Unbekannt
· 02.08.2019
Ein Jedermann-Rennen – zwei Perspektiven. Bei der Tour de Kärnten haben wir einen Fahrer an der Spitze und einen im hinteren Teil des Feldes begleitet. Beide sind an ihre Grenzen gegangen.
Leben wie ein Radprofi – zumindest eine Woche lang. Radfahren, essen, schlafen und es sich ansonsten gut gehen lassen – das hatte Jürgen Sandl im Sinn, als er sich im vergangenen Spätherbst von einem Kumpel überreden ließ, die Anmeldung zur Tour de Kärnten 2019 auf den Weg zu schicken. Das Jedermann-Rennen im Mai führt über sechs Etappen und hat es in sich: Insgesamt sind 475 Kilometer und gut 8.800 Höhenmeter zu absolvieren – vier knackige Bergetappen, jeweils rund 100 Kilometer lang, sowie ein Einzelzeitfahren und ein Bergzeitfahren. Die Besonderheit: alle sechs Etappen beginnen und enden jeweils im kleinen Ort Ossiach und führen sternförmig in die Region um den gleichnamigen See herum.
Sandl, von Beruf Kfz-Mechaniker, hat in diesem Frühjahr kaum 2.000 Vorbereitungskilometer geschafft; die dunkle Windweste über seinem weißen Radtrikot spannt verdächtig. "Dabei habe ich schon früher auf dem Rad gesessen als die Jahre zuvor", sagt er lächelnd. In der Hektik des ersten Starts, wo überall um ihn herum noch an den Trikots und Hosen genestelt, an Schaltungen und Laufrädern gefummelt wird, wirkt der 52-Jährige wie ein Fels in der Brandung. Nervosität ist kein Problem dieses großen, kräftigen Typs mit grau meliertem Vollbart – das sieht man gleich. Für Sandl zählt hier nur eines: "Durchkommen ist das Ziel" – entsprechend hat er sich selbst in Startblock D angemeldet, wo die vermutlich Leistungsschwächsten der kommenden Woche ins Rennen gehen.
Sandl weiß ganz genau: Der Großteil der anderen rund 400 Starter ist mit weit mehr Vorbereitungskilometern als er in den Beinen angereist. Im Startbereich ist auch sonst kaum jemand zu sehen, der wie Sandl ein paar Kilos zu viel auf den Rippen mit sich herumschleppt. Hier hat sich die Jedermann-Elite versammelt. Denn: Die Tour de Kärnten ist mit ihrem knackigen Profil ein enorm anspruchsvolles Rennen – Genussfahrer haben es schwer.
Sandl bekommt das schon auf der ersten Etappe zu spüren. Völlig ausgepumpt sitzt er am frühen Nachmittag des 18. Mai im Zielbereich der esten Etappe. 119 Kilometer und 2.280 Höhenmeter hat er hinter sich. Drei schwere Berge mit meist zweistelligen Steigungsprozenten haben den Fahrern gleich am ersten Tag, einem Samstag, den Zahn gezogen. Nichts geht mehr – zumindest bei Sandl. "Noch schwerer als ich dachte", stammelt er mit gequältem Gesichtsausdruck. Recht bald schon nach dem Start in Ossiach ging es einen Anstieg mit rund 600 Höhenmetern hinauf auf den Zammelsberg. Schon hier zerfaserte das Feld in viele Gruppen. Hinter einer etwa 40-köpfigen Spitzengruppe bildeten sich viele weitere kleinere Zusammenschlüsse, in denen auf dem folgenden 15-Kilometer-Flachstück gemeinsam gegen den Wind gearbeitet wurde.
Sandl aber war schon bald abgehängt. Und spätestens am zweiten schweren Anstieg, wieder rund 600 Höhenmeter hinauf auf die Prekowa mit zweistelligen Steigungsprozenten, waren die letzten 50 Fahrer, unter denen sich Sandl befand, allein auf sich gestellt. Mit gerade noch sieben bis acht Stundenkilometern kurbelte er hinauf. Eine Tortur, die sich wenig später wiederholte, als es die 1.400 Meter hoch gelegene Flattnitz zu bezwingen galt. "Um ein Haar hätte ich am letzten Anstieg aufgegeben", erzählt Sandl. Hat er aber nicht. Er hat sich durchgequält und wird nach 5:24 Stunden Fahrzeit im Ziel auf dem Marktplatz des beschaulichen Feldkirchen mit einer Portion Nudeln belohnt. Allerdings muss er sie fast allein essen. Ein Großteil der anderen Starter ist schon lange wieder weg.
Die Tour de Kärnten hat sich in der Szene einen guten Ruf erarbeitet – die Startplätze waren schon Mitte Dezember ausgebucht. Vor allem Amateurfahrer mit gut organisierten Teams im Rücken haben die Tour in den Ostalpen im Visier. Während Sandl also isst, was übrig geblieben ist, liegt Daniel Debertin schon auf dem Bett seiner Unterkunft im elf Kilometer entfernten Ossiach. 3:26 Stunden hatte der 26-Jährige für die erste Etappe benötigt – der Lohn ist Platz vier im Tagesklassement hinter Team-Strassacker-Fahrer Chris Mai, Vorjahressieger Mathias Nothegger und dem jungen Belgier Anthony Spysschaert. Sogar der bis 2016 noch aktive Profi Johnny Hoogerland, der sich in Kärnten gewissermaßen zur Ruhe gesetzt hat, musste Debertin am letzten Anstieg ziehen lassen.
Debertin, gebürtiger Karlsruher, ist ein Spätstarter, was ambitionierten Radsport betrifft. Als Sohn einer sportverrückten Familie verbrachte er seine Jugend hauptsächlich auf dem Fußballplatz, ehe er mit etwa 17 Jahren den Ausdauersport für sich entdeckte. Er begann zu laufen, setzte sich aufs Rennrad und im Winter schnallte er die Langlaufski unter. Die Trainingsumfänge wurden intensiver, die Leistungen besser. "Es macht mir einfach Spaß, die Leistungsgrenzen meines Körpers auszuloten. Außerdem ist Sport ein guter Ausgleich zum Leben an der Uni", sagt der Maschinenbau-Student. Dabei trainierte er jahrelang "nur nach Gefühl". Erst 2018 änderte sich dies, als kurz vor dem "Ötztaler" das Jedermann-Team der Firma Corratec bei ihm anklopfte und ihn verpflichtete. Seither trainiert er nach Plan, misst seine Wattleistungen und bekommt Material gestellt. Auf Anhieb erreichte er beim Schlechtwetter-Ötzi 2018 einen starken 15. Platz, bei der Tour de Kärnten hat er sich das Podium als Ziel gesetzt. Der Biss, den Leichtgewicht Debertin vor allem am Berg zeigt, ist dem eher schüchtern, ja beinahe scheu daherkommenden 62-Kilo-Kerlchen auf den ersten Blick gar nicht anzusehen.
Unzufrieden ist Debertin deshalb nach dem zweiten Renntag, einem Einzelzeitfahren über rund 30 Kilometer. Platz 33, auf den Favoriten Nothegger hat er zweieinhalb Minuten verloren. Zum ersten Mal hat er auf einem Zeitfahrrad gesessen, das ihm sein Team kurzerhand zur Verfügung gestellt hatte. "Ich habe mich nicht wirklich wohl drauf gefühlt", sagt er, kündigt aber an: "Morgen greife ich wieder an!"
Profi trifft Hobbyfahrer
Nach etwas Erholung am Abend der ersten Etappe ist Hobbyfahrer Sandl hingegen mit seinem Abschneiden im Kampf gegen die Uhr voll zufrieden. Die Zeit von 51:36 Minuten bedeutet: Er ist nur rund 15 Minuten hinter dem Tagessieger ins Ziel gekommen. Und vor allem saßen diesmal alle irgendwie im selben Boot: Es mussten alle allein gegen den Wind kämpfen. Sandl freut sich schon auf seine Art der Regeneration: "Gleich lasse ich mir von der Hotelwirtin die Sauna anschalten." Und auf das obligatorische Weißbier möchte der 52-Jährige auch nicht verzichten. "Ich will das hier ja alles auch genießen", sagt er.
"Profi trifft Hobbyfahrer", so werben sie in Kärnten für ihre Rundfahrt. "Professionell" soll’s zugehen, sagt Chef-Organisator Bernd Neudert, gleichzeitig habe man den Anspruch, jeden Starter ins Ziel zu bringen. "Bei uns gibt es kein Zeitlimit", sagt der 61-jährige gebürtige Düsseldorfer, den es vor vielen Jahren beruflich in die Alpenrepublik verschlagen hat. Als er vor acht Jahren mit der Idee eines einwöchigen Etappenrennens beim Kärntner Radsport-Idol und Strippenzieher Peter "Paco" Wrolich vorsprach, riet der ihm zunächst ab. Kleiner solle er denken, ein Wochenende reiche, hieß es. Neudert blieb stur – und sein Rennen wuchs. Waren es zu Beginn im Jahr 2012 gerade einmal 41 Starter, wuchs das Teilnehmerfeld sprunghaft. 2019 gaben Neudert und Co. 350 Startplätze als Obergrenze aus, schließlich ließen sie 400 Starter zu. Wegen behördlicher Auflagen und Einschränkungen geht nicht mehr. Doch auch so hat sich die Tour, die jeden Fahrer allein 399 Euro Anmeldegebühr kostet, bereits zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Rund 6.000 Nächtigungen zählen die Veranstalter rund um das Rennen – im touristisch ansonsten schwachen Mai ist das sehr wertvoll für die Region.
Was kann ich aushalten?
Allerdings: Das Niveau ist derart hoch, dass Hobbyfahrer wie Sandl mittlerweile echte Ausnahmen sind. Die aber sind bei der örtlichen Gastronomie erheblich beliebter als spartanisch lebende Leistungssportler – sie lassen mehr Geld in der Region. Vielleicht wird man daher künftig um schwächere Genussfahrer stärker werben müssen. Überhaupt: Die Organisation eines Etappenrennens ist nicht leicht. Nach wie vor ist die Tour de Kärnten keine Veranstaltung mit abgesperrten Straßen. Die Fahrer bewegen sich innerhalb des fließenden Verkehrs und der Straßenverkehrsordnung. "Bei einer roten Ampel wird angehalten", mahnt Neudert, wohlwissend, dass es sich dabei um eine eher theoretische Vorschrift handelt. Ohnehin wird das Rennen mittlerweile von derart vielen Helfern und Streckenposten begleitet, dass diese an kniffligen Verkehrspunkten zumindest dem Großteil des Pelotons kurzfristige Vorfahrt organisieren.
Für Jürgen Sandl wiederholte sich am dritten Tag die Prozedur des ersten: Quasi mit dem ersten schweren Anstieg war er im Hinterfeld isoliert, pedalierte ganz allein gegen die Elemente an. Der Ingolstädter saß mit 17 Jahren erstmals auf dem Rad, damals konnte er wie zwei seiner Kumpels ein günstiges Rad von seinem Lehrherrn erstehen. Als er eine Familie gründete, geriet das Rad in Vergessenheit. Erst 2005 holte er das Rennrad wieder aus dem Keller. Er hatte eine Scheidung zu verkraften, das Radfahren half ihm dabei. Seither ist es sein unverzichtbares Hobby. Zwei- bis dreimal wöchentlich fährt er seine Runden. Er hat erkannt: "Stundenlang allein durch die Gegend zu rollen, das ist genau mein Ding. Das Radfahren werde ich niemals wieder aufgeben."
Die Tour de Kärnten nutzt Sandl auch als persönliches Experiment: "Was kann ich aushalten?" Neben den bis zu 20 Prozent steilen Rampen, die ihm als Schwergewicht die letzten Körner ziehen, quält ihn sein Hinterteil. Nach einem vor Jahren beim Squash erlittenen Kreuzbandriss im rechten Knie tritt er nicht mehr ganz rund. Mit Folgen: "Ich habe jetzt schon zwei Hosen übereinander an, aber die Schmerzen werden mehr", sagt er am Dienstagabend nach der vierten Etappe. Zwei Tagesabschnitte muss er noch durchhalten. Eine weitere Bergetappe am Mittwoch, wieder etwa 100 Kilometer lang mit 1.800 Höhenmetern, ehe am Schlusstag ein Bergzeitfahren über fast 50 Kilometer und satte 1.530 Höhenmeter noch einmal alles von ihm fordern wird. "Wenn ich beides zu Ende bringe, bin ich echt stolz", sagt er – wie fast immer – fröhlich lächelnd.
Den Mittwoch hat sich auch Daniel Debertin im Roadbook dick eingekreist. Dies soll der Tag werden, an dem er die beiden in der Gesamtwertung vor ihm liegenden Nothegger und Mai noch einmal in Bedrängnis bringen will. Zwei schwere Berge im Etappenverlauf sowie vor allem die letzte Rampe hinauf auf den Magdalensberg mit bis zu 20 Prozent Steigung sollen zum Angriff taugen. Doch es wird dramatisch: Nachdem Dominator Nothegger und Debertin sich am Schlussanstieg aus einer 14-köpfigen Spitzengruppe abgesetzt haben und dicht hintereinander die letzte Rampe hinaufstürmen, passiert es: Debertin rutscht auf einem Weiderost weg und stürzt. Völlig ausgepumpt kann er sich so gerade noch mal aufs Rad schwingen und auf den letzten Metern ins Ziel zumindest Platz zwei vor Christoph Mai retten.
Sandl hat von den dramatischen Momenten im Spitzenfeld nichts mitbekommen. Er kämpft in etlichen Kilometern Entfernung stoisch gegen die sich vor ihm auftürmenden Höhenmeter. Aber er behält die Ruhe. 15 Kilometer vor dem Ziel nimmt er sich sogar die Zeit, die pittoresk in der Landschaft thronende Felsenburg Hochosterwitz zu fotografieren. Deren Zuweg mit 14 Torbauten ist ein touristisches Glanzlicht in der Region, auf dessen genauere Betrachtung Sandl dann aber doch verzichten muss. Zum Ziel geht’s in die andere Richtung. Für die 95 Kilometer des Tages mit ihren 1.810 Höhenmetern benötigt er schließlich 4:06 Stunden. Daniel Debertin war bereits nach 2:46 Stunden im Ziel.
Zufrieden sind am Ende beide. Denn auch das finale Bergzeitfahren am Schlusstag, das im Massenstart angegangen wird, bringt für sie keine Veränderung mehr: Während Debertin seinen Gesamtrang drei absichert, schafft Sandl auch die letzten zweistelligen Steigungsprozente und fährt mit einem glücklichen Lächeln über die finale Ziellinie: geschafft. "Meine Beine fühlen sich an wie Eisenbahnschienen. Sie sind knallhart", sagt Sandl. "So eine sportliche Leistung habe ich noch nie zuvor erbracht." Eine Quälerei, die aus seiner Sicht keiner Wiederholung bedarf: "Nein, nächstes Jahr werde ich nicht wieder dabei sein. Es reicht, wenn man so etwas einmal im Leben gemacht hat." Sieger bei der Tour de Kärnten wurde am Ende wie erwartet Mathias Nothegger vor Christoph Mai. Glänzender Dritter: Daniel Debertin.
Info
Sechs Etappen – davon zwei Zeitfahren – rund um den Ossiacher See in Kärnten bieten den Leistungsvergleich für Jedermann. Alle Etappen bis auf das Bergzeitfahren starten in Ossiach. Die Straßen sind nicht gesperrt, sondern mobil abgesichert. Jeden Abend gibt es eine Pasta-Party. Die Zeit wird per Chip gemessen. Die 8. Tour de Kärnten findet vom 16.–21. Mai 2020 statt.
www.tourdekaernten.at