Hervé Barmasse im TOUR-Interview“Man denkt nie ans Umkehren”

Andreas Haslauer

 · 05.11.2025

Hervé Barmasse im TOUR-Interview: “Man denkt nie ans Umkehren”Foto: Tourismusverband Alta Badia
Der Ausnahmebergsteiger Hervé Barmasse im Interview
​Der italienische Bergsteiger Hervé Barmasse hat am Matterhorn neue Kletterrouten ­gefunden und Achttausender im Himalaya bestiegen. Der begeisterte Radsportler hatte ­auch die Idee zur „Supermaratona“ und hat die 13-Pässe-Tour als Erster bewältigt.

​Er ist ein Ausnahme-Bergsteiger und Berg-Philosoph: Der Italiener Hervé Barmasse, der im Dezember 48 Jahre alt wird. Im Interview erklärt der Kletterer aus dem Aosta-Tal, warum der Radsport die beste aerobe Basis für sein Alpin-Training ist und wie es dazu kam, dass er die Rennradtour „Supermaratona“ entwickelt hat. „Emotionen kann man nicht kaufen – man muss sie erleben“, sagt er. ­Außerdem will er etwas schaffen, was bleibt. Neben seinen in der Bergsteigerwelt hochangesehenen Leistungen am Matterhorn und im Himalaya gehört dazu nun auch die Idee des anspruchsvollsten Radmarathons in den Alpen.

Interview mit Hervé Barmasse

TOUR: Hervé Barmasse, Sie sind unterhalb des 4478 Meter hohen Matterhorns in einer Bergsteigerfamilie aufgewachsen. Wie kommen Sie als Extrembergsteiger zum Rennradfahren?

Hervé Barmasse: Das ist eine wirklich berechtigte Frage (lacht). Im Erst: Vor ein paar Jahren habe ich eine Einladung zur Teilnahme an der Maratona dles Dolomites bekommen, dem bekannten Radmarathon mit 138 Kilometer Länge und 4.200 Höhenmetern, also einmal die bekanntesten Pässe in den Dolomiten rauf und wieder runter. Von der Maratona hatte ich zwar mal gehört, sie aber nicht wirklich gekannt. Deswegen begann ich, mein Training als Alpinist mit dem Rennradfahren zu ergänzen. Zuvor spielte das Radfahren in meiner sportlichen Welt kaum eine Rolle, abgesehen von ein paar spaßigen Ausfahrten mit Freunden. Ansonsten verfolgte ich den Radsport nur bei großen Etappenrennen im Fernsehen. Heute trainiere ich im Winter auf der Rolle, das ist eine hervorragende Ergänzung zum Skibergsteigen und ideal für gezielte Trainingsreize. Im Sommer, genauer gesagt von Mai bis Juni, fahre ich auf der Straße, um eine gute aerobe Basis für das ­Alpin-Training zu schaffen.



TOUR: Auf wie viele Kilometer kommen Sie dann im Jahr?

Hervé Barmasse: Im vergangenen Jahr habe ich zwischen dem Rollentraining und den Ausfahrten auf der Straße insgesamt 3.500 Kilometer zurückgelegt, davon 2.300 vor der Supermaratona. Ich weiß, dass das nicht besonders viel ist, aber man muss bedenken, dass ich in erster Linie Alpinist bin und die Zeit, die ich dem Rad widmen kann, begrenzt ist und sich mit anderen Trainingsarten abwechselt.

TOUR: Fühlen Sie sich mittlerweile schon als echter Rennradfahrer?

Hervé Barmasse: Ich spüre als Sportler immer mehr das Bedürfnis, die Welt des Radsports ernsthafter zu erkunden und strukturierter zu trainieren, weil ich die positiven Effekte deutlich wahrnehme. Außerdem beginne ich, ein Projekt zu entwickeln, das Berg, Alpinismus und Radfahren vereint – drei Leidenschaften, die gemeinsam etwas Einzigartiges erzählen könnten. Eine Seite zwischen Radsport und Alpinismus, die noch nie geschrieben wurde, aber sehr schwer umzusetzen sein wird.

TOUR: Davon müssen Sie erzählen!

Hervé Barmasse: Noch ist es geheim. Sie sind dann aber sicher der Erste, der davon erfährt (grinst).

TOUR: Einverstanden. Wie lange haben Sie für die Supermaratona mit 8.400 Höhenmetern und knapp 300 Kilometern gebraucht?

Hervé Barmasse: Exakt fünfzehn Stunden, neun Minuten und achtunddreißig Sekunden war ich in Bewegung. Es war wirklich meine längste, aber zugleich auch schönste und emotionalste Fahrt. Auf dem Rad – es war damals im Frühjahr – war ich mir nicht sicher, ob ich diese Kilometer und Höhenmeter an einem so intensiven und leider sehr kalten Tag gut bewältigen könnte. Auf den Pässen lag die Temperatur noch nahe am Gefrierpunkt. Doch dank der Erfahrung, die ich im Himalaya gesammelt habe, ist alles gut verlaufen.

TOUR: Sind Sie also zufrieden mit sich?

Hervé Barmasse: Sagen wir so: Ich bin mit einem gewissen Puffer ins Ziel gekommen.

TOUR: Was haben Sie während den 15 Stunden alles gegessen?

Hervé Barmasse: Am Anfang habe ich ein Ernährungsschema verfolgt und versucht, 30 bis 60 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde ­zuzuführen, mit Pausen, in denen ich mir auch zweimal einen Teller Pasta gegönnt habe. In den letzten 70 Kilometern hatte ich dann das Bedürfnis nach Süßem und demmit kleinen Leckereien wie Croissants und Blätterteiggebäck mit gebackenen Äpfeln nachgegeben. Ich habe einfach auf das gehört, was mein Körper verlangt hat. Eis hätte ich zwar lieber gegessen, aber an diesem Tag war es einfach viel zu kalt (lacht).

TOUR: Und wieviel haben Sie getrunken?

Hervé Barmasse: Etwa sechs, sieben Liter. Vielleicht nicht viel, aber bei niedrigen Temperaturen und einem gemäßigten Tempo war das ausreichend.

TOUR: Ihr Bergsteiger-Kollege Reinhold Messner vertritt den Standpunkt, dass es für eine Gesellschaft, die Produktivität und Profit zum Maßstab des Wohlstandes erhoben hat, völlig absurd sei, auf irgendwelche Berge zu steigen. Schließlich würde er nichts herstellen, keine Dienstleistung anbieten. Wie sehen Sie das?

Hervé Barmasse: Es stimmt: Aus wirtschaftlicher oder utilitaristischer Sicht hat das Besteigen von Bergen keinen wirklichen Nutzen. Zum Glück bemisst sich das menschliche Wohlbefinden nicht nur in Profit oder greifbaren Ergebnissen. Emotionen kann man nicht kaufen – man muss sie erleben. Und ich habe dem wachsenden Kontostand immer die Freiheit vorgezogen, meine Zeit für etwas zu nutzen, das für andere vielleicht sinnlos erscheint, für mich aber essenziell ist: das Klettern. Bergsteigen tut mir gut: an Fels- und Eiswänden genauso wie auf schmalen Graten fühle ich mich im Gleichgewicht und innerlich ruhig. Außerdem gibt es heute Menschen, die sehr reich sind – und dennoch zutiefst unglücklich. Ich hingegen finde mein Glück in der Einfachheit einer Bewegung: dem Aufstieg.

TOUR: Wie erklären Sie das einem Nichtbergsteiger?

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Hervé Barmasse: Wenn ich alleine eine neue Route erschließe – wie zum Beispiel am Matterhorn – frage ich mich nicht, ob das, was ich tue, irgendeinen Nutzen hat. Ich höre in mich hinein und konzentriere mich nur darauf, keinen falschen Schritt zu machen. Darauf, mit allem um mich ­herum verbunden zu bleiben: mit meinen Sinnen, der Natur, meinen Stärken und Schwächen. Jede interessante Herausforderung – nicht nur im Sport – ist eine Gelegenheit, zu wachsen und fürs Leben zu lernen.

TOUR: War die Supermaratona in diesem Sinne eine interessante Herausforderung? Und auch eine nützliche?

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Hervé Barmasse: Die Supermaratona war eine unglaubliche Gelegenheit, mich in einem Umfeld herauszufordern, das nicht mein gewohntes Terrain ist. Um meine Komfortzone zu verlassen. Nützlich oder nutzlos? Ich habe den Radsport erlebt, als wäre es eine Besteigung im Himalaya – ein Abenteuer, bei dem man das Ziel Schritt für Schritt erreicht, wie den Gipfel eines Achttausenders. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Der richtige Schritt, das richtige Tempo, die richtige Frequenz. Ich habe es nicht getan, um einen Rekord zu brechen, sondern um mich selbst auf die Probe zu stellen. Im Ziel war ich glücklicher als beim Start. Wäre ich zu Hause geblieben, hätte ich das alles nicht erlebt. Und wenn ich mein Leben nicht im Einklang mit der Natur leben würde, wäre mir das wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen.

TOUR: Was ist der körperliche Unterschied zwischen einer Achttausender-Expedition im Himalaya und der Supermaratona in den Dolomiten?

Hervé Barmasse: Der Radsport ist vielleicht die einzige Sportart, die dem Gefühl nahekommt, das man beim Besteigen eines großen Berges wie einem Achttausender erlebt. Je höher man steigt, desto anstrengender wird es; je mehr Kilometer man zurücklegt, desto mehr spürt man, wie der Körper an seine Grenzen kommt – und doch denkt man nie ans Umkehren, sondern fragt sich nur, wie man weitermachen kann. In diesem Punkt sind Radfahren und Berge, Radsport und Alpinismus ein und dasselbe.

TOUR: Was ist Ihr Rat an andere Menschen?

Hervé Barmasse: Wir haben nur einen begrenzten Zeitraum, um unsere Ziele und Träume zu verwirklichen. Da sollte man versuchen, etwas Denkwürdiges zu schaffen. In erster Linie für sich selbst. Wenn alle anderen das dann auch für denkwürdig halten, ist das eine schöne Sache.

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