TOUR: Pauline, Sie kehren nach vielen Jahren als Mountainbikerin wieder in den Straßenradsport auf Weltniveau zurück. Warum war das jetzt der richtige Zeitpunkt für einen erneuten Disziplinwechsel?
Pauline Ferrand-Prévot: Im Winter vor den Olympischen Spielen (2023/2024; Anm. d. Red.) fragte ich mich, was ich nach den Spielen gerne tun würde. Es war einfach wichtig für mich, frühzeitig zu wissen, wie es danach weitergeht. Ich habe für mich keine Zukunft auf dem Mountainbike gesehen – unabhängig davon, wie das Ergebnis in Paris ausfallen würde. Ich wollte nicht mehr die gleichen Rennen fahren und die gleichen Leute sehen. Ich brauchte eine Veränderung. Auf der anderen Seite war ich noch nicht fertig mit dem Radsport. Ich habe mir gesagt, das Beste für mich wäre, noch für ein paar Jahre auf die Straße zurückzukehren.
Ich will versuchen, in den kommenden drei Jahren die Tour de France zu gewinnen. - Pauline Ferrand-Prévot
TOUR: Welche Rolle hat es bei der Entscheidung gespielt, dass es nun die Tour de France Femmes gibt?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich wäre so oder so auf die Straße zurückgekehrt. Aber die Tour de France hat die ganze Sache für mich greifbarer gemacht. Ich bin jemand, der ein Ziel braucht. Ich habe bei Visma | Lease a Bike einen Vertrag über drei Jahre unterschrieben. In diesen drei Jahren möchte ich wirklich das Beste aus mir herausholen und versuchen, die Tour de France zu gewinnen.
TOUR: Was macht Sie so selbstbewusst zu glauben, dass Sie das nötige Niveau haben oder erreichen können?
Pauline Ferrand-Prévot: Erstens, weil ich mir mit Visma | Lease a Bike ein gutes Team ausgesucht habe. Ich weiß, dass ich hart arbeiten muss und starke Konkurrentinnen habe. Aber wenn ich mir meine Leistungsdaten und alles drumherum ansehe, weiß ich, dass ich auch in der Lage bin, eine Straßenfahrerin auf Weltniveau zu sein. Es geht auch nicht darum, Rennen zu gewinnen. Ich kann nicht kontrollieren, ob die anderen besser sind als ich. Ich will einfach die beste Version meiner selbst sein. Es bedeutet sicher viel Arbeit – körperlich, mental, in Sachen Teamtaktik und Aerodynamik.
TOUR: Was sind konkret Ihre Ziele für die kommende Saison – geht es nur um die Tour?
Pauline Ferrand-Prévot: Das Ziel für das nächste Jahr ist es, so viel wie möglich zu lernen. Ich sehe mich als Leader für die Tour de France, ich will dort mit der bestmöglichen Form an den Start gehen. Auf dem Weg zur Tour werden alle Starts mehr oder weniger Trainingsrennen sein. Aber es geht nicht um Resultate. Außerdem möchte ich meinen Teamkolleginnen in einigen Rennen helfen. Sie müssen mir vertrauen, damit wir ein starkes Team bilden können.
TOUR: Sie sollen am 22. März Mailand-San Remo bestreiten, das es nach langer Pause wieder geben soll.
Pauline Ferrand-Prévot: Ich bin glücklich darüber, dass es dieses Rennen jetzt gibt. Ich lebe rund 35 Kilometer von San Remo entfernt, in Südfrankreich, in der Nähe von Monaco. Ich bin im Training Poggio und Cipressa schon ziemlich oft gefahren.
TOUR: Mailand-San Remo ist bei den Männern mittlerweile eine Art Downhillrennen vom Poggio. Gefällt Ihnen diese Aussicht – oder macht es Ihnen Angst?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich liebe es. Dank meiner Mountainbike-Erfahrung habe ich keine Angst. Sicher wäre es ein guter Test für mich, wenn ich in der Abfahrt etwas probieren könnte.
TOUR: Apropos Mountainbike-Erfahrung: Welche Rolle werden Cyclocross und Mountainbiken in Zukunft spielen?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich werde keine Cyclocross- und Mountainbike-Rennen fahren. Ich werde mich zu hundert Prozent auf die Straße konzentrieren.
TOUR: Blicken wir nochmals zurück auf Teil eins Ihrer Radsportkarriere auf der Straße: Sie waren beim Team Rabobank, Vorgänger von Visma | Lease a Bike, sehr erfolgreich. Was waren die Gründe, warum Sie während Ihres Vertrages beim deutschen Team CANYON//SRAM kaum Rennen fuhren und dann den Straßenradsport verließen?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich komme ja ursprünglich aus dem Straßenradsport. Ich fuhr dann für Rabobank. Ich liebte dieses Team, ich konnte von den Besten wie Marianne Vos und Annemiek van Vleuten lernen. Es waren die besten fünf Jahre meiner Karriere.
TOUR: Sie waren äußerst erfolgreich – Weltmeisterin auf der Straße, im Cyclocross und auf dem Mountainbike. Was war dann plötzlich los?
Pauline Ferrand-Prévot: Als Rabobank dichtmachte, wechselte ich zu CANYON//SRAM. Aber ich mochte das Team nicht. Ich war nicht ich selbst. Das war einer der Gründe, warum ich den Straßenradsport verlassen habe – ich war einfach mit dieser Umgebung nicht glücklich. Das war der Moment, als ich mich entschied, mich ganz aufs Mountainbiken zu konzentrieren – auch weil ich feststellte, dass es schwierig war, beide Disziplinen gleichzeitig zu betreiben. Ich wollte auch die Chance nutzen, mir den Lebenstraum vom Olympiasieg zu erfüllen.
TOUR: Sie tragen im Nacken ein Tattoo mit dem Text: Life is a joke. Welchen Hintergrund hat es?
Pauline Ferrand-Prévot: Bei CANYON//SRAM hatte ich Probleme mit Schmerzen in meinem linken Bein. Sie haben fast alles getan, um die Ursache zu finden. Aber irgendwann haben sie gesagt: Pauline, das Problem liegt in deinem Kopf! Später stellte sich heraus, dass es ein Problem mit der Beckenarterie war. Ich wurde dann 2019 und noch mal 2020 operiert. Das war dann der Grund, dieses Tattoo machen zu lassen: Das Leben ist ein Scherz. Man sollte alles nicht zu ernst nehmen. Dann muss man einfach das Unwetter vorüberziehen lassen. Die Sonne wird wieder scheinen!
TOUR: Haben Sie zuvor vieles zu ernst genommen?
Pauline Ferrand-Prévot: Ja, sicher. Ich habe mehr Erfahrung und festgestellt, dass Radsport zwar einen großen Teil meines Lebens ausmacht, aber nicht alles ist. Ich habe eine tolle Familie, einen tollen Partner, ich fühle mich jetzt sehr glücklich. Früher war mein Leben Rad fahren, essen, schlafen, Rad fahren, essen, schlafen. Es gab nichts anderes in meinem Leben. Ich wollte den Leuten beweisen, dass ich die Beste bin. Man steckt alles rein, und es wird schwierig, wenn etwas nicht klappt – dann ist man auch schnell enttäuscht. Ich habe mich weiterentwickelt und auch mit Experten gearbeitet. Es hat mir wirklich geholfen, anzunehmen, wer ich bin, und zu tun, was ich tun will und was gut für mich ist.
TOUR: Wie sind Ihre ersten Erfahrungen im Team Visma | Lease a Bike, inwiefern ist das die richtige Umgebung für Sie?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich bin wirklich glücklich. Es herrscht eine gute Atmosphäre, wie in einer großen Familie, vertraut und gut organisiert. Hier weiß ich, wo es hingeht. Hier kriegt man keine Dinge versprochen, die dann nicht eingehalten werden. Und es ist auch schön, mit Dylan zusammen sein zu können.
TOUR: War Ihr Lebensgefährte Dylan van Baarle, der für das Männer-Team von Visma | Lease a Bike fährt, ein Grund, warum Sie nun dort unter Vertrag sind?
Pauline Ferrand-Prévot: Es hat sicher geholfen, dass ich ihn in diesem Team glücklich gesehen habe und ich daher wusste, dass es ein gutes Team ist. Aber er hat nicht für mich entschieden.
TOUR: Inwieweit teilen Sie Ihr Berufsleben?
Pauline Ferrand-Prévot: Wir wollen nicht alles gemeinsam tun. Er braucht seinen Freiraum, ich brauche meinen Freiraum. Außerdem will ich ihn nicht bremsen, aber auch nicht zu schnell für meine Verhältnisse fahren.
TOUR: Auf welche Weise beeinflusst er Sie?
Pauline Ferrand-Prévot: Dylan ist ein Super-Profi. Ich glaube, ich bin schon verrückt in manchen Angelegenheiten. Aber Dylan ist noch verrückter, einer der professionellsten Leute, die ich kenne. Ich kann von ihm lernen. Das ist cool.
TOUR: Sie treffen im Team auch eine frühere Wegbegleiterin – die vielmalige Weltmeisterin Marianne Vos. Sie fuhren von 2012 bis 2016 mit ihr im damaligen Team Rabobank.
Pauline Ferrand-Prévot: Ich hatte dort mein bestes Jahr – und das lag vor allem an Marianne. Sie ist eine außergewöhnliche Athletin. Aber auch wirklich sehr respektvoll, zurückhaltend. Sie gab Ratschläge, aber sie stand einem nicht im Weg. Es ist eine Ehre, wieder mit ihr zu arbeiten.
Der Straßenradsport der Frauen ist anders als damals, als ich ihn verlassen habe. Es gibt mehr Teamwork. Die Rennen sind länger, man muss nun im Rennen essen. - Pauline Ferrand-Prévot
TOUR: Sie hatten 2014 und 2015 sehr erfolgreiche Jahre – Sie wurden Straßenweltmeisterin, gewannen eine Etappe des Giro d’Italia und den Flèche Wallonne. Wie hat sich der Frauen-Radsport während Ihrer Absenz verändert?
Pauline Ferrand-Prévot: Es ist auf jeden Fall alles anders. Die Rennen sind länger. Früher hat man auf dem Rad nicht wirklich gegessen. Ich spreche jetzt, als wäre ich 60 Jahre alt, aber es ist wahr. Jetzt können wir sehen, dass die Ernährung superwichtig ist – gerade bei den Etappenrennen ist das ein ganz wichtiger Aspekt. Und im Vergleich ist Radsport jetzt viel mehr Teamwork.
TOUR: Sie sind seit Mitte 2018 nur ein einziges internationales Straßenrennen gefahren: bei der WM in Zürich im vergangenen Herbst. Vergleichen Sie doch Mountainbiking und Straßenradsport für uns.
Pauline Ferrand-Prévot: Bei der WM habe ich erlebt, dass es auf der Straße ein völlig anderer Sport ist. Mountainbiken heißt eineinhalb Stunden Vollgas. Aber in den Abfahrten tritt man nicht wirklich in die Pedale. Bei der WM auf der Straße hatte ich das Gefühl, ständig in die Pedale treten zu müssen. Ich denke, es ist jetzt in beiden Sportarten ein völlig anderes Niveau. Die WM war eine gute Lektion. Ich war einfach nicht gut genug.
TOUR: Im Straßenradsport geht es viel mehr um Aerodynamik als im Mountainbiken. Sie haben diese unglaublich langen Haare. Müssen Sie nicht über einen kürzeren Haarschnitt nachdenken?
Pauline Ferrand-Prévot: Wir müssen an einigen Lösungen arbeiten. Ich habe als Mountainbikerin auch viel auf dem Rennrad trainiert, aber in einer aufrechteren Sitzposition, wie ich sie auf dem Mountainbike hatte. Jetzt habe ich eine neue Position und sitze aerodynamischer auf dem Rennrad. Aber wir müssen sicher noch eine Lösung für meine Haare finden ... (lacht)
TOUR: Sie sind bisher die einzige Radsportlerin, die gleichzeitig die WM-Titel im Straßenrennen, im Cyclocross und auf dem Mountainbike gehalten hat – das war 2015. Glauben Sie, dass das im modernen Frauenradsport noch möglich ist? Und sehen Sie eine Radsportlerin, die das wiederholen könnte?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich würde sagen, ich hatte ziemlich viel Glück, dass es mir zu einem guten Zeitpunkt gelungen ist. Meiner Meinung nach wird es schwierig sein, das zu wiederholen. Denn jetzt ist das Niveau überall so hoch, der Rennkalender ist so vollgepackt. Das Jahr ist einfach zu kurz, um alle drei Disziplinen entsprechend zu absolvieren. Vielleicht könnte Puck (Pieterse; Anm. d. Red.) das schaffen – ihr traue ich das zu.
TOUR: Letzte Frage: Ihr Vertrag läuft bis 2027. Was ist Ihr Plan für die Zeit danach?
Pauline Ferrand-Prévot: Ich denke, es werden die letzten drei Jahre meiner Radsportkarriere werden. Ich war mein ganzes Leben sehr egoistisch. Es wäre daher danach an der Zeit, etwas den Menschen zurückzugeben, die mir wichtig sind. Ich habe Dylan nie bei Rennen gesehen. Ich habe ihn nie am Ende der Tour de France auf den Champs-Élysées empfangen – alle Frauen und Freundinnen waren dort. Aber ich konnte die vergangenen beiden Male nicht dort sein, weil ich im Höhentrainingslager war. Und es ist auch ein Traum, eine eigene Familie zu haben.