Zelte und Wohnmobile neben Dixie-Klos, Essens- und Verkaufsstände, dazu eine Bühne, eingerahmt von großen Boxen und einer Video-Wall. Beats wummern über die Wiese und sind bis in die nahe gelegene Altstadt zu hören. Ein Hauch von Musikfestival liegt über der Szene vor der Markthalle mitten in Sonthofen. Aber die Menschen tragen Lycra statt Leder, an diesem Wochenende geht es um leichtes Carbon statt Heavy Metal: Das Rad Race 120 feiert seine Premiere.
Die Ausschreibung versprach ein großes Rennradfest: zwei Tage Rennen im innovativen Team-Format und auf vollständig gesperrten Straßen. Nach dem Team-Zeitfahren am Samstag folgt das 126-Kilometer-Rennen am Sonntag, bei dem die drittschnellste Zeit jedes Teams gewertet wird. “Ich weiß nicht, ob ich Lust gehabt hätte, wenn es keine Teamwertung gegeben hätte”, sagt Lukas Möllenbeck vom Team Hillstreet Larrys. Der 28-Jährige hat sich gemeinsam mit drei Freunden das erste Mal für ein Radrennen angemeldet. Das Team-Format, das sich die Veranstalter ausgedacht haben, ist eine Seltenheit im Radsportkalender und lockt viele Neulinge an.
Schon am Samstag müssen sie zeigen, was sie können, wenn eine steile Bergstraße am Rand von Sonthofen zur Bühne wird für das Bergzeitfahren – vier Kilometer, die es in sich haben: 380 Höhenmeter und Rampen im zweistelligen Prozentbereich. Die meisten Teams treten in einheitlichen Trikots an. “Optisch sind nur Profis am Start”, findet Sebastian Kronschnabl von den Baller Udos aus Oy-Mittelberg. Nachdem der Sprecher die Fahrerinnen und Fahrer auf die Strecke geschickt hat, jagen sie direkt in eine 15 Prozent steile Wand. Von null auf Atemnot in wenigen Sekunden. Die steilen Serpentinen schlängeln sich zwischen saftig grünen Wiesen nach oben. Links und rechts der Strecke stehen immer wieder Zuschauer und feuern die nach Luft ringenden Racer an. Schon nach wenigen Kurven öffnet sich ein weiter Blick über Sonthofen und die Allgäuer Alpen – aber die meisten schielen schräg nach oben, um zu erahnen, wie weit es noch ins Ziel ist. Die Schnellsten fliegen mit einem Schnitt von 18 km/h den Berg hoch.
Der Blick auf die Ergebnisliste zeigt: Das ist echter Radsport und kein Kuschelrock-Event. Das hat auch Michael Wittek vom Gruppetto OAL Triathlon festgestellt: “Ich bin überrascht von der Leistungsdichte.” Auch für den 33-Jährigen ist das Rad Race 120 das erste Radrennen überhaupt – und es macht ihm richtig Spaß.
Nach wochenlangem Dauerregen spielt auch das Wetter mit – die Sonne strahlt über Sonthofen. Beste Voraussetzungen für eine Premiere, die streng genommen keine ist: 2019 organisierten das Team des Allgäu Triathlon und von Hannes Hawaii Tours bereits das Vorläuferrennen Zötler Gold Race. “Ich dachte mir, wir haben zwar einen Radmarathon und RTFs in der Gegend, aber kein Jedermann-Rennen”, umschreibt Renn-Erfinder Marlon Wörndl seine Idee. Doch dann verhinderte Corona die zweite Auflage, und anschließend gab es noch Probleme mit der Genehmigung. Denn das Zötler Gold Race fand noch ohne vollständige Straßensperrung und Polizeiabsicherung statt. Erst beim Wiederholungsversuch fiel auf, dass das in Deutschland gar nicht geht. Wörndl, der für den Allgäuer Sportevent-Spezialisten Project 808 arbeitet, war klar, dass sich eine aufwendige Straßensperrung nur lohnt, wenn das Rennen groß genug ist. So entstand seine Idee, die Eventagentur Rad Race zum Neustart der Veranstaltung ins Boot zu holen. Die Agentur hat sich über die Jahre eine starke Community aufgebaut – 134.000 Follower auf Instagram spiegeln das wider. Rad Race brachte Reichweite, Sponsoren und Ideen ein und die Allgäuer um Marlon Wörndl die schönen Strecken und ein geschärftes Eventprofil: nur noch Teams, optimierte Strecken und eine komplette Straßensperrung.
Die gesperrten Straßen sind der größte Pluspunkt des Rad Race 120 – trotzdem gibt es bei knapp 2000 Startern auf den flachen Kilometern zu Beginn des Straßenrennens ein Unfallrisiko. Deshalb verteilen sich die Teilnehmer im Zentrum von Sonthofen gleich auf drei Startblöcke. Zudem werden die ersten sechs Kilometer mit den vielen Kreisverkehren und Richtungsänderungen neutralisiert gefahren, was stressfrei funktioniert. Alle verhalten sich rücksichtsvoll – keiner bremst hektisch oder schießt quer. Dann geht es auf großen, breiten Landstraßen durch das Oberallgäu und über die Grenze ins österreichische Vorarlberg. Die Strecke führt mitten durch grüne Bergwiesen und gelegentlich durch Dörfer, in denen die Sportler begeistert angefeuert werden. Im Naturpark Nagelfluhkette mit seinen grünen Alpwiesen, kleinen Bächen, Bergwäldern und den Felswänden in der Ferne wird schnell klar, warum dies eine beliebte Urlaubsregion ist. Das Feld hat sich nach den ersten 50 Kilometern in die Länge gezogen, so haben die meisten Zeit, die Landschaft zu bewundern.
Auch wenn nicht alle durchgehend gemeinsam im Team über die Strecke fahren, sind doch immer wieder Gruppen in einheitlichen, schicken Trikots zu sehen. Das Äußere vieler Fahrerinnen und Fahrer unterscheidet sich sichtbar vom Gros eines üblichen Teilnehmerfeldes anderer Rennradveranstaltungen: Es dominieren ausgefallene Tattoos, Oberlippenbärte, große, verspiegelte Brillen, dazu Klamotten von Marken wie MAAP, Pas Normal Studio, Rapha sowie Teamtrikots. Bemerkenswert ist auch, dass das Rad Race 120 jung und weiblich ist: Fast ein Drittel des Starterfeldes sind Frauen, ihr Durchschnittsalter liegt bei 32 Jahren (34 bei den Männern). Als der Moderator zuvor beim Briefing gebeten hatte, per Applaus zu zeigen, ob man zum ersten Mal ein Radrennen fährt, klatscht rund die Hälfte. Der Corona-Rennradboom trägt Früchte. Nicht nur auf der Website des Rad Race 120 (“One Twenty”) dominiert die englische Sprache: Auch der Sprecher, der die Leute beim Briefing auf das Wochenende einstimmt, ist vor Vorfreude “total stoked”, Sonthofen wird zu “SoHo”, der Startbereich zum “Cage”, das Orga-Team wünscht “mucho love”, und am Ende war alles “fuxxxing amazing”.
Das Rad Race 120 ist auch kommerziell: Neben der Bühne werben große Firmen der Branche um die zahlungskräftige Kundschaft. Geschickt werden die Sponsoren in die Kommunikation eingebunden, und das Startgeld ist mit 99 Euro pro Person kein Schnäppchen. Als Gegenleistung gibt es die Infos per Rad Race WhatsApp-Broadcast aufs Handy, einen Livestream vom Rennen und danach Fotos und Videos für die Social-Media-Profile der Starter und Starterinnen. Kurz gesagt: Das Rad Race 120 ist in seiner Mischung einmalig.
Aber wo Licht ist, ist auch Schatten: In den Verpflegungsstationen werden gefüllte Trinkflaschen, Riegel und Gels gereicht – ein guter, perfekt organisierter Service. Doch noch Kilometer nach den Stationen finden sich auffallend viele Verpackungen von Gels oder Riegeln und sogar Trinkflaschen in der Wiese und auf der Straße. Offenbar haben viele Teilnehmer ihren Müll einfach weggeworfen. Das ist besonders beschämend, weil die Region den Radfahrern einen begeisterten Empfang bereitet: Die ganze Strecke entlang stehen immer wieder Zuschauer, die anfeuern, klatschen oder mit Musik gute Stimmung machen. Besonders stark angefeuert wird am sportlichen Höhepunkt des Rennens: dem Riedbergpass. Deutschlands höchstgelegene Passstraße ist bis zu 16 Prozent steil und mit einer Durchschnittssteigung von fast 9 Prozent ein echter Klettertest. Bis zur Passhöhe motivieren immer wieder Zuschauergruppen die Teilnehmer, die verzweifelt am Lenker ziehen. Nach dem Riedbergpass folgt eine schnelle, sichere Abfahrt, bevor es wieder links ab in Richtung Sausteig geht. Zum zweiten Mal an diesem Tag fährt man die Schleife über die schmale Straße zum Rohrmoossattel: Eingebettet in eine liebliche Gebirgswelt, zählt sie zu den schönsten Abschnitten der Strecke.
Ein echtes Festival braucht einen Schlusspunkt, bei dem sich Lightshow und Musik zum ekstatischen Finale steigern. Beim Rad Race 120 bildet eine letzte steile Rampe vor dem Zielbogen den Höhepunkt: Untermalt wird der Zieleinlauf von jubelnden Zuschauern, lauten Beats, bunten Bengalos und einem Sprecher, der über das Mikro noch einmal anpeitscht. Der Parkplatz hinter dem Zielbogen ist voller Radfahrer – auch Lukas Möllenbeck von den Hillstreet Larrys sitzt mit drei Freunden im Ziel – alle zwischen 28 und 29 Jahre alt, und allen hat ihr erstes Radrennen sehr gut gefallen. “Megacool”, lautet das Fazit. Die vier Hessen kommen aus dem Kreis Bergstraße und haben in der Corona-Zeit das Rennradfahren entdeckt.
Die Corona-Pandemie hat sehr viele erst aufs Rennrad und die Instagram-Seite von Rad Race zu ihrem ersten Radrennen gebracht. Das gilt auch für das Team “good girls gone ballern” aus München. Die fünf Frauen sind erst seit einem Jahr auf schmalen Reifen unterwegs und fahren in ihrer Freizeit viel zusammen – die 31-jährige Jill Hovekamp kam über Instagram auf die Idee. Das Rennen hat den Frauen gut gefallen. “Es war sehr gut organisiert – nur die Info zur Startplatzeinteilung kam spät”, meint Corinna Assenbrunner (34). Motiviert hat sie auch der Gemeinschaftseffekt. Das haben sie mit dem Team “ACC – They see us Aperollin” aus Lindau gemein: “Die Wertung war nicht ausschlaggebend – uns ging es eher ums gemeinsame Event.” Auch ihr Fazit: “Megacool!” Selbst wenn das schöne Wetter nach längerer Regenzeit im Allgäu die Stimmung sicher auch positiv beeinflusst hat – im Ziel hört man nur Gutes über die Veranstaltung. Das Rad Race 120 hat eine starke Premiere hingelegt und ist eine Bereicherung für den Rennkalender – die Messlatte für das Wiederholungsfestival 2024 liegt hoch.