Fast zwei Jahre lang fand in Deutschland pandemiebedingt kein großes Jedermann-Radrennen mehr statt. Die Deutschland Tour in Nürnberg war auch für viele ambitionierte Radsportler die erste Chance, sich wieder mit anderen zu messen. Innenansichten aus der Spitze.
Fast hatte ich sie vergessen, diese Blicke. Scheinbar unauffällig, doch zugleich analytisch und durchdringend. Von Kopf bis Fuß werde ich gemustert, als ich in den Startblock rolle. Wer dort bereits steht, scheint mich einem Ganz-körper-Scan zu unterziehen. Rad, Kleidung, Beine, vermutlich sogar Körperfett – alles wird gecheckt. Ich kann die Gedanken in ihren Köpfen förmlich hören: „Hat der was drauf?“ „Ist der ’ne Gefahr?“ Es ist der zweifelhafte Versuch, von äußeren Merkmalen auf mutmaßlich getretene Watt zu schließen. Eine eigenartige Prozedur, die praktisch zu jedem Radrennen gehört wie Rückennummer und Startschuss. Das zeigt auch die Tatsache, dass ich mich kurz darauf selbst beim Taxieren der anderen ertappe. „Wer sieht trainiert aus? Und wer ist der junge Typ da vorne im Nationalmannschafts-Dress?“ Ich bin genauso neugierig wie die anderen.
Fast zwei Jahre sind seit dem letzten großen Jedermann-Rennen vergangen: Der Münsterland-Giro 2019 beendete die letzte normale Radsaison in Deutschland. Dann kam Corona und mit dem Virus die Absagenflut. Kaum ein Rennen fand statt, manche wurden verschoben und später doch abgesagt. Für mich, mein Team Strassacker und all die Gleichgesinnten eine lange Durststrecke. Lockdown folgte auf Lockdown, Trainingslager fielen aus, phasenweise durfte man nicht einmal miteinander trainieren oder allerhöchstens zu zweit.
Eine ätzende Zeit – auch für alle, die den Wettkampf lieben. Für kurze Zeit waren die KOM-Jagd auf Strava, das spontane Gravel-Wochenende in Belgien oder diese Everesting-, 200-Kilometer- oder 300-Kilometer-Challenges auch ganz cool. Aber auf Dauer? Alles nur Ersatzdrogen. Der wahre Kick ist das Rennen. Nicht diese Digitalversionen mit Avataren und Pixel-Landschaften. Nein, die echten, unter freiem Himmel und mit realen Gegnern. Deswegen stehen wir alle wieder hier, am Start mitten in Nürnberg.
Weiß und gerade verläuft die Startlinie über das bucklige Kopfsteinpflaster des Hauptmarkts. Der ist gut gefüllt mit Radsportlern. Die Deutschland-Tour hat zum Jedermann-Rennen geladen, und gut 2.300 Starter sind gekommen, alle geimpft, getestet oder genesen. Während der Streckensprecher seinen Countdown runterzählt, stecke ich meine FFP2-Maske in die Trikottasche und schnaufe noch einmal durch. Peng! Endlich, wir rollen los. Ein Führungsfahrzeug leitet uns neutralisiert aus der Stadt hinaus. Eine gute Idee, denn die Straßen sind nass und alle an der Spitze ziemlich motiviert. Als aus dem Dach des Wagens die Fahne geschwenkt wird, klicken sofort Schaltungen, und das Gespringe geht los. 50, 52, 55 km/h ... Einerreihe.
Die Startphase an der Spitze von Jedermann-Rennen verläuft eigentlich immer so. Ein paar Fahrer wissen nicht, wohin mit ihrer Kraft, und glauben, sie könnten das Ding schon auf den ersten Kilometern entscheiden. Klappt nie, aber das haben alle schnell wieder vergessen. Als sich die erste Aufregung legt, ist Zeit für den einen oder anderen Plausch wie „lange nicht gesehen“ oder „fit?“. Einer fragt mich grinsend: „Haste heute was vor?“ Ein anderer Fahrer ist nicht ganz so locker. „Strassacker! Was macht ihr hier?“, schnaubt er mich an. „Fahrt’s halt Lizenz-Rennen, aber nicht hier!“ Offenbar hat er vergessen, dass er selbst sowohl Lizenz-Rennen als auch Jedermann-Rennen wie dieses hier fährt.
Der ewige Streit
Die Diskussion, die mein Nebenmann hier bei knapp 50 Sachen aufmacht, ist fast so alt wie die Jedermann-Rennen selbst. Die boomenden Events lockten im Sog der Team-Telekom-Euphorie in den 2000er-Jahren immer mehr Radsportler an, und schon bald bildeten sich Mannschaften wie unsere. Zunächst unabhängig von gewachsenen Radsportvereinen, aber inzwischen zum Teil eng mit diesen verbunden und mit eigenen Lizenz-Teams. Die attraktiven Rennkurse der Jedermann-Rennen locken viele ambitionierte Fahrer an – und auch die Aussicht, in einer starken Mannschaft zu fahren. Zusammen macht es doch mehr Spaß. Und erfolgreicher ist man gemeinsam auch.
Aber war das überhaupt die ursprüngliche Idee? Sollte es bei Jedermann-Rennen um Erfolg, Sieg und Platzierung gehen? Niemand hat die Leistungselite zur Party eingeladen, sagt die eine Fraktion der Freizeitfahrer. „Jedermann“ heißt jeder Mann (und jede Frau), sagt die andere. Unabhängig davon, wer nun recht hat: Jedermann-Rennen werden an der Spitze inzwischen längst wie Amateur-Lizenz-Rennen gefahren – ambitioniert, schnell und auf Ergebnis. Was auch daran liegen könnte, dass Lizenz-Rennfahrer seit Langem zugelassen sind.
Das sieht man auch am Material: Aero-Räder, Carbonlaufräder, Wattmesser, Keramiklager, Renneinteiler, Nasenpflaster – hier wird nichts dem Zufall überlassen, jedes Watt zählt. Das scheint auch für den mir unbekannten Fahrer in Rot zu gelten, der einmal mehr attackiert. An einer Welle nach gut zehn Kilometern schüttelt er alle ab und fährt tief über seinen Lenker geduckt auf und davon. Alles schaut jetzt auf meine Mannschaft, auch weil wir mit sieben Startern das einzige größere Team an der Spitze stellen. Schließlich haben wir die vergangenen beiden Ausgaben der Jedermann-Deutschland-Tour in Stuttgart und Erfurt gewonnen. Wir reihen uns ein, spannen uns mit ein paar Leuten vors Feld – und kommen doch dem Solisten kein Stück näher. Kein Wunder, wie wir später feststellen: Der Inkognito-Ausreißer in neutraler Kluft ist Tobias Häckl, Sieger des Kitzbüheler Radmarathons und vor allem des King of the Lake – ein absoluter Zeitfahrspezialist also. Ein Fehler, ihn fahren zu lassen?
Dass Einzelstarter den Teams gefährlich werden können, beweist kurz darauf noch ein anderer. Am Rüsselbacher Berg sprintet ein junger Fahrer im Steilstück mit einer Leichtigkeit davon, die alle dahinter nur staunen lässt. Wie geht das? Inzwischen weiß ich: Das ist Mauro Brenner, der Junge aus der Startaufstellung mit den Nationalmannschafts-Klamotten. Er ist der jüngere Bruder von DSM-Profi Marco Brenner und fährt seit Kurzem für die U19-Auswahl Deutschlands. „Ich hab’ am Berg einfach mal aufs Gaspedal gedrückt“, erzählt mir der 17-jährige Augsburger später etwas schelmisch; und dass er nur 50 Kilo wiegt. Das erklärt etwas, warum die Gesetze der Schwerkraft für diesen Jungen nicht zu gelten scheinen. Brenner fliegt den Berg hinauf. Ein schöner, harter Test sei so ein Jedermann-Rennen für die internationalen Rennen, die noch kommen, sagt er, und man ahnt, dass dieser junge Mann noch viel vorhat im Radsport. Mit Mühe und etwas Abstand können ihm meine Teamkollegen Benni Koch, Luca Wittrock und Roberto Vukovic folgen. Der Rest des Feldes zerlegt sich in Einzelteile.
Gemeinsam leiden
Das Rennen ist keine 40 Kilometer alt, und schon muss ich richtig tief gehen. Der Puls pocht an meinen Schläfen. Der Wattmesser zeigt konstant Werte jenseits der 400. Und doch fährt mir die Spitze weg. Uff. Neben mir gefletschte Zähne und Schnaufen. Die anderen leiden also auch, ein kleiner Trost. Als ich mich hinter der Kuppe wieder einigermaßen sortiert habe, ist die Rennsituation klar: Vorne haben unsere drei Teamfahrer gemeinsam mit dem jungen Brenner den frühen Ausreißer Tobias Häckl gestellt und bilden nun eine fünfköpfige Spitzengruppe. Dahinter fahren wir in einem dramatisch geschrumpften Feld von vielleicht noch 40 Fahrern. Alle anderen haben mit dem Ausgang dieses Rennens nichts mehr zu tun.
Denn auf selektiven Kursen wie den 108 Kilometern von Nürnberg in die Fränkische Schweiz und zurück sind auch in Jedermann-Rennen Zufallssiege ausgeschlossen. Man muss schon richtig gut drauf sein, um das Tempo der Besten an den Anstiegen mitgehen zu können. Nicht wenige, die hier an der Spitze mitfahren, haben Ende August bereits mehr als 10.000 Jahreskilometer auf der Uhr. Das erstaunt auch Ex-Profi Johannes Fröhlinger, der zwar im vorderen Feld mitfährt, aber ohne Ambitionen. „Von den Jungs an der Spitze bin ich schon überrascht, wie stark die sind“, sagt Fröhlinger, der als Profi 15 Grand Tours und nach eigenen Angaben weit über 1.000 Radrennen gefahren ist. Er sei in Nürnberg dabei, weil es ihm immer noch Spaß mache, auf abgesperrten Straßen mal wieder schnell Rad zu fahren.
Finale in Überzahl
Egal ob Ex-Profi, angehender Profi, Amateur oder Hobbyfahrer: Nach der langen Rennpause wollen wir es alle wieder erleben, das Gefühl von Geschwindigkeit. Deswegen sind alle hier. Es ist wie ein Rausch. Mit mehr als 80 Sachen stürzen wir uns in eine teilweise nasse Abfahrt. Und weil das noch nicht schnell genug ist, kauern sich ein paar meiner Vorderleute mit dem Hintern aufs Oberrohr. Das „Supertuck“-Verbot bei den Profis ist hier irgendwie noch nicht angekommen. Hauptsache, schnell. Nur meinen Teamkollegen und mir passt der Geschwindigkeitsrausch im Feld nicht so recht. Denn wir haben andere Ziele: Immer wieder lassen wir uns im Peloton nach vorne spülen und verschleppen kaum spürbar das Tempo, um den Abstand zu unseren Teamkollegen an der Spitze zu wahren. Damit macht man sich nicht unbedingt Freunde im Feld, aber das ist ja auch nicht Sinn der Übung.
Wie im Feld spielen auch in der Spitzengruppe meine Kollegen die Teamwork-Karte aus. Gemeinsam neutralisieren sie Attacken des jungen Mauro Brenner und nutzen auch im Finale ihre Überzahl. Im Sprint ist Benni Koch nicht zu schlagen und gewinnt, unser Talent Luca Wittrock wird in seinem ersten Radrennen überhaupt Zweiter vor Mauro Brenner. Dahinter geht es im Feld um die Plätze. Am Nürnberger Hauptbahnhof eröffnet jemand auf der Außenbahn früh den Sprint und überrumpelt damit den Rest. Hinterher! Wir werfen unsere Lenker hin und her, jagen über den Asphalt. Die Beine werden mit jedem Tritt schwerer, doch der Zielstrich ist immer noch ein Stück weg. Beißen. Links kommt ein Gegner immer näher. Dagegenhalten. Kurz vor dem Zielstrich schiebt er sich vorbei. Egal, neunter Platz, in den Top Ten. Und mein Teamkollege hat gewonnen. Kurz hinter der Ziellinie fallen wir uns in die Arme. Abklatschen, Jubelschreie, Glückwünsche. Fast hatte ich sie vergessen, diese Emotionen. Nichts im Sport ist besser.