Kristian Bauer
· 06.09.2025
Fit schaut Luc Bauer nicht mehr aus. Die Farbe ist aus dem Gesicht des 18-Jährigen gewichen, sein Blick geht immer wieder ins Leere. So hart hatte er sich den Test seiner persönlichen Grenzen nicht vorgestellt. Seit Jahren fährt der junge Mann aus Fehraltorf Radrennen, bei denen er ans Limit gehen muss. Harte Attacken beim Rundstreckenrennen, die man mitgeht, um nicht aus der Gruppe zu fliegen, schnelle Antritte nach engen Kurven bei Kriterien, die in den Beinen brennen oder der verzweifelte Kampf am Hinterrad auf windanfälligen Geraden. All das kennt Luc als Rennfahrer in der U23-Klasse. Was er nicht kennt, ist diese große Müdigkeit und das Kopfweh. „Was habe ich mir da nur eingebrockt – nie wieder“, murmelt er vor sich hin. Dabei ist er selbst schuld an seiner Misere – niemand hat ihm vorgegeben, wie weit er fahren soll.
Er selbst hat sich in den Kopf gesetzt, 500 Kilometer zu absolvieren – bisher waren 250 Kilometer die längste Strecke, die er je auf dem Rennrad zurückgelegt hat. Die letzten 15 Stunden haben ihn schwer gezeichnet und sein Ziel ist noch weit entfernt. Eigene Grenzen zu überwinden und Ziele zu erreichen, ist das verbindende Motto der Tortour. Das Aushängeschild der Veranstaltung ist die 1.000-Kilometer-Distanz – im Angebot sind aber auch die Strecken über 500 und 250 Kilometer. Das Format „Tortour Myself“ schließlich ist an gar keine Distanz gebunden. Eine Runde ist 50 Kilometer lang und wie oft man sie im Zeitlimit abspult, entscheidet jeder selbst.
Was habe ich mir da nur eingebrockt? Das mache ich nie wieder - ich bin müde und mein Kopf tut weh! - Luc Bauer, Radrennfahrer
Nach jeder Runde kehrt man wieder an den Startort zurück; dort kann man sich verpflegen und ausruhen. Die KEK-Eishalle in Küsnacht bei Zürich bildet Start, Ziel und Basislager der Tortour 2025. Wer große Ambitionen hat, startet am Freitag um 17.15 Uhr und fährt die Nacht durch – wer kleinere Ziele hat, kann auch erst am Samstagmorgen auf die Strecke gehen. Wie viele Runden man bis Zielschluss um 17.15 Uhr fährt, bleibt jedem selbst überlassen. Und so starten bei der Tortour Myself zwar alle am gleichen Ort und kommen im gleichen Ziel an – wie viel Strecke dazwischen liegt, ist offen.
Am Freitagnachmittag ist Luc noch euphorisch. Am geöffneten Tor der Eishalle steht ein aufgeblasener Torbogen, dahinter liegt eine Abstellfläche für Räder, links eine Verpflegungsstation und rechts eine große Bühne. In der abgetrennten zweiten Hälfte der Halle sind Bierbänke und Tische aufgebaut. Durch die ganze Halle wuseln Radfahrerinnen und Radfahrer, füllen ihre Flaschen auf, stecken noch ein Gel oder Riegel ein und blicken immer wieder auf die große Uhr.
Es ist Freitag, kurz nach 17 Uhr, und bald fällt der Startschuss für die Tortour Myself. Das Motto „Der Weg ist das Ziel“ war noch nie so zutreffend: U23-Fahrer Luc Bauer will die Grenze von 500 Kilometern knacken, die 42 Jahre alte Triathletin Sabrina Steinemann will das erste Mal in ihrem Leben 300 Kilometer schaffen und Oliver Keller, 30 Jahre, peilt 150 Kilometer an. Letzterer ist noch gar nicht in der Halle – er wird erst morgen um 8.00 Uhr starten. Luc und Sabrina hingegen warten schon ungeduldig auf den Start und freuen sich auf die Strecke und die Herausforderung. Sabrina hat schon Triathlons von der Sprint-, über die Mittel- bis zur Langdistanz gemacht, aber weiter als 220 Kilometer ist sie noch nie mit dem Rad gefahren.
„Ich freue mich, in was Längeres zu schnuppern. Beim Triathlon weiß ich, was auf mich zukommt – jetzt bin ich gespannt, wie sich der Körper anfühlt, wenn ich über eigene Grenzen gehe.“ Auch Luc ist voller angespannter Vorfreude. „Eigene Grenzen testen“, lautet sein klares Ziel. Im Radverein ist er es gewohnt, bei Radrennen schnell zu fahren. Mehr als 250 Kilometer ist er aber noch nie gefahren. Sorgen bereitet ihm, wie er mit der Müdigkeit zurechtkommen wird; zunächst lautet sein Plan: nicht zu schnell starten.
Beim Triathlon weiß ich, was mich erwartet. Jetzt bin ich gespannt, wie sich der Körper anfühlt, wenn ich über eigene Grenzen gehe. - Sabrina Steinemann, Hobbytriathletin
Um 17.15 Uhr werden die Teilnehmer endlich auf die Strecke geschickt. Knapp 80 sind es jetzt, weitere 60 am nächsten Tag um 8.00 Uhr. „Ich kenne so viele, die schon bei der Tortour mitgemacht haben, dass ich auch mal mitfahren wollte“, erklärt Sabrina, bevor sie auf die erste Runde geht. Eine Erklärung, die Joko Vogel sicher freuen wird. Der 56-Jährige aus Zollikon hat die Tortour 2008 mit vier Freunden aus der Taufe gehoben, nachdem sie beim Race Across America einen Teilnehmer als Betreuer begleitet hatten.
Die Idee war, eine Art Schweizer Langstreckenrennen zu gründen. Inzwischen findet die Tortour zum 17. Mal statt und hat sich seither ständig neu erfunden. Der bunte Strauß an Formaten zieht in diesem Jahr rund 500 Teilnehmer an, davon knapp ein Fünftel Frauen. In der Schweiz ist die Tortour eine Institution, die in der Rennradszene jeder kennt. „Die Tortour hat so viele Geschichten geschrieben und ist eine starke Community. Wenn man sich trifft, hat man sofort ein Gesprächsthema. Das ist fast wie ein Verein – man begegnet sich immer wieder“, meint Vogel. Er fährt fast jedes Jahr bei seiner eigenen Veranstaltung mit und blickt voller Respekt auf die Teilnehmer: „Das Niveau hat sich enorm gesteigert.“
Luc und Sabrina drehen ihre ersten beiden Runden und genießen bei milden Temperaturen die Fahrt über die Strecke. In der Halle ist immer noch viel Betrieb – oft kommen größere Gruppen zurück von einer Runde. Als die Nacht näherrückt, ziehen die Fahrerinnen und Fahrer Leuchtwesten oder gelbe Jacken über, bevor sie auf die nächste Schleife gehen. Luc dreht weiter Runde um Runde, während Sabrina und ihr Freund sich in den Kofferraum eines Kombis legen, um ein bisschen zu schlafen. Vier Stunden Auszeit nehmen sich die beiden. „Wir haben aber kaum geschlafen, weil es so laut war“, meint Sabrina. Neue Kraft gibt die Ruhepause trotzdem. Luc hat diese Option nicht – aber immerhin radelt er nicht alleine durch die Nacht.
Er hat zwei Mitfahrer gefunden, mit denen er über die Strecke fährt. Am Himmel steht weithin sichtbar der Vollmond, und nach einer kurzen Nacht breiten sich über dem Zürichsee die ersten Sonnenstrahlen aus. „Ich bin fast eingeschlafen“, gibt Luc zu, als er im Morgengrauen ein weiteres Mal die Halle erreicht. Wie befürchtet ist der Kampf gegen die Müdigkeit sein größtes Problem. 2:15 Stunden hat er für die zurückliegende Runde gebraucht – das ging gestern schneller. Appetit hat er auch keinen mehr: „Ich kann nichts Süßes mehr sehen. Vor allem bekomme ich keine Gels mehr runter.“
Schon jetzt ist er ziemlich erschöpft – das Ziel der 500 Kilometer scheint immer schwerer erreichbar. Viermal noch müsste er die 50-km-Schleife absolvieren. Vor allem die Höhenmeter kosten Körner: Rund 750 Höhenmeter hat eine Runde. Wenn Luc 500 Kilometer schaffen will, muss er insgesamt 7.500 Höhenmeter hochdrücken. Die Landschaft ist gekennzeichnet durch grüne Hügel und schöne Blicke auf den Zürichsee. Gleich nach dem Start in Küsnacht geht es anstrengend bergauf, es folgt eine kurze Abfahrt und dann mit dem Pfannenstiel der Höhepunkt der Runde. Die Route ist durchgehend beschildert und führt über kleine, wenig befahrene Landstraßen. „Mega cool“, meint Sabrina. Das weiß auch Oliver Keller, der die Runde mit zwei Kumpels am Vortag schon einmal abgefahren ist. Um 8.00 Uhr steigt er dann offiziell in die Tortour ein – um die 150 Kilometer zu schaffen, die er sich vorgenommen hat, braucht es keine Nachtfahrt. Bisher ist er maximal 80 Kilometer an einem Tag geradelt – den persönlichen Rekordversuch will er mit zwei Fußballfreunden ganz entspannt angehen. Kaum zwei Stunden später sind sie schon wieder da. Die erste Runde sind die drei sehr schnell angegangen, holen sich jetzt erst einmal einen Teller Nudeln und legen eine Pause ein. In der Turnhalle herrscht jetzt ein ständiges Kommen und Gehen, denn die Teilnehmer aller Distanzen absolvieren zum Schluss die 50-km-Schleife der Tortour Myself. Gerade bricht der Luxemburger Ralph Diseviscourt unter Applaus zu seiner letzten Runde der 1.000-Kilometer-Strecke auf. Rund zwei Stunden später ist der 49-Jährige wieder da. Als er nach 39 Stunden und 38 Minuten über den Zielstrich in der Eissporthalle Küsnacht fährt, strahlt er über das ganze Gesicht. Umgeben ist er von seinem Begleitteam, dass ihn Tag und Nacht betreut hat. Monatelange Vorbereitung und ein detaillierter Plan haben sich bezahlt gemacht: Er hat den Sieg bei der Tortour 2025 in der Solo-Kategorie errungen.
„Was mir am Ultracycling so gefällt, ist, dass es so ein freundschaftliches Verhältnis unter den Fahrern gibt“, erklärt Ralph und ergänzt: „Harte Arbeit wird beim Ultracycling belohnt.“ 40.000 bis 45.000 Kilometer spult er jährlich auf dem Rad ab, einen großen Teil beim Pendeln zur Arbeit. Nur wenige Minuten später fährt Oliver Keller durch den Zielbogen. Auch er strahlt über das ganze Gesicht und freut sich über seinen persönlichen Erfolg. Ein Begleitteam hat der 30 Jahre alte Hobbyfußballer nicht und statt 1.000 ist er nur 150 Kilometer gefahren. Trainingskilometer kennt er gar nicht – schließlich ist das Rennrad nur ein Ausgleich zum Fußball.
Ich bin das erste Mal im Leben 150 Kilometer gefahren. Es hat richtig Spaß gemacht – ich werde das im nächsten Jahr auf jeden Fall wieder machen. - Oliver Keller, Hobbyfußballer
Aber auch sein Plan ist aufgegangen. Während er aber erst am Morgen gestartet ist, saß Diseviscourt schon seit Donnerstag im Sattel – so erklärt sich die fast gleichzeitige Ankunft. Eine Siegerehrung nach der anderen In der Halle wird es jetzt, am späten Samstagnachmittag, immer voller. Auf der Bühne werden die Teams und Solisten der 1000er-, 500er- und 250er-Distanz vom Sprecher begrüßt und vom Chef des Organisationskomitees geehrt. Bei so vielen Distanzen gibt es sehr viele Gewinner – eine Siegerehrung reiht sich an die andere. Freunde und Familien nehmen die ihren in Empfang – der größte Teil der Teilnehmer kommt aus der Schweiz, viele aus der Region. Man sieht überall strahlende Gesichter – die Freude und der Stolz über die eigene Leistung ist spürbar. Wenig später rollt auch Luc in die Halle.
Für Worte hat er keine Kraft mehr, still legt er sich auf den Hallenboden. 450 Kilometer hat er geschafft – nicht so viel wie erhofft, aber immer noch ein persönlicher Rekord. Das Zeitlimit ist noch lange nicht erreicht, aber sein persönlicher Akku ist zu leer, um noch einmal auf die Strecke zu gehen. Für Stolz oder Freude fehlt ihm jegliche Energie – immer noch hat er Kopfweh, seine Augen schauen ins Leere. Besser geht es da Sabrina, die nach 350 Kilometern ihr Rad abstellt und von ihrem Freund einen dicken Kuss bekommt. 50 Kilometer mehr als geplant hat sie geschafft und fühlt sich gerade richtig gut. „Die letzte Runde ging es mir besser als auf der zuvor,“ sagt sie strahlend. „Ich bin stolz, dass ich 50 Kilometer mehr geschafft habe.“ Mit ihrem Freund hat sie schon überlegt, welche Herausforderung sie im nächsten Jahr bei der Tortour in Angriff nehmen könnten. Die Premiere hat Lust auf mehr gemacht. Auch Oliver ist richtig stolz auf seine Fahrt und möchte das „im nächsten Jahr auf jeden Fall wieder machen“. Klar, dass es dann mehr Kilometer werden sollen – die Fahrt in der Nacht reizt ihn. Nur Luc ist im Ziel so erschöpft, dass er sich eine Wiederholung nicht vorstellen kann. Aber weil Schmerzen bekanntlich schnell vergessen sind, dürfte auch bei ihm das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Der Stolz auf die eigene Leistung scheint mit jedem Moment der Erholung zu wachsen. Und genau das ist es, was die Tortour so einmalig macht.
Die Tortour bezeichnet sich als größte Ultracycling-Veranstaltung Europas. In diesem Jahr kamen rund 500 Teilnehmer. Gestartet werden kann über 1.000, 500 und 250 Kilometer, sowohl alleine als auch im Team. Bei der Variante „Myself“ kann man innerhalb des Zeitlimits beliebig oft eine 50 Kilometer lange Runde absolvieren. Maximal stehen dafür 24 Stunden zur Verfügung. In diesem Jahr war Küsnacht bei Zürich Start- und Zielort – 2026 kehrt die Veranstaltung wieder nach Schaffhausen zurück. Der Startplatz für die Tortour Myself war ab 100 Euro erhältlich. Info: www.tortour.com