Unbekannt
· 02.10.2013
Der Ötztaler Radmarathon gehört zu den schwierigsten Rennrad-Events für Hobbysportler. Wo sonst immer die Sieger im Blickpunkt stehen, haben wir in dieser Reportage die tapferen Kämpfer vor dem Besenwagen begleitet
Die muss Nerven haben. Es ist 19:19 Uhr in 2.400 Meter Höhe. Gleich wird es dunkel. Es regnet. Es ist kalt. Alles ist nur noch Kampf. Doch Jorid Thomsen aus Kappeln stemmt sich vorbei an vier Kleinbussen, die auf den letzten Kilometern hinauf zum Timmelsjoch Verzweifelten Unterschlupf bieten sollen. Thomsen, Jahrgang 1960, trägt ein Lachen im Gesicht, wie es nur nach überwundenem Schmerz hervorbricht. Hinter ihr kriecht ein weißer Transporter als persönlicher Besenwagen die letzten Meter hinauf zum Pass, begleitet sie im Schritttempo. So was kann zum Verzweifeln sein. Aber sie hält durch. Überall Signalleuchten, Männer und Frauen in Warnwesten, Funksprüche. Die Radlerin rettet sich über die Kuppe – und jetzt fährt hinter ihr eine ganze Kolonne an Besenwagen. Sie bleiben leer.
Ganz hinten beim Ötztaler Radmarathon, einer der renommiertesten Veranstaltungen für Jedermänner im Straßenradsport. Ganz hinten auf 238 Kilometern über 5.500 Höhenmeter. Das ist diese Geschichte. Während vorn zum 33. Mal die sportlichen Überflieger über Brenner, Jaufen und Timmelsjoch jagen, herrscht hinten den ganzen Tag über ein tausendfacher Kampf. Gegen die Uhr. Gegen die Karenzzeit. Gegen den Ausschluss. Gegen das Machtwort von Joachim Kuen.
Die Arbeit von Joachim Kuen, normalerweise Sportgeschäftsbetreiber aus Längenfeld im Ötztal, beginnt an diesem Sonntag vor sechs Uhr am Morgen. Mit Headset am Ohr, neongelber Jacke zum Schutz gegen den prasselnden Regen am Leib und Handy in der Hand steht er an der Beifahrertür eines schwarzen BMW X3. Oben am Dach läuft die Rennuhr. Auf der Heckscheibe steht "Rennleiter 3", ebenso wie auf Kuens Jacke. Während vorne und in der Mitte des Feldes weitere Leiter das sportliche Geschehen überblicken, verantwortet Kuen den Schluss des Wettbewerbs. Für die Teilnehmer ist der hochgewachsene Mann mit sonnengebräunter Haut und Baseballmütze die finale Instanz. Er entscheidet, wer aus dem Rennen ausscheidet, weil es fürs Finish nicht reicht.
Die ersten knapp 700 Teilnehmer haben jedoch schon ohne Kuens Einwirken aufgegeben. Sie sind gar nicht erst angetreten. Zu heftig war der Regen, der seit dem Vorabend ins düstere Sölden hinabströmte. Immer noch 3.354 gehen um 6.45 Uhr an den Start – da ist Kuen gemeinsam mit seinem Fahrer und zwei jungen Damen auf der Rückbank schon auf dem Weg nach Kühtai, zum ersten steilen Anstieg. Die beiden Frauen haben Klemmbretter mit leeren Listen dabei. Im Laufe des Tages, wenn ihr Auto am Ende des Rennens fährt, werden sie notieren, welche Fahrer sie überholen – und beobachten, wer von diesen Startern an ihren Kontrollpunkten wieder vorbeikommt. "Uns soll niemand verlorengehen", erklärt Kuen.
Graues Wetter, goldene Decken
Schon am ersten Berg haben sie viel zu tun. An der Bushaltestelle Mareil, in einem dunklen verregneten Waldstück, ziehen die Teilnehmer vorbei. Das erste Zeichen des Scheiterns: Ein deutscher Teilnehmer schiebt sein Fahrrad bergan. Am Hinterrad ist eine Speiche gerissen. Als kurz darauf ein Servicewagen vorbeikommt, hält Kuen ihn an – doch die Besatzung kann nichts ausrichten. Wieder ein paar Minuten später fährt ein zweiter Servicewagen heran. Die Mechaniker versuchen, dem jungen Mann zu helfen. Doch auch sie haben keine Lösung. Für diesen Teilnehmer endet das Rennen weit vor dem ersten Gipfel.
Kuen ordert einen Kleinbus für den Aussteiger, der Fahrer eines Lieferwagens nimmt das Rad an Bord. Ein Bild, das viele Teilnehmer zum Nachdenken bringt. Sieben Grad sind es hier an der Mitte des Berges, alles ist nass – da entwickelt ein Bus zurück nach Sölden plötzlich seinen Reiz. Innerhalb von ein paar Minuten findet sich eine ganze Gruppe am Straßenrand neben Kuens Dienstfahrzeug ein. Sanitäter reichen den Sportlern goldene Isolierdecken – ein Bild, das in den folgenden Stunden häufig zu sehen sein wird. Ein Fahrer schüttelt enttäuscht den Kopf, die meisten aber wirken erleichtert, einige fröhlich. Kuen hat gerade berichtet, wie emotional die Auseinandersetzungen um eine Disqualifikation oft ausfallen. Doch jetzt überrascht ihn die vielfache Bereitschaft zur Aufgabe: "Hier ist keine Diskussion nötig", sagt er.
Dass Kuen die Teilnehmer so gefügig erlebt, liegt wohl an den extremen Wetterbedingungen in diesem Jahr. Zwar ist es nicht unüblich, dass es beim Ötztaler auf den höchsten Punkten der Strecke schneit. Aber dass die Welt nach wochenlangem Sommerwetter zu ertrinken droht, das schlägt dann doch besonders auf Moral und Physis. Am Vortag war es noch spätsommerlich warm, am Sonntag kommen die Temperaturen nicht aus dem Keller. Die Organisatoren haben so etwas zuvor nur einmal erlebt: 2003, als die Moral der Radfahrer ähnlich geprüft wurde wie in diesem Jahr und 1.096 Teilnehmer aufgaben ...
Wie es weitergeht, lesen Sie in der Reportage von Tim Farin in der aktuellen Ausgabe von TOUR, die Sie hier bequem online bestellen können