Es ist das wohl außergewöhnlichste Radrennen der Welt: „The Speed Project“. Denn: Es gibt keine Anmeldung, keine Informationen. Nichts. Erst wenige Stunden vor dem Wettkampf erhalten die Teilnehmer einen Umschlag mit den Details. Gegründet wurde das Event von Nils Arend, einem deutschen Werbefachmann, der seit mehr als 20 Jahren in Los Angeles lebt. Bei dem 1.000-Kilometer- Rennen von Los Angeles nach Las Vegas sollen sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen neu definieren. Oder wieder zu sich finden. Inspiration gesammelt für sein Rennen hat Nils in einem „Psychedelic Retreat“ in Holland, beim Wüsten-Festival „Burning Man“ in Nevada in den USA und dem aus Kanada stammenden „Cirque du Soleil“. Die Sponsoren und Menschen, die wie verrückt Schlange stehen, macht das Speed-Projekt wahnsinnig – schließlich entscheidet ausschließlich Nils, wer mitmachen darf und wer nicht. Sein Hollywood- Motto: „Versuchen Sie nicht, mich anzurufen, ich rufe Sie an.“
Kai, einer der Teilnehmer aus Deutschland, fühlte sich nach dem Anruf, als säße er in einer Zeitmaschine, die ihn wieder ins Jahr 2003 katapultiert. Als der Knirps am Heiligabend einfach nicht wusste, was ihm das Christkind bringen würde. Eine E-Gitarre? Oder doch Inline-Skates? Kai war ganz hibbelig, nervös, durcheinander.
21 Jahre später weiß er wieder nicht, was auf ihn zukommt. Allerdings sitzt er jetzt nicht mehr unter dem Weihnachtsbaum in Dresden, sondern zusammen mit den Teilnehmern aus zwölf anderen Teams in Los Angeles in einem Pop-Up-Store. Gebannt warten alle beim Safety-Meeting auf Informationen. Denn, so wollen es die Regeln, reisen alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen in die USA für ein Radrennen, ohne auch nur im Ansatz zu wissen, welches Rad sie benötigen werden und über welche Strecke das Rennen geht. Das einzige, was sie wissen, ist, dass es in Las Vegas enden wird. Und dass sicher alle Mitfahrer „all in“ gehen werden.
Also macht Kai, ein ehemaliger Sport-Therapeut für Einsatzgeschädigte bei der Bundeswehr, zusammen mit Deutschlands bester Gravelbikerin Carolin Schiff und „The Vegan Cyclist“, Tyler Pearce, den Umschlag mit den Instruktionen für “The Speed Project” auf. Wobei: Instruktionen wäre übertrieben. Handschriftlich sind fünf Checkpoints auf einen Zettel gekritzelt, die sie zusammen im „Ultra Rad“-Team anfahren müssen. Aber wie lange soll das außergewöhnlichste und aufregendste Sport-Event auf diesem Planeten gehen? Kai, Caro und Tyler holten ihre Handys heraus, überprüfen, welche Route wohl die beste sein könnte. Denn die einzige Sache, die sie bei dem Rennen im Staffel-Modus beachten müssen, ist, die fünf Kontrollpunkte anzufahren. Auf welcher Route sie von Stützpunkt zu Stützpunkt jagen, wann und wie oft sie sich abwechseln, ist ihre Sache. Gerechnet haben sie mit ein paar Hundert Kilometern Rennstrecke, 1.000 Kilometer haben sie bekommen. 1.000 Kilometer. Immer! Voll! Am! Anschlag!
Willkommen bei „The Speed Project“, dem Rennen, um das sich Mythen ranken. Denn: Es gibt keine Homepage, keine Teilnehmerinformation. Die BBC beschrieb das Event als „Fight Club“ des Ausdauersports.
Gründer Nils Arend ist selbst Ausdauersportler, Läufer. Als er die handelsüblichen Marathons alle durch und einigermaßen satt hatte, lief er mit einem Freund von Los Angeles nach Las Vegas. 340 Kilometer am Stück. Dann gründete er „The Speed Project“ für Läufer und Läuferinnen. Was gleich am schnellsten lief, waren die Unternehmen, die bei diesem aufsehenerregenden Event als Sponsoren dabei sein wollten. Allerdings: Darüber entscheidet nur einer. Nils Arend. Getreu dem Motto der legendären TV-Serie „Kir Royal“: In ist, wer drin ist.
Nils will aber kein klassischer Veranstalter sein. Der 44-Jährige, der in den USA eine Werbeagentur mit 150 Angestellten und Kunden wie Google und Nike aufbaute, sieht sich als Ideengeber. „Ich bin am Ende nur derjenige, der den Sportlern und Sportlerinnen die besten, schönsten und aufregendsten Momente beschert“, sagt der Mann, der seit dem Verkauf seiner Agentur 2019 als Nomade durch die Welt tingelt. Dutzende von Running-Events hat Arend mit seinem fünfköpfigen Organisationsteam bereits organisiert.
Was macht aber „The Speed Project“ aus? Das Rennen, so Arend, soll anders als alle anderen sein. „Die Leute sollen sich bei dem Rennen – das auch ziemlich hart und gefähr-lich ist – als Mensch neu definieren oder wieder zu sich finden“, sagt der Kreativgeist.
Warum aber nun Radsport, wo doch die Lauf- Events so gut funktionieren? „Wenn es etwas gibt, das in der weltweiten Rezession boomt, dann ist es der Ausdauersport“, erklärt Arend. „Und in diesem Boom gibt es noch etwas, das mehr als alles andere brummt: Rennradfahren.“ Daher ist es auch kein Wunder, dass Global Player der Radsport-Szene wie die Bekleidungsfirmen Rapha und Pas Normal Studios oder Radhersteller Canyon keine Sekunde zögerten, ihre Teams zum ersten “The Speed Project” zu schicken. Wobei es genau genommen keine Teilnahmegebühren gibt, sondern nur ein „Commitment-Fee“, was man auf deutsch als „Bereitstellungsgebühren“ bezeichnen könnte.
Als Sparringspartner gewann Arend den ehemaligen Radprofi und Filmemacher Angus Morton. Angus ist der Bruder von Lachlan. Der wiederum, ehemals Profi beim Team EF Education, wurde 2021 bekannt, als er 5.510 Kilometer in Birkenstock- Sandalen durch Frankreich fuhr und 400.000 Euro für die Hilfsorganisation „World Bicycle Relief“ einsammelte.
Für Deutschland ist nun also das von Canyon unterstützte Team „Ultra Rad“ mit Carolin, Kai und Tyler am Start. Sie starten für „Rad Race“, ein kleines Unternehmen aus Hamburg, das unter anderem eigene Events veranstaltet und einen Radladen betreibt. Manuel Neuer, Torhüter des FC Bayern und selbst begeisterter Hobbyradsportler, ist seit 2024 Mehrheitseigner der „Rad Race GmbH“.
Die drei Team-Fahrer indes stecken ihre Handys nach der Routenplanung weg und machen sich auf ihren heutigen Radausflug nach Las Vegas. Geplant war, zunächst noch gemeinsam aus Los Angeles hinauszufahren. Doch bereits nach einem Kilometer ist der Plan Makulatur, Tyler knallt über irgendwas drüber. Alles ist futsch: Vorderrad. Hinterrad. Alles. Also setzen Caro und Kai das Staffelrennen erst einmal zu zweit fort, während die fünf Betreuer des Ultra-Teams im Begleitfahrzeug versuchen, Tylers Schrotthaufen wieder flott zu machen. Endlich, denkt sich Kai, kehrt nach 40 Kilometern so etwas wie Ruhe ein. Und während er das denkt, fährt er an einer Ausfahrt vorbei. Der 31-jährige Dresdner bremst und wendet, will Vollgas über einen Parkplatz brettern, übersieht jedoch eine Bodenmarkierung und fliegt über sein Canyon. Dass er sich tiefe Schnittwunden an den Händen zuzieht, bemerkt er erst ein bisschen später. So 30 Stunden später.
Zeit, seine Wunden zu lecken, hat er sowieso keine. Kai muss kacheln. Und wie! Plan der drei Racer ist es, sich alle 20 bis 30 Minuten auf der Strecke abzuwechseln. Das bedeutet: Einer ballert, während die anderen jeweils kurz „ruhen“ können – so gut das auf einer 1.000 Kilometer langen Non-Stop-Strecke halt geht. Bei der Übergabe müssen sie, ähnlich wie bei einem Staffellauf in der Leichtathletik, den Staffelstab weitergeben. Die drei reichen sich aber keinen Stab, sondern ein Stofftier. Einen Frosch, denn sie „Thorsten“ getauft haben. Warum Thorsten? „Weil uns auf die Schnelle kein besserer Name einfiel“, sagt Kai lachend.
Zeit, sich Gedanken über kuschelige Stofftiere mit einem eingebauten GPS-Sender zu machen, haben sie ohnehin nicht. Das Tempo, das Kai als „ziemlich flink“ bezeichnet, ist mörderisch. Bei Fixie-Rennen, die Kai regelmäßig bestreitet, bringt er bis zu 1.600 Watt aufs Pedal. Bei “The Speed Project” tritt er während seiner Einsätze im Schnitt 260 bis 300 Watt. Wie kann man sich das vorstellen? „Wenn einem die S-Bahn droht vor der Nase wegzufahren, sprintet man. Das ist in etwa das Tempo, das wir die ganze Zeit fahren“, erklärt Nils, der nach eigenem Bekunden rund 20.000 Kilometer im Jahr im Sattel sitzt. Also 30 Stunden lang ein Sprint nach dem anderen? „Ja“, sagt der Sportwissenschaftler.
Solche Leistungen benötigen vor allem: permanenten Energienachschub. Was aber futtern die drei während des ganzen Rennens? Caro schiebt in dichter Folge Gels und Riegel nach, Kai genehmigt sich zwischendurch auch noch Erdnussbutter- und Marmeladen-Toasts; je länger das Rennen dauert, desto mehr greift das Trio Infernale zu den klassischen Rennrad-Drogen Cola und Gummibärchen, eben Zucker in jeder erdenklichen Form. Schließlich verbrennen die Radsportler bei dieser Belastung mehr Kalorien als sie aufnehmen können. Radprofi John Degenkolb, Sieger von Paris-Roubaix und mehreren Rundfahrt- Etappen, erklärte einst: „Wenn man in der ersten Stunde dem Körper nichts zuführt, fehlt einem das und man wird gnadenlos durchgereicht. Die Ernährungskette darf niemals unterbrochen werden.“ Genau daran halten sich die drei: Treten und essen, treten und essen.
Irgendwann, es muss so nach 500 Kilometern gewesen sein, verwischte ein wenig der Kontext zur Realität, erzählt Kai. Er saß auf seinem Rad, registrierte die untergehende Sonne am Salton Lake, fühlte die flimmernde Hitze über der Straße, beobachtete die Kaninchen und Schlangen am Wegesrand. Und die Vogelspinne, die in aller Seelenruhe über die Straße lief. Plötzlich fühlte sich das Extreme – ein 1.000-Kilometer-Radrennen – völlig normal an. Eine Lastenrad fahrende Mutter an einem Montagmorgen am Prenzlauer Berg mit zwei Kids im Korb könnte kaum normaler sein. Kai sagt, er sei sich in dem Moment nicht sicher gewesen, ob er gerade selbst Teil einer Netflix-Serie sei oder zu Hause „Breaking Bad“ schaue. Oder um einen antiken Philosophen zu bemühen: „Wenn man das Unerwartete nicht erwartet, wird man es nicht erkennen, wenn es eintrifft“, hat vor rund zweieinhalbtausend Jahren schon Heraklit erkannt.
Eine andere Erkenntnis drängte sich Kai & Co. zu dem Zeitpunkt beim ”The Speed Project” ziemlich deutlich ins Bewusstsein: Sie lagen relativ weit zurück im Rennen. Rund 270 Kilometer vor dem Ziel fangen die Ultras an, das Feld von hinten aufzurollen. Sie lassen peu à peu ein Team nach dem anderen stehen. Dann kommt es im Mojave National Preserve, einem Landschaftsschutzgebiet, zum Showdown. Das US-Team um Matthew Wiebe, Emily Joy Newsom und Maude Farell baut seine Führung aus. Carolin, die 2023 das Unbound- Rennen in Kansas (USA) gewann und sich damit inoffizielle Gravel-Weltmeisterin nennen durfte, weiß, was harte Rennen sind.
Das Speed-Projekt hingegen läuft – trotz aller Härte – irgendwie anders. Mehr wie ein Miteinander als ein Gegeneinander. Den schönsten Moment erlebte sie, als Emily mitten im Rennen meinte, dass es doch schön sei, „dass du da bist“. Gegen das Team „Pas Normal Studios“ hatten die Ultras aus Deutschland am Ende aber trotz aller Freundlichkeit doch keine Chance; das Trio unter dem Patronat des in Dänemark beheimateten Bekleidungsherstellers erreichte das Ziel in Las Vegas als erstes. Carolin meint, dass die Amerikaner keine Menschen seien. „Das sind Tret-Viecher aus dem All“, sagt sie lachend. Am Tag nach dem Rennen frühstücken alle zusammen und lassen das Rennen noch einmal Revue passieren.
Carolin Schiff wird als die Frau in Erinnerung bleiben, die gnadenlos lange und hart treten kann. Wie hart? Sehr hart. „Mich kaputtzumachen schafft fast niemand“, sagt die Bremerin lachend. Sie ist diejenige, die es liebt, auch nach Stunden noch zu sprinten. Kai war in dem Rennen der Mann, der die Anstiege erst niederringt, um dann wie ein Skifahrer die Abfahrten runterzuknallen. Und Tyler „The heat is on“ ist derjenige, der die endlos langen Geraden in der Hitze am besten meistert. So wie der „Super Chief“, der berühmte amerikanische Eisenbahnzug.
Nach mehr als 30 Stunden rollen der Super Chief und die zwei deutschen ICE in Las Vegas ein, weitgehend unbeachtet im Getümmel der Show- und Casino-Metropole. Nach 980 Kilometern, 31 Stunden und 21 Minuten und zusammen verbrannten 30.000 Kalorien. Das entspricht 250 Milchschnitten oder 40 Pizzen. Eine ganze Menge. Umgerechnet hat jeder der drei knapp 30 Wiener Schnitzel verbrannt. Unterm Strich hat die 48 Kilogramm leichte Carolin 40 Gels gegessen, weil ihre Strategie mit den Avocado- Toasts nicht ganz aufging. „Dann habe ich meinem Körper das gegeben, was er die ganze Saison über bekommt“, erklärt Caro. Gels.
„Willkommen im Theater. Im Theater der Träume“, begrüßt sie Veranstalter Nils in Las Vegas. Nach einer Aufführung war den dreien allerdings nicht, sie wollten nur schlafen. Besonders gut hat das Carolin hinbekommen, geschmeidige 16 Stunden am Stück pennte sie. Dann war es aber auch wieder an der Zeit, Gas zu geben, zum Beispiel bei der Abschlussparty in der Präsidentensuite des Hotels „El Cortez“. Es gab Pizza und Bier. Und Nils? Er war glücklich, dass bis auf ein paar Schürfwunden und ein paar platte Reifen nichts passiert ist. Stolz war er auch. Auf seine „Über-Athleten“, die Übermenschliches geleistet haben.
Unkonventionelle Sport-Events wie “The Speed Project”, die Ausdauerathleten weltweit anlocken, erregen natürlich auch die Aufmerksamkeit potenzieller Sponsoren. Aber in diesem Punkt bleibt Nils Arend seiner Idee treu, seine Events nicht in einem überbordenden Marketing-Hype zu verheizen. Das Diskrete, nicht für jeden Zugängliche bleibt stilprägend. Selbst Milliarden-Konzerne haben nichts zu melden, egal, ob man Arend eine Million Mal anruft oder eine Million Mails schickt. Er bleibt rigoros.Wie gesagt: „Versuchen Sie nicht, mich anzurufen. Ich rufe Sie an.“
Die ersten Kilometer absolvierte das Trio im Team; danach wechselten sie sich ab GANZ SCHÖN WEIT Gravelpassagen hätten viele Kilometer sparen können – die Radler blieben aber auf der Straße, um nicht irgendwo in der Wüste zu stranden.