TOUR: Sie sind 1951 geboren, genauso wie der Blödelbarde Mike Krüger und Schlagersänger Wolfgang Petry. Krüger ging vor zwei Jahren in Show-Rente, Petry hörte schon 2007 auf, “Der Himmel brennt” zu trällern. Und Sie?
Ferdinand Kraller: Mich ärgert es immer noch, dass ich in den vergangenen Jahren nicht so viel trainieren konnte wie geplant. Das lag aber an den Unfällen in den vergangenen Jahren.
TOUR: Was ist passiert?
Ferdinand Kraller: Erst hatte ich im August 2021 einen Radunfall, brach mir dabei den Oberschenkel, als ein Radfahrer aus einer Einfahrt kam und mich abschoss. Ich versuchte noch auszuweichen, hatte aber keine Chance. Das einzig Positive an dem Unfall war, dass ich 10.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen bekam. Von dem Geld habe ich mir gleich ein neues Rennrad gekauft. Und was für ein schickes Ding, eines mit ganz viel Carbon. Genau ein Jahr später passierte mir mit den Rollskiern im Trainingslager in Livigno ein Missgeschick. Ich stürzte, brach mir das Becken.
TOUR: Und jetzt?
Ferdinand Kraller: Stehe ich wieder voll im Saft. In diesem Jahr werde ich so auf mehr als 5000 Kilometer auf dem Renner kommen, beim Mountainbiken dürften es mindestens 4000 Kilometer werden. Wenn das Wetter mitspielt, könnte ich dieses Jahr bei deutlich mehr als 10.000 Kilometern landen. Das wäre dann mein persönlicher Rekord. Mit 72.
TOUR: Wie viele Höhenmeter kommen da zusammen?
Ferdinand Kraller: Mei, des weiß ich jetzt gar nicht so genau. Ich rechne immer mit so 500 Höhenmetern je 50 Kilometer Rennrad. Beim Mountainbike sind es natürlich mehr. Fragen Sie mich aber bitte nicht, wie viel genau. Das Einzige, was ich weiß, sind die Kilometer. Die schreibe ich akribisch und pedantisch jeden Tag in mein kleines Trainingsbüchlein.
TOUR: Haben sie noch gleichaltrige Trainingskameraden?
Ferdinand Kraller: Leider nein. Im Sommer haben wir eine Whatsapp-Gruppe für unsere Dienstagsausfahrten, die sind aber alle jünger und Rentner. Mit denen macht es Spaß zu fahren, wenn sie auch für meinen Geschmack immer etwas zu oft einkehren (grinst). Kleiner Scherz. Spaß macht es mit denen natürlich immer. Die haben jedoch alle nicht so viel Lust, so viel zu fahren wie ich. Deswegen fahre ich meistens alleine.
TOUR: Und wer ist der Älteste in ihrer Cycling-Gang?
Ferdinand Kraller: Immer ich (lacht).
TOUR: Mit 70 wollten Sie mal auf den Großglockner radeln. Haben Sie das geschafft?
Ferdinand Kraller: Na, was denken Sie? Klar doch! Einmal von Teisendorf zum Glockner und wieder retour. Das waren insgesamt 242 Kilometer und 4500 Höhenmeter.
TOUR: Darf ich Sie fragen, wie lange Sie dafür gebraucht haben?
Ferdinand Kraller: Elf Stunden. Mit Pausen.
TOUR: Und was haben Sie währenddessen gegessen?
Ferdinand Kraller: Ein Käsebrot habe ich mitgenommen und ein paar Riegel. Ich brauche ja nicht so viel. Noch schlimmer ist das Trinken. Oft habe ich gar keinen Durst, vergesse immer das Trinken. Das mache ich oft dann erst, wenn ich mal einkehre. Als ich vom Glockner runterkam, bin ich in Bruck in eine Pizzeria gefahren und habe mir eine Pizza Tonno und ein alkoholfreies Weißbier bestellt. Danach bin ich noch schnell die 90 Kilometer heimgeradelt.
TOUR: War es arg anstrengend?
Ferdinand Kraller: Manchmal frage ich mich schon, warum ich das mache. Wenn ich dann allerdings da oben auf dem Gipfel stehe, dann will ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen. Mit keinem.
TOUR: So viele Höhenmeter wie Ihre Glockner-Ausfahrt hatte 2022 die Königsetappe der Tour de France, die über den Col du Galibier führte, dann über den Croix de Fer und hinauf nach Alpe d’Huez. Der einzige Unterschied zwischen Tom Pidcock, der die Etappe gewann, und Ihnen ist, dass der Engländer fast 50 Jahre jünger ist.
Ferdinand Kraller: Ein paar Tage nach der Glockner-Fahrt wollte ich im vergangenen Jahr auch mal 300 Kilometer an einem Tag fahren. Nach Kitzbühel, Wörgl, Chiemsee, Rosenheim und zurück. Das habe ich in eine Whatsapp-Gruppe geschrieben, in der echt gute Rennradfahrer sind, teilweise unter 30-Jährige.
TOUR: Und?
Ferdinand Kraller: Die einen haben geschrieben, dass sie keine Zeit haben. Den anderen war es zu lang. Also bin ich halt alleine gefahren. Wenn man gut trinkt und isst, ist das kein Problem. Das ist doch, wie alles im Leben, nur Kopfsache. Noch besser war es diesen Sommer bei einer Ausfahrt eines Sponsors von mir. Wir haben nach 70 Kilometern erst mal ausgiebig gefrühstückt, nach 120 Kilometern ein Hendl gegessen und am Nachmittag gab es Kaffee und einen Zwetschgendatschi mit ganz viel Sahne. Das waren die wirklich schönsten 200 Kilometer in dieser Radl-Saison. 40 Radlfahrer und Radlfahrerinnen waren dabei, auch die Steffi Böhler.
Manchmal frage ich mich schon, warum ich das mache. Wenn ich dann allerdings da oben auf dem Gipfel stehe, dann will ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen. Mit keinem.
TOUR: Die Langläuferin gewann bei den Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften schon einige Medaillen.
Ferdinand Kraller: Die Frau ist der Wahnsinn. Die ist in der Saison gerade dreimal auf dem Rennrad gesessen.
TOUR: Und wie viele Kilometer haben Sie in den vergangenen Jahren so abgespult?
Ferdinand Kraller: Im Schnitt waren es neben dem Wandern meist 5000 bis 6000 Kilometer im Jahr. Wenn man das auf 40 Jahre hochrechnet, sind das etwas mehr als 200.000 Kilometer. Ich bin – wenn Sie so wollen – schon fünfmal um die Erde geradelt. Dieses Jahr fühle ich mich wirklich wieder fit.
TOUR: Können Sie auch mal genug kriegen?
Ferdinand Kraller: Nie. Wenn ich vom Radeln heimkomme, schaue ich gleich im Fernsehen wieder Straßenrennen an. Ich habe die Tour de France live verfolgt, ebenso den Giro und die Vuelta. Bei einem alkoholfreien Weißbier sitze ich staunend vor dem TV und schaue, was die Jungs wie ein Jonas Vingegaard oder ein Wout van Aert so machen. Wahnsinn! Wenn die Jungs an einem Tag 4000 Höhenmeter machen und dann noch einen 40er-Schnitt fahren, das imponiert mir. Da muss ich glatt am nächsten Tag gleich selbst wieder los.
TOUR: Wie ernähren Sie sich eigentlich?
Ferdinand Kraller: Gesund. Bei allem ist immer am Mittag und am Abend ein Salat und Gemüse dabei. Fleisch essen meine Frau Kathi und ich immer weniger. Das haben wir von unserer Tochter Kathrin, sie ist seit 19 Jahren Vegetarierin und Kräuter-Pädagogin. Sie zeigt meiner Frau und mir, wie toll vegetarische Gerichte wie Linsen-Lasagne oder Rote-Bete-Risotto schmecken können und wie einfallsreich man mit Gewürzen wie Kreuzkümmel und Chili sowie Kräutern wie Bärlauch und Zitronen-Thymian Gerichte verfeinern kann. Mein Problem sind nur die Mehlspeisen, also Dampfnudeln, Kaiserschmarrn und Apfelstrudel. Da kann ich unmöglich Nein sagen, keine Chance.
TOUR: Wie sind Sie zum Langlaufen gekommen?
Ferdinand Kraller: Mit 34 habe ich aufgehört, Fußball zu spielen, weil mir jeder Knochen wehtat. Dann habe ich auf Anraten meiner Freunde einen Berglauf gemacht. Mitten im Rennen dachte ich: “Ja mei, was machen denn die alle da vorne? Jetzt geht`s halt endlich mal zu!” Die waren mir alle viel zu langsam, also habe ich sie in meinem ersten Wettkampf überholt.
TOUR: An wie vielen Rennen haben Sie teilgenommen?
Ferdinand Kraller: Wie viele werden das gewesen sein? Vielleicht 200? Da waren echt ein paar ganz tolle Rennen dabei. Besonders gut hat mir der Jungfrau-Marathon gefallen. 42 Kilometer, knapp 2000 Höhenmeter. Allein schon der ist spektakulär, wenn man zur Jungfrau hochschaut. Während des Rennens sieht man dann das berühmte Dreigestirn der Alpen: den Eiger, den Mönch und die Jungfrau. An der Strecke schwingen die Menschen Fahnen, blasen in ihre Alphörner, bimmeln mit riesigen Kuhglocken.
TOUR: Und hier im Berchtesgadener Land …
Ferdinand Kraller: ... bin ich überall schon hochgerannt. Auf den Watzmann, den Geisberg, den Hochries. Das waren in den 70er- und 80er-Jahren echt wilde Zeiten, als wir im Winter immer auf den Rauschberg gestapft sind. Mit Langlaufskiern, wohlgemerkt.
Fleisch essen meine Frau und ich immer weniger. Mein Problem sind nur die Mehlspeisen, also Dampfnudeln, Kaiserschmarrn und Apfelstrudel. Da kann ich unmöglich Nein sagen, keine Chance.
TOUR: Moment mal! Mit Langlaufskiern?
Ferdinand Kraller: Früher gab es noch keine Skitourenskier. Also habe ich Felle zurechtgeschnitten und sie dann unten an meinen Langlaufskiern befestigt. Nur das Abfahren war a bisserl problematisch.
TOUR: Weil Langlaufskier keine Kanten haben?
Ferdinand Kraller: Eisig sollte es nicht sein, sonst ist man schneller unten, als es einem lieb ist (lacht). Wir sind da teilweise den Berg ganz schön runtergekugelt. Nichtsdestotrotz ist für mich Langlaufen der beste Sport der Welt.
TOUR: Was begeistert Sie an dem Wintersport?
Ferdinand Kraller: Zwei Sachen. Erstens die Natur. Was gibt es Schöneres, als bei strahlendem Sonnenschein und verschneiter Winterlandschaft zu sporteln? Für mich ist es das Größte. Man ist eins mit der Natur, eins mit sich. Niemand stört einen. Es gibt kein Telefon, nix.
TOUR: Und zweitens?
Ferdinand Kraller: Die Technik. So einfach, wie es aussieht, ist es ja nicht. Der ganze Körper ist in Bewegung, vom linken großen Zeh bis hin zum rechten Ohr. Für meine Verhältnisse bin ich ganz ordentlich unterwegs, dennoch möchte ich noch besser werden – im Besserwerden.
TOUR: “Ordentlich unterwegs” ist ein Understatement. Seit knapp 40 Jahren gewinnen Sie ein Rennen nach dem anderen, wurden 41-mal Deutscher Meister. Was hat sich bei Ihnen in den vier Jahrzehnten verändert? Werden Sie gelassener?
Ferdinand Kraller: Gar nichts hat sich verändert. Ich will mich noch genauso schinden wie vor 30, 40 Jahren. Sobald ich am Start eines Wettkampfs stehe, bin ich voll motiviert, bereit alles zu geben, alles aus meinen 65 Kilo herauszuholen. Warum das bei mir so ist, weiß ich gar nicht. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich ein Wettkampf-Typ bin. Ich liebe die körperliche Herausforderung, die Anspannung und auch das “Sichverausgaben”. Das taugt mir total.
TOUR: Bei den ganzen Medaillen, die Sie errungen haben, kann man schnell die Übersicht verlieren. Wie oft wurden Sie Weltmeister?
Ferdinand Kraller: Ich habe 30 Medaillen errungen: 16 goldene, zehn silberne, viermal Bronze. Und ich bin nach wie vor ehrgeizig. Beim Masters World Cup, also der Senioren-WM in Seefeld, habe ich im Frühjahr mit der deutschen Staffel noch mal Silber gewonnen. Meine Freunde und Bekannten hingegen verstehen das oft nicht. “Mensch Ferdl, wie lange willst du dir das noch antun?”, fragen sie.
TOUR: Und? Wie lange wollen Sie sich das noch antun?
Ferdinand Kraller: Thomas Gottschalk hat mal gesagt, dass er froh sei, dass die Leute ihn immer noch sehen und hören wollen. Es sei daher eine große Ehre für ihn, wenn er in seinem Beruf alt werden darf. Mir geht es genauso mit meinem Sport. Der große Unterschied zu ihm ist, dass ich meine Wettkämpfe ja nur für eine Person auf der Welt mache: für mich. Warum sollte ich also aufhören, wenn mir der Sport so guttut?
TOUR: Da sind Sie nicht alleine. Professor Andreas Nieß, Direktor der Sportmedizin der Uni Tübingen, sagt, dass Langlaufen “unter gesundheitlichen Aspekten eine nahezu perfekte Bewegungsform” ist. Es sei gelenkschonend und trainiert neben der Bein- und Rumpfmuskulatur auch besonders den oft vernachlässigten Schultergürtel und die Arme. Langlaufen fördere die Kraftausdauer, beanspruche und trainiere aber auch das Koordinations- und Balancevermögen.
Ferdinand Kraller: Mit dem Joggen habe ich bereits vor 15 Jahren aufgehört. Langlaufen geht immer. Noch heute mache ich gerne mal eine große Runde. 100 Kilometer sind ja schnell gemacht. Fünf Stunden, und schon hat man die 100 Kilometer im Trainingsbuch stehen.
TOUR: Was war Ihr schönstes Erlebnis?
Ferdinand Kraller: Die WM 2011 in Kanada. Vier Goldmedaillen habe ich dort abgeräumt, das war die schönste Zeit meiner Karriere. Und die lustigste. Mit dabei war mein Nachbar Herbert. Der schickte ständig tagesaktuelle Geschichten über mich in die Heimat. Ich dachte mir nur die ganze Zeit: “Was schreibt der Herbert da eigentlich immer den ganzen Tag?” Erst später erfuhr ich, dass der Herbert mich “Russenschreck” genannt hatte. So stand es in der “Südostbayerischen Rundschau”. Als ich heimkam, war in Teisendorf die Hölle los.
TOUR: Wie meinen Sie das?
Ferdinand Kraller: Die haben meinetwegen die Straßen in Teisendorf gesperrt, mich zusammen mit der Musikkapelle Teisendorf nach Hause begleitet, später am Abend sind wir noch ins Rathaus marschiert. Mir war das unangenehm, ich bin nicht so der Typ Mensch, der gerne im Rampenlicht steht. Eigentlich wollte ich nach 25 Stunden auf Reisen nur noch ins Bett fallen. Stattdessen stand ich auf dem Rathausbalkon vor Hunderten von Menschen.
Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich ein Wettkampf-Typ bin. Ich liebe die körperliche Herausforderung, die Anspannung und auch das “Sichverausgaben”. Das taugt mir total.
TOUR: Auf wie viele Stunden Training kommen Sie in der Woche?
Ferdinand Kraller: Im Sommer sind es bis zu 25 Stunden Training, im Winter nur so 10, 15 Stunden. Im Winter komme ich bei den Wettkämpfen auch auf einen Durchschnittspuls von 155 und einen Maximalpuls von 160. Im Sommer erreiche ich das nicht.
TOUR: Haben Sie eigentlich noch Ziele?
Ferdinand Kraller: Eigentlich habe ich alles, was ich auf Erden so machen wollte, gemacht. Ich hoffe, dass es im Himmel so schön ist wie hier unten in Bayern. Und dass der liebe Gott ein Paar Langlaufskier für mich da oben bereitgestellt hat. Und über ein gscheids Radl würde ich mich auch nicht beschweren (grinst).
Geboren und aufgewachsen ist Ferdinand Kraller auf einem Bauernhof. Der Fußball war seine erste Passion, die er aus gesundheitlichen Gründen mit 34 Jahren aufgeben musste. Auf Anraten eines Freundes begann er mit Berglauf und entdeckte schnell seine Leidenschaft für den Ausdauersport. Im Skilanglauf hat er insgesamt 16 Masters-Weltmeistertitel gewonnen, er absolviert aber auch bis zu 10.000 Kilometer pro Jahr auf dem Rennrad und Mountainbike. Der 72-Jährige ist verheiratet, zweifacher Großvater und lebt im oberbayerischen Teisendorf im Landkreis Berchtesgadener Land.