TOUR
· 28.04.2025
Interview: Stephan Klemm
TOUR: Herr Kämna, Sie haben Ihre diesjährige Saison Ende März bei der Katalonien-Rundfahrt begonnen und damit ziemlich genau ein Jahr nach Tirreno-Adriatico im März 2024, Ihrem letzten Start bei einem Radrennen. Ein Unfall auf Teneriffa warf Sie im April 2024 dramatisch aus der Bahn. Was können Sie zum Hergang sagen?
Lennard Kämna: Ich befand mich auf der rechten Fahrbahn und auf der Abfahrt vom Berg Teide auf Teneriffa. Rechts von mir waren hin und wieder Parkbuchten für Touristen, die die Aussicht genießen möchten. Eine davon steuerte ein Mann an, er übersah mich und erwischte mich voll an der Seite. Ich wurde in der Folge nicht ohnmächtig, habe aber den Unfallhergang völlig vergessen. Denn in den Tagen nach dem Unfall war ich wahnsinnig vergesslich. Ich hatte immer wieder vergessen, dass ich im Krankenhaus war, ich vergaß auch permanent, warum ich überhaupt dort war. Ich stand fünf, sechs Tage komplett neben mir.
TOUR: Die Vergesslichkeit war eine Folge des Unfalls, andere waren Rippenfrakturen, ein schweres Thoraxtrauma, eine Lungenprellung und ein Aufenthalt auf der Intensivstation. Wie lange waren Sie im Krankenhaus und wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Lennard Kämna: Ich war acht Wochen im Krankenhaus, vier davon auf Teneriffa und vier in Hamburg. Ich musste erst einmal so richtig verstehen, dass nun das ganze Tempo aus meinem Leben raus ist, dass ich Ruhe brauche und darauf achten muss, dass ich wieder richtig auf die Beine komme, um ein normales Leben führen zu können. Gedanken an Radsport oder an ein Leben als Profi waren ganz weit weg in dieser Zeit. Ich war allerdings nicht schwermütig in dieser Phase, auch nicht traurig, ich war eigentlich ganz normal drauf. Vor allem hat mir geholfen, dass meine Freundin Ria auf Teneriffa bei mir war. Und in der ersten Woche auch meine Mutter. Die beiden haben mir beigestanden, mich beschäftigt und mich bei Laune gehalten. Wir haben uns da von einem kleinen Programmpunkt zum nächsten gehangelt: Kaffee und Kuchen, Spaziergang auf dem Flur, Mittagsschlaf.
TOUR: Und dann ging es nach Hamburg. Wie sah dort Ihr Tagesablauf aus?
Lennard Kämna: Ich war dort in der Berufsgenossenschaftlichen Unfalllinik, da hatte ich feste Termine innerhalb des Tages, bei denen es um meine körperliche Rehabilitation ging. Das ging von neun bis 15, 16 Uhr. Mein Tagesplan war immer sehr voll. Das war auch gut so, denn auf diese Weise habe ich richtig tolle Fortschritte gemacht. Während des Aufenthalts in Hamburg kam bei mir das Gefühl auf, dass ich es geschafft habe, meine Verletzungen überwunden habe, dass es mir wieder gut geht.
TOUR: War der Schritt zurück aufs Rad für Sie zwangsläufig, nachdem die Rehabilitation so gut für Sie verlaufen war?
Lennard Kämna: Ich war zunächst mal glücklich darüber, dass ich Fortschritte bei der Wiederherstellung meiner generellen Gesundheit gemacht habe. Der Gedanke war: Prima, ich bin jetzt nicht mehr eingeschränkt bei allen möglichen Bewegungen. Die Idee, daraufhin wieder Sport zu treiben oder konkret Rad zu fahren, kam recht bald danach auf. Ich habe mich sehr darauf gefreut.
TOUR: Wann sind Sie zum ersten Mal wieder aufs Rad gestiegen?
Lennard Kämna: Mitte Juni 2024 saß ich wieder auf dem Sattel. Aber erst Ende Oktober konnte ich wieder wie ein Profi trainieren. Erst zu diesem Zeitpunkt war ich in der Lage, das Leben eines Leistungssportlers zu führen.
TOUR: Der Unfall war die dritte Zäsur in Ihrer Karriere. Zuvor hatten Sie einmal aus gesundheitlichen und einmal aus mentalen Gründen eine Auszeit genommen. Bisher sind Sie jedes Mal sehr stark zurückgekommen. Gibt Ihnen diese Erfahrung Zuversicht für Ihr drittes Comeback?
Lennard Kämna: Ich habe damals sehr gut gelernt, was ich machen muss, um von geringer Fitness auf die Leistungsfähigkeit eines Profisportlers zu gelangen. Damals habe ich mir beigebracht, strukturiert und intelligent zu trainieren.
TOUR: Wie haben Sie die ersten Kilometer auf dem Rad nach Ihrem Unfall erlebt?
Lennard Kämna: Ich habe mich gleich schon wieder sicher gefühlt, auch im Straßenverkehr. Ich war zwar sensibilisiert, aber nicht ängstlich oder besonders zurückhaltend, sondern selbstbewusst auf der Straße. Ich war aber längst noch nicht zu hundert Prozent wieder der Mensch, der ich vor dem Unfall war. Es hat gedauert, bis sich mein Körper so normal anfühlte, dass ich völlig schmerzfrei auf dem Rad sitzen konnte. Dieses Gefühl der kompletten Befreiung auf dem Rad habe ich erst wieder seit Dezember oder Januar. Es hat wirklich krass lange gedauert. Der Kopf spielt dabei eine riesengroße Rolle. Ich wusste, dass alles stimmen musste, bevor ich mich wieder so richtig super fühle auf dem Rad.
TOUR: Kamen in der Zeit der Reha Gedanken bei Ihnen auf, dass Ihre Karriere wegen der Folgen des Unfalls womöglich zu Ende sein könnte?
Lennard Kämna: Ich habe gemerkt, dass mein körperlicher Zustand anfangs anspruchsvolle Bewegungen überhaupt nicht zuließ. Zunächst schwirrte da auch ein Gedanke im Kopf herum, dass es vielleicht nicht mehr klappen könnte mit dem Profi-Radsport. Aber ich war immer beschäftigt in der Rehabilitation, da blieb mir nicht die Zeit, negative Szenarien zu entwickeln.
TOUR: Wollten Sie in der zweiten Jahreshälfte, als Ihnen klar war, dass es zu einem Comeback kommen wird, auch wieder Rennen fahren?
Lennard Kämna: Die Zeit war nicht reif dafür, der Unfall steckte mir noch in den Knochen. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass ich noch mal ein paar Rennen mit den alten Kollegen fahren kann. Das wäre ein toller Abschluss gewesen. So ein Ende bei einem Team wie meines ist immer blöd, erst recht, wenn man so lange dort war wie ich.
TOUR: Wie haben Sie die Zeit beim Team von Ralph Denk erlebt?
Lennard Kämna: Ich hatte dort zunächst, was die Rennplanung betrifft, relativ freie Hand. Mir wurde 2020, in meinem ersten Jahr, ein sehr gutes Rennprogramm angeboten, und ich konnte mit meinem Tour-Etappensieg im Sommer 2020 in Villard-de-Lans etwas zurückgeben. 2023 konnte ich dann den Giro auf die Gesamtwertung fahren.
TOUR: Aus Ihrem damaligen Umfeld hört man, Sie hätten nicht die komplette Vorbereitung absolvieren können, die Klassementfahrer üblicherweise durchlaufen. Wie hat sich das bemerkbar gemacht beim Giro?
Lennard Kämna: Ich kann nicht sagen, dass zu wenig seitens des Teams getan wurde. Die Vorbereitung war auf den Giro ausgerichtet. Nach der Rundfahrt folgte die Überlegung, ob es Sinn macht, mich weiter als Klassementfahrer zu fördern oder nicht. Am Ende des Jahres haben wir viel gesprochen und vereinbart, dass ich den Giro 2024 erneut auf Gesamtwertung fahre. Ich glaube, ich wäre dabei auch noch mal etwas stärker gewesen, denn 2023 wurde ich in der letzten Woche krank, das hat mich ein paar Plätze gekostet. Doch dann kam der Unfall dazwischen.
TOUR: Und Primož Roglič kam irgendwie auch dazwischen.
Lennard Kämna: Ja, die Verpflichtung von Roglič erfolgte im Oktober 2023. Ich wollte 2024 ursprünglich die Tour fahren. Aber es war nach Rogličs Verpflichtung klar, dass das Team dort auf ihn setzen würde. Dadurch wurde mein Rennplan ein bisschen auf den Kopf gestellt. Deshalb wurde der Giro als mein großes Ziel festgelegt. Wäre dabei alles top verlaufen, wäre ich gewiss auch eine Option für die Tour gewesen, als Etappenjäger. Aber nun gut, das ist alles hypothetisch.
TOUR: Hatten Sie während der Zeit Ihrer Rehabilitation die Unterstützung von Ihrem Team, die Sie sich erwünscht haben?
Lennard Kämna: Auf jeden Fall. Die Ärzte der Mannschaft waren gefühlt immer an meiner Seite. Ich hatte einen direkten Draht zu zwei Ärzten, mit denen ich fast täglich telefoniert habe, sie standen mir zur Seite, wenn ich Fragen hatte oder Rat suchte. Zweimal kam eine Team-Ärztin auch bei mir vorbei und hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Was die ärztliche Versorgung angeht, habe ich mich bestens aufgehoben und super betreut gefühlt.
TOUR: Gilt das auch für die Teamspitze?
Lennard Kämna: Ralph Denk hat einmal bei mir in der Klinik auf Teneriffa angerufen, auch Rolf Aldag und mein Trainer Dan Lorang. Kontakt gab es durchweg auch durch mein Umfeld.
TOUR: Schließlich haben Sie sich doch dazu entschieden, das Team Red Bull-Bora-hansgrohe zu verlassen. Ralph Denk sagt, er hätte Sie gerne gehalten.
Lennard Kämna: Jeder hat seine Sicht auf die Dinge. Ich will da aber jetzt nichts hochkochen oder nachkarten. Es ist gut wie es ist und ich bin sehr glücklich, nun für Lidl-Trek fahren zu können.
TOUR: Wie kam es zum Engagement bei Ihrem neuen Team?
Lennard Kämna: Ende 2024 lief mein Vertrag bei Red Bull-Bora-hansgrohe aus, deshalb habe ich mich schon vor meinem Unfall umgeschaut. Das war ein riesiges Glück. Hätte ich das nicht vor dem Unfall gemacht, wäre es schwer geworden. Am Ende aber hatte ich mehrere Teams zur Auswahl und mich dann für Lidl-Trek entschieden.
TOUR: Was sprach für Lidl-Trek?
Lennard Kämna: Ich spürte sofort, dass sie mich unbedingt verpflichten wollten und dass sie ein sehr großes Interesse an mir hatten. Das schmeichelte mir sehr. Sie legen viel Verantwortung in die Hände der Fahrer. Jeder erhält seine Freiheiten. Ich spürte gleich eine große Portion Vertrauen – besonders auch nach dem Unfall. Sie haben auch danach weiter an mich geglaubt, das ist ein super Gefühl.
TOUR: Ist dieses Vertrauen, dass Lidl-Trek in Sie setzt, wichtig für Ihr Comeback?
Lennard Kämna: Absolut, ja. Ich habe hier umso mehr das Gefühl, dass ich wieder zurückkomme, und zwar mit starken Leistungen. Ich stecke auf jeden Fall hundert Prozent Ehrgeiz in dieses Projekt. Das ist aber auch die Basis von allem, du musst mit großem Willen dabei sein, wenn du, wie ich, wieder Radrennen gewinnen willst. Bei mir ist es so: Wenn ich die hundert Prozent im Training zeigen kann, dann werde ich auch starke Leistungen in den Rennen bringen.
TOUR: Die Tour de France ist Ihr großes Ziel in dieser Saison. Als Etappenjäger?
Lennard Kämna: Wenn ich starte, möchte ich mich in Top-Form präsentieren, nicht nur bei der Tour, sondern bei allen Rennen. Wenn ich die nicht habe, fühle ich mich fehl am Platz. Grundsätzlich ist aber mit dem Team besprochen, dass ich erst einmal zurückkommen soll mit adäquater Form, um wettkampftauglich zu sein und es in Ausreißergruppen zu schaffen, das ist das vorrangige Ziel. Ich bekomme keinen Druck. Ich möchte aber unbedingt bei der Tour dabei sein. Ich bin im erweiterten Kader, aber das heißt nicht, dass ich gesetzt bin. Wenn ich es aber zur Tour schaffe, werde ich in diesem Jahr nicht auf die Gesamtwertung fahren, sondern versuchen, eine Etappe zu gewinnen. Das wäre das Traumszenario. Als ich 2020 die Tour-Etappe in Villard-de-Lans gewann, war das ein Riesending für mich. Das Höchste für einen Fahrertyp wie mich.
TOUR: Sehen Sie sich nicht mehr als Klassementfahrer bei der Tour?
Lennard Kämna: In diesem Moment aktuell nicht. Ich muss erst mal wieder das klassische Renngefühl bekommen und auf Etappenjagd gehen. Danach schaue ich Schritt für Schritt, was möglich ist.
TOUR: Sie besitzen einen besonderen Renninstinkt. Kann man den erlernen?
Lennard Kämna: Ich besitze tatsächlich einen besonderen Renninstinkt, das stimmt, aber ich weiß nicht, ob ich das gelernt habe. Das hat sich entwickelt, denn ich merkte schon als Zehnjähriger, dass ich nicht gut sprinten kann. Deshalb habe ich von klein auf immer versucht, in den Rennen, die ich bestreite, den anderen wegzufahren. Daraus hat sich dann mein Fahrstil entwickelt. Hat sich Ihre Sprintfähigkeit mittlerweile verbessert? Für einen Bergfahrer kann ich passabel sprinten, aber richtig gut bin ich in dieser Disziplin weiterhin nicht.