Plötzlich fällt alles von ihm ab. Tränen kullern Stefan Eckardt übers Gesicht, während seine Frau ihn in den Arm nimmt. 10.000 Kilometer bis Anfang August, viele Intervalle, noch mal zwei Wochen Trainingslager in Italien. Und dann ist plötzlich alles schon wieder vorbei, sein großer Traum Geschichte. Der 54-Jährige steht im Zielbereich der Granfondo-WM und muss alles erst einmal sacken lassen. “Bereits nach 130 Kilometern hatte ich Tränen in den Augen”, erzählt der Siegener. “Ich war stolz auf mich, allein dahin gekommen zu sein. Nach 13 Jahren Radpause innerhalb von drei Jahren wieder auf dieses Niveau zu kommen, das hat mich doch sehr gepackt.”
Seine Frau Julia und sein Sohn Vincent sind mitgereist, um ihn zu unterstützen. Auch im Ziel nahe dem Scone Palace, wo einst die Könige Schottlands gekrönt wurden, sind sie für ihn da. Stefan Eckardt strahlt jetzt wie ein König – auch wenn hier heute andere gekrönt werden.
Eckardts Altersklasse gewinnt ein gewisser Alexandr Vinokourov. Ja, der Vinokourov, der 2007 des Dopings mit Fremdblut überführt und zudem angeklagt wurde, weil er einem Konkurrenten 150000 Euro für das Überlassen des Sieges bei Lüttich-Bastogne-Lüttich gezahlt haben soll. Während der Kasache auf dem Podium im Granfondo-Weltmeistertrikot mit der Hand auf dem Herzen seiner Nationalhymne lauscht, sind nicht wenige Konkurrenten verärgert. “Verurteilte Doper sollten ausgeschlossen sein”, schimpft Eckardt, der nicht begeistert ist von der Teilnahme zahlreicher Ex-Profis.
Johnny Hoogerland gewinnt die Altersklasse ab 40, Vinokourov die ab 50, und die ebenfalls in Dopingskandale verstrickten Pascal Herve und Massimiliano Lelli belegen in der Klasse ab 55 die Plätze drei und sieben. Bei den Frauen holt die in vielerlei Hinsicht sagenhafte Jeannie Longo Silber bei den über 65-Jährigen. In den sozialen Netzwerken machen einige Teilnehmer ihrem Frust über deren Präsenz Luft. In einer Umfrage des Onlineportals “Gran Fondo Daily News” spricht sich eine Mehrheit gegen die Teilnahme von Ex-Profis an der WM aus, die eigentlich für Amateure gedacht ist.
Seit zwölf Jahren veranstaltet die UCI die Granfondo-WM, die übrigens keine “WM der Hobbyfahrer” ist, wie gelegentlich etwas abfällig kritisiert wird. Alle Starter müssen eine Amateur-Lizenz vorweisen, auch Elite-Fahrer sind startberechtigt. Damit ist das Granfondo-Championat beides: Eine Altersklassen-WM nach dem Vorbild des Triathlons und inoffizielle Nachfolgerin der Rad-WM der Amateure, die bis 1995 ausgetragen wurde und die zwei Jahre zuvor ein gewisser Jan Ullrich gewann. Bei der Granfondo-WM sind Berufsradfahrer nur dann ausgeschlossen, wenn sie im aktuellen Jahr bei einem Profirennstall unter Vertrag stehen, ehemalige Profis sind zugelassen.
Organisator Erwin Vervecken versteht die Kritik deswegen auch nicht. “Wir hatten großartige Fahrer am Start”, antwortet er TOUR und meint damit Vinokourov oder Longo sowie UCI-Präsident David Lappartient, der ebenfalls mitfuhr. Man muss wissen: Vervecken war 16 Jahre Cross-Profi und leitet nun die globale UCI-Granfondo-Serie, die inzwischen fest etabliert ist und als Erfolgsmodell gilt. Bei 23 Qualifikationsrennen auf vier Kontinenten können Radsportler zwischen 19 und 84 Jahren ihr Ticket für die WM lösen – wenn sie es unter die besten 25 Prozent ihrer Altersklasse schaffen. Die Teilnehmerzahlen steigen, die Zahl der Rennen ebenfalls, und in Schottland verzeichnete die UCI über alle Altersklassen hinweg 2400 Starts in Straßenrennen und Zeitfahren – trotz einiger Hürden für die anreisenden Athletinnen und Athleten.
Denn neben der Qualifikation war auch ein Startgeld von rund 100 Euro fällig; hinzu kamen im völlig ausgebuchten Städtchen Perth, gut hundert Kilometer vom WM-Zentrum in Glasgow entfernt, Anreise- sowie happige Übernachtungskosten. Aus Kapazitätsgründen hatte die UCI die Amateure ausgelagert; das konterkarierte die versprochene Gemeinsamkeit der großen WM fast aller Radsport-Disziplinen und bereitete vielen Startern Probleme, zum Beispiel, weil die Züge nach Perth kaum Reisende mit Fahrrädern mitnehmen.
Solche logistischen Hindernisse und hohe Kosten hielten Teilnehmer aus weniger wohlhabenden Nationen gleich ganz von der Reise ab. Der entstehende “Heimvorteil” lässt sich am Medaillenspiegel ablesen: Fast jedes Jahr gewinnt die Gastgeber-Nation.
Wer sich am unverhofft sonnigen Renntag am Flussufer des Tay in den Startblock stellen darf, bekommt dennoch schnell Gänsehaut. Tausende Zuschauer jubeln nervösen Altersklasse-Athleten zu, die in Fünf-Minuten-Abständen losrollen. Viele schwenken Fahnen oder haben Plakate für ihre Angehörigen gebastelt. Das alles hat seine Wirkung auf die Protagonisten: Die Nationaltrikots verleihen manchem Amateur offenbar Flügel – zumindest eine Zeit lang. Einige attackieren bereits auf den ersten der anspruchsvollen 160 Kilometer durch die schottischen Highlands mit allem, was sie haben.
Die zum Teil hektische Fahrweise passt so gar nicht zur Kulisse des Rennens: Vorbei an Schafen, Weiden, verlassenen Cottages und verträumten Örtchen führt die Strecke immer weiter aufwärts. Zwei sieben Kilometer lange Anstiege entscheiden praktisch alle Altersklassen – hier explodieren die Felder, oft auf Initiative der früheren Profis. Der Niederländer Johnny Hoogerland, bekannt durch einen schmerzhaften Ausflug in einen Stacheldrahtzaun bei der Tour de France, setzt eine Attacke nach der nächsten, bis nur noch eine Handvoll Fahrer an seinem Hinterrad sind.
Oliver Romahn zählt leider nicht dazu. Er fährt ein starkes Rennen und muss die Spitze um Hoogerland dennoch ziehen lassen. Als Deutscher Meister der Masters ab 40 hatte er auf mehr gehofft und kritisiert Hoogerlands Teilnahme. “Ich find’s daneben. Das hat wenig mit einer Amateur-WM zu tun.” Das gilt aus seiner Sicht auch für das Finale des Rennens, das die UCI kurz vor dem Start noch verlegt hat. 600 Meter vor dem Ziel führt eine Spitzkehre durch eine schmale Toreinfahrt, die mit Gittern zusätzlich verengt wird. “Da ist einer aus meiner Gruppe geradeaus gefahren. Das war nicht verantwortungsvoll für eine WM”, meint Romahn.
So bleibt am Ende das gemischte Bild einer Weltmeisterschaft, die für jedermann und jedefrau gedacht ist. Große Emotionen, Gänsehautmomente und viele begeisterte Teilnehmer stehen kritischen Stimmen gegenüber, die Änderungen fordern. Aus deutscher Sicht soll es möglicherweise 2024 eine entscheidende Neuerung geben: Erstmals könnte ein Qualifikationsrennen zur Granfondo-WM in Deutschland stattfinden.