die beendete Gesink als Kapitän einmal mehr als Sechster.
Kann der Mann aus Varsseveld, nahe der Grenze zu Deutschland, doch noch die großen Hoffnungen erfüllen, die in ihn gesetzt wurden? 2013 wurde aus Rabobank zunächst Belkin und auch der Rundfahrt-Spezialist will andere Wege gehen. Erstmals in seiner Karriere fuhr er den Giro d’Italia. Zwischenzeitlich kletterte er bis auf Rang drei nach vorne. Zur 20. Etappe trat er auf Rang zwölf liegend nicht mehr an. Dann kam die Tour. Bei der konnte er keine Akzente setzen, wurde nur 26.
Ein Jahr später stellte das Team Gesink in Bauke Mollema einen Co-Kapitän zur Seite, um ihn zu entlasten. Doch das fruchtete nicht. Er fuhr weder Tirreno-Adriatico noch die Baskenland-Rundfahrt zu Ende. Mitte April stellte sich heraus, dass Gesink an stressbedingten Herzrhythmusstörungen leidet. Schon seinem Giro-Aus im Vorjahr lagen diese Probleme zu Grunde. Gut möglich, dass auch bereits der Einbruch bei jenem Tour-de-Suisse-Zeitfahren 2010 in Relation dazu stand.
Bei den Niederländischen Meisterschaften im Juni versuchte er ein Comeback, welches misslingt. Danach steigt er erst wieder zur Polen-Rundfahrt in unmittelbarer Vorbereitung auf die Vuelta in den Rennsattel. Nach Etappe 17 wurde er dort auf Rang sieben geführt. Danach stieg er aus. Nicht aber aufgrund eigener Probleme: “Meine schwangere Frau wurde in der letzten Woche zweimal operiert. Ihr Zustand hat sich nicht verbessert, sie ist immer noch im Krankenhaus. Ich werde die Vuelta unverzüglich verlassen, um bei meiner Familie zu sein, die mich jetzt braucht”, sagte Gesink in einem Statement. Seine Frau Daisy bekam einen Jungen, das paar hatte bereits eine Tochter.
Einmal kam Gesink danach noch als Kapitän zu einer Rundfahrt zurück. Die Tour 2015 beendete er für LottoNL-Jumbo, das Belkin abgelöst hatte, als Sechster. Allerdings mit mehr als zehn Minuten Rückstand auf Sieger Chris Froome.
Zur Saison 2016 gab es im niederländischen Team weitere Umstrukturierungen, in deren Folge Gesink ins zweite Glied zurücktrat und künftig für Steven Kruijswijk arbeiten sollte. Dass er zu diesem Zeitpunkt noch neuen Jahre seiner Karriere vor sich haben würde und damit gerade erst Halbzeit, wird zu diesem Zeitpunkt so nicht ansatzweise vor Augen gehabt haben, schließlich war er bereits 29 Jahre alt.
Doch auch dieses Mal ging der Plan nicht auf. Denn bei der Vuelta crashte der neue Leader Kruijswijk früh aus dem Rennen, das Team stand ohne Aspiranten auf die Gesamtwertung da. Für Gesink war das die Chance, auf Etappenjagd zu gehen. Oder vielmehr die Pflicht. Den ersten Anlauf nahm er auf der 9. Etappe hinauf zu den Lagos di Covadonga. Nur Nairo Quintana war schneller. Fünf Tage später versuchte er es erneut. Als Ausreißer gewann er die Königsetappe als Solist hinauf zum Col d’Aubisque, neun Sekunden vor Kenny Elissonde.
“Das war ein wichtiger Moment in meinem Leben, denn ich zweifelte schon daran, dass meine Zeit bei den großen Rundfahrten vorbei war”, schildert Gesink einige Jahre später bei Cyclingnews. “Ich war an einem Punkt angelangt, an dem die Grand Tours Jahr für Jahr zu so konzentrierten Ereignissen für mich wurden, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, den Moment zu genießen oder mich zu entspannen.” Sein Sieg sollte eine Ausnahme bilden. Es war der erste seit Quebec 2013 - allerdings auch der letzte seiner Karriere.
In den folgenden Jahren unternahm Gesink weitere Versuche als Etappenjäger. Auf der 8. Etappe der Tour 2017 verhinderte nur Lilian Calmejane seinen ersten Triumph in Frankreich, 2018 Mikel Nieve beim Giro am vorletzten Tag. In Primoz Roglic war bei Jumbo-Visma allerdings ein Profi herangereift, der nicht nur Etappen, sondern auch Rundfahrten gewinnen konnte. Die Ausflüge wurden seltener, alles wurde dem einen Ziel untergeordnet. 2019 schlug Roglic erstmals zu und gewann die Vuelta.
“Ich habe lange auf einen solchen Moment in meiner Karriere gewartet, in dem ich meine Erfahrung nutzen konnte, um anderen zu helfen und Teil eines Teams zu sein, das einen Grand-Tour-Sieg nach Hause bringen konnte”, sagt Gesink rückblickend. “Wir hatten einige junge Leute im Team, und so war es ein wirklich stolzer Moment in meiner Karriere, der alte Mann mit der gewissen Weisheit zu sein.”
Gesink ging in dieser Rolle auf, fand den Frieden, den er als Kapitän nie wirklich verspürt hatte. 2022 belohnten ihn seine Kollegen. Zum Auftakt der Vuelta stand in Utrecht ein Teamzeitfahren auf dem Programm. Visma gewann den Wettbewerb. Doch als Erster fuhr nicht etwa Roglic über den Zielstrich. Er ließ Gesink den Vortritt, der damit zum ersten Mal in seiner Karriere in das Leadertrikot einer Grand Tour schlüpfte. Und das auch noch vor heimischem Publikum. Die Geste verfehlte ihre Wirkung nicht.
Für zwei weitere Jahre sollte Robert Gesink nochmal zur Vuelta zurückkehren. Die Tour de France fuhr er letztmals 2021. Im Winter 2023 kündigte Gesink das Ende seiner Karriere für 2024 an. In seinem letzten Jahr fuhr er auch nochmal den Giro, doch das Sturzpech kehrte zurück. Bereits nach dem ersten Tag war für ihn mit einer Fraktur im Handgelenk Schluss. Sein Rennen, die Vuelta, die er letztlich elfmal gefahren ist - einmal mehr als die Tour - und seine größten Erfolge sah, wurde so zum Abschluss seiner langen Karriere.
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