TOUR: Mike Kluge, der Radweltmeister, hat an Weihnachten 1976 sein erstes Rennrad bekommen. Ein Peugeot-Rad, das er noch an Heiligabend ausprobieren wollte. Bevor er sich jedoch auf die Straße aufmachte, montierte er die Schutzbleche ab. Nach einer Viertelstunde war der erste Achter in der Felge. Nach 30 Minuten war sein Rad ein Fall für den Wertstoffhof. Können Sie sich an Ihr erstes Rad erinnern?
Harry G: Heini, mein Onkel aus Frankfurt, hat mir – das muss so 1984 gewesen sein – ein tolles silbernes Rennrad geschenkt. An dem waren auch so blöde Schutzbleche dran. Mir war das aber wurst, ich war auf das Ding so stolz wie ein Schnitzel. Mit dem bin ich dann immer von zu Hause in die Schule gefahren. Gefühlt habe ich mich als der junge Eddy Merckx. Das bin ich echt lange gefahren. Bis 1989 oder 1990.
TOUR: Und haben dann umgesattelt …
Harry G: ... auf ein neongelbes Checker Pig. Das hatte ich jedoch nicht lange, weil es mir im Radkeller in der Schule geklaut wurde. Ich bekam dann ein Fuji. Mit dem habe ich Touren gemacht, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Unendlich lange Strecken waren das.
TOUR: Wie lang?
Harry G: So 10, 15 Kilometer bestimmt. (Lacht) Mehr wurden es nach meinem Studium in Innsbruck. Ich fing in München bei einem Investmentfonds zu arbeiten an. Jeden Morgen bin ich von Haidhausen mit meinem Trekkingrad nach Oberhaching gefahren. Viel cooler waren allerdings die Canyon-Räder, die zu der Zeit aufkamen. Also kaufte ich mir auch so eines. Ich hatte das Gefühl, ich fliege mit meinem Canyon-Jet durch den Perlacher Forst.
TOUR: In passenden Rennradklamotten?
Harry G: Die Sachen, die ich am Berg trug, habe ich auch auf meinem neuen Ultimate CF angezogen. Darunter hatte ich so ein billiges Aldi Glump, eine Radlerunterhose. Ich sah aus wie ein durchgeknallter Papagei auf Koks. Ganz schrecklich.
TOUR: Wieso das denn?
Harry G: Das lag an den Crane-Sachen, die es damals beim Discounter gab. Der Designer muss entweder total besoffen oder komplett zugedröhnt gewesen sein. Da waren überall so hypnotische Kreise auf den Klamotten drauf. Ich bin mir sicher, dass die Aldi-Designer das damalige Hintergrundbild von Apple einfach eins zu eins nachzeichneten und dieses auf die Rennrad-Klamotten pappten. Hundertprozentig! Wie ich aussah, war mir aber auch egal. Jeden Abend bin ich nach der Arbeit mit meinem Rennrad Richtung Voralpenland gedonnert. Das war der Zeitpunkt, als ich mich infizierte.
TOUR: Infiziert womit?
Harry G: Mit dem Rennrad-Virus. Seitdem bin ich dem Rennrad verfallen. Ich bin ein klassischer Rennrad-Aficionado, ein echter Rennrad-Junkie. Wenn Du so willst: immer drauf. (Grinst) Meine Drogen-Zeit dauerte etwa fünf Jahre. Dann habe ich aber alles, was man im Münchener Umkreis so kennen kann, gekannt: Seen, Berge, Biergärten. Einfach alles.
TOUR: Sind Sie immer alleine gefahren?
Harry G: Immer. Das lag daran, dass ich nicht wusste, wie gut ich wirklich strampeln konnte. Natürlich ahnte ich, dass ich nicht die lahmste Schnecke war, ich war mir aber nicht sicher. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich auch nicht ganz verstanden, warum sich alle immer beim Rennradfahren unterhalten haben. Ich dachte: Entweder gehe ich mit Freunden einen trinken – oder ich fahre halt richtig Rad, mit richtig viel Druck auf dem Pedal. Die Corona-Zeit hat dann jedoch mich und mein Sportlerleben verändert.
TOUR: Wie meinen Sie das?
Harry G: Nach dieser Zeit bin ich viel mehr mit Freunden und in Gruppen gefahren. Einerseits. Andererseits habe ich meinen Radius erhöht, indem ich mit meinem Hybrid-Auto irgendwo hingefahren bin. Das war velotechnisch gesehen mein zweiter Frühling. Plötzlich machte mir das Rennradfahren noch mehr Spaß. Gerade eben hielt ich noch einen Freund für geisteskrank, als er mir erzählte, dass er von Kitzbühel nach München fahren würde. Mit dem Rennrad.
TOUR: Und heute?
Harry G: Fahre ich die 130 Kilometer – übertrieben gesagt – ohne Flaschen und ohne Riegel. Alles unter 100 Kilometer nehme ich heute gar nicht mehr ernst. (Grinst) Spaß. Im Ernst: Was können wir denn von dieser Welt am Ende mitnehmen? Ich sage es dir: wahre Liebe und schöne Momente. Die Liebe bekomme ich von meiner tollen Familie, von meiner Frau sowie meinen Kindern. Erfahrungen und Erlebnisse sammle ich auch mit meinen Liebsten – aber auch ganz viele Kilometer auf der Straße. Mir taugt das voll. Mehr noch: Jeder, der viel Zeit auf dem Rennrad verbringt, spart Geld.
TOUR: Radfahren ist aber teuer. Moderne High-End-Räder kosten leicht mehr als 10.000 Euro, von Klamotten und Zubehör mal ganz abgesehen …
Harry G: Das meine ich gar nicht. Wie ich mich selbst in den vergangenen Jahren noch einmal fast neu kennengelernt habe, das war unfassbar. Die Kosten für die Therapiestunden kann jeder sparen, der viel radelt. Und das meine ich ernsthaft. Ich weiß nun durch Situationen, die ich auf dem Renner erlebt habe, im Alltagsleben besser damit umzugehen. Mehr noch: Ich habe auf dem Rennrad gelernt, meine Grenzen weiter zu verschieben.
TOUR: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Harry G: Mit dem Finger bin ich auf der Landkarte entlanggefahren. 100 Kilometer? Mensch, da bin ich ja schon in Garmisch. Was? Nach Bozen sind es nicht mal 300 Kilometer? Das geht eigentlich. Also habe ich es mir dann zusammen mit meinem Spezl Olli getraut. Zusammen sind wir von München an den Gardasee gefahren. Das war krass ...
Die vielen Ausfahrten zu meinen Auftritten machen mich konditionell deutlich besser. Das gefällt den anderen aber nicht.
TOUR: … Immerhin 160 Kilometer länger als der Ötztaler Radmarathon, wenn auch mit weniger Höhenmetern.
Harry G: Die zwei Tage waren die absolute Hölle. Und der Himmel zugleich. Mein Learning aber war: Es geht. Und weil es eben geht, dachte ich mir: Mensch, dann fahre ich doch auch zu meinen Auftritten! Mit dem Rennrad. Und das mache ich nun. Nach Augsburg, Nürnberg oder Regensburg düse ich immer mit dem Renner. Mein Tour-Begleiter nimmt meine Klamotten, meinen Hut und mein Equipment im Auto mit. So kann ich tagsüber beispielsweise auf dem Renner nach Augsburg ballern, dort duschen, was Schönes essen und dann auftreten. Abends geht’s mit dem Auto wieder heim. Was natürlich nicht geht, ist Bremen oder Hamburg. Das wär’ dann doch a bisserl lang.
TOUR: Klingt aber trotzdem nach Traumjob.
Harry G: Ich muss nicht in irgendeinem Hotel absteigen, sondern liege abends daheim wieder bei meiner Frau im Bett. Die vielen Ausfahrten zu meinen vielen Auftritten machen mich konditionell zwar deutlich besser. Das gefällt den anderen aber nicht. Gar nicht.
TOUR: Wer sind die anderen?
Harry G: Meine Freunde. Ein Schreiner, ein Zahnarzt, ein Hotelier. Wir haben seit ein paar Monaten so eine neue WhatsApp-Gruppe. Wenn ich da reinschreibe, dass wir in vier Wochen nach Wien fahren, meldete sich keiner von denen zurück. Also rief ich am nächsten Tag bei jedem wie so ein Mafia-Boss an. “Hör zu”, sagte ich jedem Einzelnen. “Ich wollte dir nur schnell wegen Wien Bescheid geben. An dem und dem Tag fahren wir los, treffen uns dort und dort.”
TOUR: Und die Reaktion?
Harry G: War immer die gleiche. “Hör zu”, sagte jeder Einzelne von ihnen. “Was gibt es an meiner Aussage ‘Ich! Fahre! Nicht! Mit!’ jetzt genau nicht zu verstehen?”
TOUR: Das erinnert an die legendäre Szene in der TV-Serie “Kir Royal”. Als Mario Adorf als Fabrikant Heinrich Haffenloher dem Klatschreporter Baby Schimmerlos droht: “Ich scheiß dich zu mit meinem Geld.” Immer wieder drohte Haffenloher dem Boulevard-Journalisten Schimmerlos.
Harry G: (Lacht) Genauso mache ich es. Ich rufe sie jeden Tag an. Jeden Tag. Und dann, eines Tages, wenn sie nicht mehr können, wenn sie nur noch am Boden liegen und winseln, dann weiß ich: Ich habe sie gebrochen. (Lacht) Bei dem letzten Ride fuhr Willi, der Hotelier, vor mir her, ich war ganz chillig in seinem Windschatten. Dann brüllte er plötzlich zu mir: “Herrschaftszeiten! Fahre ich jetzt auch noch vorne? Ich war doch derjenige, der wochenlang Nein gesagt hat. Und nicht du, Zefix!” (Grinst) Irgendwann musste ich ihnen aber nicht mehr drohen. Sie waren angefixt. Freiwillig wollten sie alle in meine Gruppe aufgenommen werden.
TOUR: Hat die Gruppe einen Namen?
Harry G: “Club300”, weil wir mehr als 300 Kilometer am Tag fahren. Und wissen Sie, was der Unterschied zu früher ist?
TOUR: Sie werden es mir bestimmt gleich sagen …
Harry G: Wenn ich reinschreibe: “Jungs, was haltet ihr von einer Ausfahrt nach Berlin?”, dann dauert es keine zehn Sekunden, dann steht da: “Bin dabei!” “Bin dabei!” “Bin dabei!”
TOUR: Läuft aber immer alles glatt?
Harry G: Natürlich nicht. Einmal haben wir uns auf dem Weg von München an den Gardasee in Trento total verfahren. Die Beine waren blau, die Nerven lagen nach 250 Kilometern blank. Hilft aber nix. Wir haben einen Plan, also ziehen wir ihn durch.
TOUR: Trainieren Sie eigentlich nach Plan? Also nach dem Motto: Heute fahre ich GA1?
Harry G: Ich weiß gar nicht, was das ist.
TOUR: Das glaube ich nicht.
Harry G: Auch so Zeugs wie der VO2 max oder irgendwelche Wattwerte interessieren mich einen Scheißdreck. Strava? Zwift? Dort war ich noch nie, werde auch nie sein. Warum soll ich daheim auf die Rolle gehen? Warum?
TOUR: Um sich im Winter fit zu halten?
Harry G: Wissen Sie, was ich mache, um in der kalten Jahreszeit fit zu bleiben? Ich mache was ganz Verrücktes: Ich fahre Fahrrad. Ich stehe um halb sechs auf, ziehe mich warm an und gehe eine Stunde lang ballern. Daheim eine heiße Dusche und ein leckeres Frühstück. Was gibt es denn Besseres? Es gibt wirklich nur drei Szenarien, an denen ich im Winter nicht fahre: wenn es schneit, wenn es hagelt, wenn Glatteis herrscht.
TOUR: Manche Rennradler wollen nicht auch noch lange Thermo-Kleidung kaufen und fahren deshalb Rolle.
Harry G: Wer sagt das? Der YouTuber, der mit einem Handtuch um den Hals wie einst Rocky mit einem 20er-Schnitt virtuell durch Barcelona fährt? Jede Sportlerin und jeder Sportler hat daheim ein Ski-Gwand. Dann soll er oder sie halt dieses einfach anziehen. Zur Not fahre ich auch mit Flat-Pedals und Moonboots! Ist doch egal. Und was machen die Instagram-Stars? Sie haben das Hunderte Euro teure Designer-Jersey an und zwiften im Bügelzimmer. Hä? Was ein Schmarrn. Ich sage, was viel besser ist: wenn ich im Winter losfahre, der Nebel über der Landstraße liegt, ich mich in der Eiseskälte spüre. Das ist doch das echte Radfahren. Und nicht bei 22 Grad und Netflix gucken.
Wenn der Nebel über der Landstraße liegt, ich mich in der Eiseskälte spüre, das ist doch das echte Radfahren.
TOUR: Auf Ihren Videos ist aber ein GPS-Gerät von Garmin zu sehen.
Harry G: Das Einzige, was ich wissen will, ist die Uhrzeit, die Kilometer und die Höhenmeter. Alles andere juckt mich nicht. Andere haben sündhaft teure Wattmesser, sind besser als ein Tour-de-France-Fahrer ausgestattet. Und dann gibt es noch die “Boazn”-Fraktion.
TOUR: Die was?
Harry G: Ich war mal mit einer Gruppe unterwegs. Alle voll am Anschlag, alle Vollgas. Und was macht dann plötzlich so ein Typ neben mir? Holt bei einem 45er-Schnitt seine E-Zigarette raus und raucht. Dinge gibt’s. Ich bin dann den Kesselberg am Walchensee aber mal so richtig hochgebüffelt. Da wusste ich: Alleine fahren ist manchmal gar nicht so schlecht.
TOUR: Aber es kommt nicht mehr allzu oft vor?
Harry G: Vor einigen Wochen wollten meine Familie und ich nach Italien fahren. Weil ich am Abend davor nicht schlafen konnte, habe ich mir gedacht: Mei, dann fahre ich halt jetzt schon mal vor. Also bin ich um kurz nach zehn aufgebrochen, durch die Nacht gefahren. Über Sterzing, das Penser Joch, dann ins Sarntal rein, nach Oberbozen. Das war auch ein bisschen krank: 5000 Höhenmeter in 15 Stunden. Danach war ich aber echt so richtig paniert. Das war eine ganz schöne Schinderei, ein ganz schöner Höllenritt.
TOUR: Was steht nächstes Jahr an?
Harry G: Ich finde die Via Claudia Augusta ganz interessant: von Donauwörth nach Venedig, glaube ich, 700 Kilometer, 5000 Höhenmeter. Nett ist auch die Supermaratona (eine Streckenvariante der Maratona dles Dolomites, die man unabhängig vom Event auf eigene Faust fahren kann). 8500 Höhenmeter sind das, verteilt auf 285 Kilometer. Ganz okay.
TOUR: Alles an einem Tag?
Harry G: Ich zähle nicht in Tagen oder Nächten. Für mich ist es wichtig, dass es am Stück ist. Also 8500 Höhenmeter und 285 Kilometer. Am Stück.
TOUR: Was ist der Unterschied zu 2008, als Sie mit Ihrem neuen Canyon durch den Perlacher Forst gefahren sind, und heute?
Harry G: Ich bin aufs Rennrad gestiegen, weil ich Rennrad fahren wollte. Heute ist der Perlacher Forst wie der Catwalk in Mailand: Alle ziehen sich schick an, alle wollen cool sein.
TOUR: Die “Süddeutsche Zeitung” fragte einst in einem Artikel: “Was für ein alberner Gockel! Kann der auch Rennrad fahren, oder sammelt der seine Kilometer vor allem, indem er vor dem Spiegel Pirouetten dreht?”
Harry G: In einem Video, in dem ich Rennradler auf die Schippe nahm, sprach ich von den ach so wichtigen rasierten Beinen, von Brillen, die so groß wie Windschutzscheiben sind, und von Windkanal-Helmen für Voll-voll-voll-Profis. Die Helme tragen ja oft Sportler, die mit einer riesigen Wampe vor sich und 120 Kilo unter sich pedalieren. Die erzählen allen Ernstes, dass jedes Gramm auf dem Rad zählt. Das finde ich schon sehr witzig.
Harry G heißt mit bürgerlichem Namen Markus Stoll und stammt aus Regensburg. Der studierte Betriebswirt arbeitete erst als Investmentbanker, bevor er ein eigenes Social-Media-Marketing-Unternehmen gründete. Im Jahr 2013 begann seine Karriere als Komiker und Kabarettist Harry G mit einem Video-Clip zum Auftakt des Oktoberfests in München, in dem er die Eigenheiten der Wies’n und ihrer Besucher aufs Korn nimmt. Inzwischen tourt Stoll als Harry G durch Deutschland, sein aktuelles Programm heißt “Hoam Stories”. Als Schauspieler hatte er Gastauftritte bei den Rosenheim-Cops im ZDF und in den Eberhofer-Krimis nach Romanen der Autorin Rita Falk ( (“Sauerkrautkoma”, “Leberkäsjunkie”). Stoll ist 45 Jahre alt, verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in München.