Die Rettung kommt geradezu rasend näher. Von hinten. Es pfeift kurz, dann ist der Verfolger vorbei. Es folgt der Beißreflex des Radsportlers. Ein paar schmerzhafte Pedaltritte weiter und ich habe mich in den Windschatten des Mannes gesogen, der zwar eigentlich zu schnell ist – aber welche Wahl bleibt einem zwischen langsam solo oder dank Vordermann schneller zu zweit? Ein kurzes „Oi“, das portugiesische Hallo, und der neue Schrittmacher stellt sich als Thiago aus Porto vor. So viel Zeit muss sein – selbst im Rahmen eines Jedermannrennens wie dem Granfondo Algarve. Dann zieht mein neuer Begleiter etwas aus der Trikottasche, was auf einen Radsportler so wirkt wie eine Karotte auf einen Hasen: der Anblick von kurzkettigem, schnell wirkendem Zucker. Kaum ist mir das Wasser beim Anblick im Munde zusammengelaufen, reicht mir mein Windschattenspender die Hälfte seines Snickers-Riegels. Rettung in der Not. Großes Fairplay. 100 Kilometer und rund 2000 Höhenmeter habe ich in den Beinen, die sich gerade sehr, sehr schwer anfühlen – und auch der Blutzuckerspiegel zieht mich eher nach unten. Bis ins Ziel des Granfondo sind es immerhin noch rund 30 Kilometer – und die Höchstschwierigkeit liegt noch auf dem Weg. Da ist jedes bisschen neue Energie sehr willkommen.
Was ihn aus der Hafenstadt im Norden so weit in den Süden gezogen hat, frage ich Thiago. „Für mich ist die Algarve einer der schönsten Plätze auf der Welt“, sagt der Brasilianer mit Wahlheimat im Norden Portugals. „Ich wollte meine Frau mitnehmen und hier meinen ersten Granfondo in Portugal bestreiten. Wir haben uns dafür entschieden, weil wir beide begeisterte Radsportfans sind und hier auch die Algarve-Rundfahrt der Profis sehen können“, erzählt er. Die Südküste Portugals und ihr Hinterland sind eine gelobte Radsportregion – speziell im Frühjahr. 3000 Sonnenstunden pro Jahr weist die Statistik für diesen Landstrich an der Südwestspitze Europas aus; besser ist es nirgends auf dem Kontinent. Auch nicht im Rest Portugals. „In Porto haben wir jetzt nicht so gutes Wetter – es regnet viel mehr“, erzählt Thiago an diesem sonnigen Tag Ende Februar – der Brasilianer hat sich vor allem auf einem Smarttrainer und der Internet-Plattform Mywhoosh in Form gebracht.
Um die Vorzüge der Algarve, gerade für Radsportler, wissen die Einheimischen – speziell beim dort ansässigen Radsportverband. Weshalb man vor ein paar Jahren den Beschluss gefasst hat, nicht nur die Radprofis zur Algarve-Rundfahrt Ende Februar zu laden, sondern am Rande des Etappenrennens auch Hobbyradsportler zu einem Jedermann-Event in die Region zu locken. Die Strecke des Granfondo Algarve führt 2025 über einen Teil der 4. Etappe des Profirennens. Die Langstrecke misst 130 Kilometer und 2200 Höhenmeter. Für weniger Geübte gibt es eine Schleife mit rund 90 Kilometern und knapp 1400 Höhenmetern. „Wir wechseln die Strecke jedes Jahr“, sagt Ricardo Rodrigues, Präsident des regionalen Radsportverbands ACA, dessen Firma Bikesul praktischerweise mit Mieträdern für weitgereiste Teilnehmer Geld verdient. „Wir haben immer zwei Strecken, für jeden etwas. Wir wollen unser Hinterland zeigen und die Strecken dort mit wenig Verkehr und den typischen kleinen Dörfern“, betont Rodrigues. Schön soll es sein, aber auch hart. „Es muss eine Herausforderung sein. Wenn man ein flaches Rennen bestritten hat, dann wird man sich nicht daran erinnern. Es muss hart sein“, sagt er – schmerzhafte Erinnerung als Werbemaßnahme.
Der Radsportverband der Region Algarve rief zum Saisonstart, und fast tausend Radsportlerinnen und Radsportler kamen zum Granfondo nach Faro. Der Mountainbike-Profi Filipe Francisco als Lokalmatador, der Brasilianer Thiago aus Porto, Christiane, Hochschullehrerin aus Magdeburg, die während der Semesterferien dringend eine Pause von Hörsaal und Klausuren brauchte, oder Peter Leissl, der langjährige Tour-de-France-Kommentator des ZDF im Ruhestand. Alle hatte die Aussicht auf ein paar Rad-Kilometer in der Wärme gelockt und so stehen sie frühmorgens am Start. Kurz, kurz – im Februar. Angetrieben von mehr oder weniger großem Ehrgeiz.
Aus der Distrikt-Hauptstadt Faro, auf deren Flughafen die Touristen landen, geht es gleich sportlich los. Bald stellt sich die erste Rampe in den Weg. „Bist du Rui Costa?“, ruft ein Teilnehmer einem anderen zu, der gerade an ihm vorbeifliegt. „Ich bin João Almeida“, antwortet dieser und ist schon weg. Die Gedanken an Rui Costa, den portugiesischen Straßen-Weltmeister von 2013, und an den derzeit stärksten Radprofi Portugals, Almeida, euphorisieren die einheimischen Radsportler. Wehe, man lässt sich mitreißen – ohne einen reifen Gedanken an die schlechte eigene Winter-Vorbereitung zu verschwenden, und daran, dass kurz darauf mehr als die Hälfte des Feldes auf die Kurzstrecke abzweigt, und man sich auf der Langstrecke plötzlich ziemlich allein in den hügeligen Weiten durch Eukalyptus-Wälder kämpft. Einziger Lohn für die einsamen Mühen: atemberaubende Weitblicke von den Höhenzügen der Serra über das Hügelland Barrocal bis zur Küstenlinie, wenn man sich endlich dem Ziel sichtbar nähert. Aber das dauert. Die Streckenplaner lenken die Teilnehmer auf eine gleichermaßen anstrengende wie berauschende Achterbahnfahrt an der Hangkante der Serra. Immer wieder rauf und runter – als hätte man nicht langsam genug Höhenmeter in den Beinen. So geht es Tritt für Tritt weiter. Bis Thiago kommt.
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Später sagt Thiago über die Strecke: „Es war unglaublich, speziell der letzte Teil nach der Streckenteilung, wenn man praktisch alleine unterwegs ist und über das Rennen und sein ganzes Leben nachdenkt.“
Dann sehe ich nur noch den Rücken seines Trikots. Kaum hat mir Thiago seinen Schokoriegel in die Hand gedrückt, ist er auch schon enteilt. Vor uns türmt sich der Berg Cerro de São Miguel wie eine Wand auf. Mit einem Fingerzeig auf den Funkmasten auf dem Gipfel hatten uns unsere Guides schon in den Tagen zuvor bei den Trainingsrunden auf die Höchstschwierigkeit im Finale des Granfondo hingewiesen. „Es ist ein bekannter Anstieg, viele trainieren hier, auch die Profis. Man kann von oben die komplette Algarve überblicken“, sagt Filipe Francisco, den wir am Tag nach dem Rennen im bekannten Radsportcafé Germano im Bergdorf Alte treffen. Der Mountainbike-Profi hat die Langstrecke gewonnen – dank starker Wattwerte, aber auch dank Streckenkenntnis. Wohl dem, der auf diesem Terrain genau weiß, wann und wo er seine Kräfte gezielt einsetzt – auf dem groben Asphalt, auf dem es schlecht rollt, und an den steilen Rampen, die nur Profis in Frühform stürmen können. Alle anderen stemmen sich eher mit letzter Kraft bergwärts. Das Sträßchen auf den Sao Miguel ist so etwas wie eine verlängerte Mischung aus Mur de Huy, Oude Kwaremont, Côte de la Redoute und Paterberg, den Schlüsselstellen der Frühjahrsklassiker in Belgien. Der Asphalt bröselt, die Steigung liegt über zweieinhalb Kilometer bei neun Prozent im Durchschnitt. Die famosen Weitblicke auf die weiten Wasser des Atlantiks und die wenige Kilometer entfernte Küstenlinie kann man sich kaum leisten – die Nasenspitze drückt auf den Vorbau, die Augen suchen die Fahrlinie mit der besten Traktion auf dem rumpeligen Untergrund.
Während die Hobbyradsportler eher versprengt vom Ausflug ins Hinterland im Ziel in Faro kommen, und sich die ansteigende Zielgerade hinaufplagen, sehen sie später bei den Profis einen Massensprint, in dem der belgische Cofidis-Profi Milan Fretin seinen Landsmann Jordi Meeus (Red Bull - BORA - hansgrohe) niederringt. Auch Emanuel Buchmann, Maximilian Schachmann, John Degenkolb, Wout van Aert, Primož Roglič und Filippo Ganna holen sich auf den fünf Etappen Rennhärte, das Gesamtklassement entscheidet tags darauf der zweimalige Tour-Sieger Jonas Vingegaard vor Portugals aktuell bestem Radprofi João Almeida für sich. Die Strecken? „Es geht immer links, rechts, hoch, runter. Man hat nach jeder Kurve diese kleinen Antritte, kleine Anstiege, im Rennen rollt es nie so richtig. Es ist sozusagen Klassikerfahren im Süden“, so beschreibt es Schachmann, der an der Algarve sein Debüt im Trikot von Team Soudal Quick-Step gab. „Es ist ein Rennen mit Gute-Wetter-Garantie und bietet einen guten Mix inklusive wunderschöner Landschaft. Jeder fährt hier gerne“, ergänzt Schachmann, der seinen Saisonstart bei der Algarve-Rundfahrt schließlich als Fünfter beendet. Was für die Profis perfekt klingt, soll jetzt immer mehr Hobbyradsportler an die Algarve locken. Die Teilnehmerzahl des Granfondo ließe sich verdoppeln, schätzt Verbandschef Rodrigues, der auch Geschäftsmann ist. An der Algarve glauben sie fest an die Anziehungskraft der Sonne auf Radsportler – gerade früh im Jahr, wenn es andernorts in Europa noch oft finster und kalt ist.
Das Jedermannrennen, zuletzt mit zwei unterschiedlichen Distanzen, findet alljährlich im Rahmenprogramm des Profi-Rennens der Algarve-Rundfahrt an wechselnden Austragungsorten statt. Bei unserer Teilnahme im Jahr 2025 waren die Strecken nicht komplett gesperrt – Vorsicht ist daher geboten. Austragungsort und Strecke für 2026 waren laut Veranstalter bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt.
Nächster Termin: 21. oder 22. Februar 2026
Der Februar ist ideal fürs Radfahren im Süden Portugals. Die Temperaturen sind mild bis warm – in der Regel tagsüber um die 15 bis 20 Grad. Regentage sind selten. Grundsätzlich gilt die Algarve als eine der sonnenreichsten Regionen Europas – laut Statistik kommen bis zu 3000 Sonnenstunden pro Jahr zusammen. Nur die Sommermonate sind ungeeignet: Es wird sehr heiß, und während der Hauptreisezeit herrscht viel Verkehr auf den Straßen in der Tourismusregion.
Aufgrund der Entfernung ist die Anreise aus Deutschland per Flugzeug empfehlenswert. Der internationale Flughafen in Faro wird aus Deutschland direkt u.a. aus Berlin, Frankfurt am Main, Hannover, Köln, Düsseldorf und Memmingen angeflogen.
Wir waren mit dem Veranstalter Bikesul vor Ort, der rund um Granfondo und Profirennen eine mehrtägige Radreise mit Hotel, Radvermietung, geführten Touren, Besuch beim Profirennen und Granfondo-Teilnahme anbietet.
Das Revier an der Atlantikküste ist abwechslungsreich. Wer will, kann reichlich Höhenmeter sammeln. Die Asphaltqualität ist unterschiedlich – man sollte sich vorab informieren, ob die geplante Route wirklich durchgängig asphaltiert ist. Die Steigungen sind mitunter hochprozentig – eine richtige Bergübersetzung ist gerade im Hinterland empfehlenswert.