Am Start des Granfondo Ukraine herrscht Vorfreude wie bei jedem anderen Radrennen auf der Welt: Radfahrer pumpen die Reifen auf, füllen die Trinkflaschen und ziehen die Helmriemen fest. Auf der Straße markiert Klebeband die Startlinie, wenige Meter dahinter liegen die Sensoren für die Zeitmessung. Man sieht bunte Trikots, braungebrannte Waden und schlanke Taillen. Aber niemand käme auf die verrückte Idee in einem Kriegsland mit einer Drohne Aufnahmen von der Startaufstellung zu machen oder eine Startpistole abzufeuern. In dem kleinen Dorf Komarno im Westen der Ukraine, 30 Kilometer entfernt von Lviv (Lemberg), haben sich rund 140 Frauen und Männer versammelt, um ein Radrennen zu fahren. Heute geht es nicht um Krieg oder Frieden, sondern um brennende Lungen, erfolgreiche Attacken und harte Kämpfe am Schlussanstieg. Wie bei jedem Radrennen wird auch etwas Blut fließen und Haut auf der Straße hängenbleiben. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel und das Thermometer liegt weit über 30 Grad. Die Startliste verrät Teilnehmer aus Kyjiw, Odessa, Mykolajiw, Riwne und natürlich Lviv. Aber viele Plätze auf der Liste sind leer geblieben.
Der Granfondo Ukraine ist immer noch eines der größten Radrennen des Landes, aber vor der russischen Großinvasion gab es rund dreimal so viele Teilnehmer. Es fehlen die Radfahrer aus Charkiw und anderen Städten im Osten des Landes, die besonders unter russischem Beschuss stehen. Es fehlen Gesichter der Rennradszene, die beim Militär dienen oder bereits gefallen sind. Vor allem aber sind Männer ferngeblieben, weil sie die Mobilisierung fürchten. Während sich 2022 noch Tausende freiwillig zur Verteidigung ihres Landes meldeten, dominiert inzwischen die Angst an der Front zu sterben. Die Sorge ist groß, auf der Anreise ins Visier der Mobilisierungsbeamten zu geraten. Aber ist es moralisch, um Plätze auf dem Podium zu kämpfen, während das Land sich im Krieg befindet?
Wer könnte das besser beantworten als Maksym Logash (50), einer der Gründer des veranstaltenden Lviv Bicycle Club? Er dient in der Armee, aber unterstützt das Rennen trotzdem: “Es ist gut für die Psyche. Ich kenne viele Freiwillige, die alles getan haben, um die Armee zu unterstützen. Ich weiß, dass sie sehr oft mental erschöpft sind. Radfahren gibt frische Luft, die Möglichkeit die Zeit zu spüren ohne Stress.” Maksym fährt nicht mehr Rad, er ist mental und körperlich total erschöpft. Sein halbes Leben stand Radsport im Mittelpunkt - selbst bei Paris-Brest-Paris war er am Start. 2022 hat er sich freiwillig gemeldet und arbeitet als Mediziner in der Armee. Sein altes Leben existiert nicht mehr. Er kann sich nicht mehr erinnern, wann der Verein gegründet wurde oder er in Frankreich war. In seinem Kopf sind nur noch die Zahlen aus der Armee – das Leben vor 2022 ist nur noch eine dunkle Erinnerung.
Tetiana Kuzminska (45), ist seit der Gründung des Lviv Bicycle Club in der Organisation. Mit anderen Gründern war sie bei der Maratona dles Dolomites, der Salzkammergut Trophy oder beim Radurlaub in den Dolomiten. Tetiana erklärt, warum Radrennen auch im Krieg wichtig sind: “Nach der großen russischen Invasion 2022 dachten wir erst, das kann man nicht machen: ein Radrennen während Menschen sterben. Dann haben wir realisiert, dass die Menschen sich nach ihrem bekannten Leben sehnen.” Die Events finden daher weiter statt und die Startgelder werden an die Armee gespendet.
Der Start in einem kleinen Dorf auf dem Land, ist aus Sicherheitsgründen ideal. Eine Menschenansammlung in Lviv wäre ein unverantwortbares Risiko. Im Vorjahr, eine Woche vor dem Granfondo Ukraine 2023, beschädigte ein einziger russischer Marschflugkörper in Lviv 35 Wohnhäuser, ein Bürogebäude, eine Schule und 50 Autos. 10 Menschen starben und 40 wurden verletzt. Hier im kleinen Dorf 30 Kilometer entfernt von Lviv, ist hingegen kein Risiko erkennbar. Besonders aus Sicht von Viktoriia Bondarenko (37) aus Odessa. Sie kennt aus ihrer Heimatstadt fast täglich russische Luftangriffe. Und auch Dima Kachur (22), der für das Team Mykolaiv fährt, kennt regelmäßigen Luftalarm und hat keine Angst. Er denkt nur an eines: dieses Radrennen zu gewinnen.
Um Punkt elf Uhr sammeln sich die Männer zur Startaufstellung. Hinter dem Starterfeld wartet ein Tross an privaten Begleitautos und dahinter eine Handvoll Frauen. Sie starten später in einem eigenen Frauenrennen. Aus einem batteriegetriebenen Lautsprecher tönt die Nationalhymne die viele inbrünstig mitsingen. Vor dem Peloton setzen sich ein Polizeiauto mit Blaulicht und zwei Autos der Rennleitung in Bewegung. Nach einer kurzen, neutralisierten Phase geht es endlich los und das Feld beschleunigt auf 45 km/h. Der erste Teil der 84 Kilometer langen Strecke ist flach und schnell. Der Wind bläst von der Seite und der Kampf um Positionen im Windschatten beginnt. Entgegenkommende Fahrzeuge werden von den Führungsfahrzeugen an die Seite gewunken, Polizisten an Kreuzungen schirmen den Verkehr ab und so verteilt sich das Peloton auf beide Fahrspuren. Der Straßenzustand der kleinen Nebenstraßen ist teilweise katastrophal: tiefe und große Löcher zwingen die Fahrer auszuweichen. Große Kuhfladen, feiner Sand oder später Abschnitte die mit hunderten Kieselsteinen bedeckt sind, erfordern hohe Aufmerksamkeit. “Früher sind wir auf guten Hauptstraßen gefahren, aber das geht derzeit nicht”, erklärt Tetiana.
Links und rechts der Straße liegen die riesigen Weizenfelder in der Sonne. Einzelne Bäume verteilen sich als grüne Punkte in der Landschaft. Man kann sich für einen Moment vorstellen über eine deutsche Landstraße zu fahren – vielleicht in Bayern. Im nächsten Ort wäre dann eine schöne Barocke Kirche und ein Kriegerdenkmal, das an die Toten des 1. und 2. Weltkriegs erinnert. Hier in der Ukraine sind die improvisierten Kriegerdenkmäler am Straßenrand neu: in jedem Dorf erinnern Fahnen und Fotos von Männern in Uniformen an die Gefallenen im Verteidigungskampf gegen Russland. Ähnlich ist das Bild an den Friedhöfen, die man von der Straße aus sieht: auch dort stecken ukrainischen Fahnen neben neuen Gräbern in der Erde. Es sind erschreckend viele Fahnen für so kleine Dörfer. Die kleinen Häuser sind aus Holz oder haben eine rohe, unverputzte Fassade und eher zweckdienlich als schön. Rausgeputzte Schmuckstücke sind hingegen die Orthodoxen Kirchen, deren goldene Dächer in der Sonne glänzen. Am heutigen Sonntag sieht man viele Menschen, die nach der Messe zu Fuß nach Hause schlendern und mit neugierigen Blicken auf die vorbeifahrenden Radfahrer schauen. Kinder sitzen mit nacktem Oberkörper am Straßenrand und springen begeistert auf, als das bunte Peloton vorbeirauscht. Gelegentlich quert ein Hund oder eine Katze langsam die Straße. Ohne Zaun, direkt neben der Straße grasen Kühe und picken Hühner in den Boden. Eine friedliche Landidylle, unterbrochen schlagartig durch den Tross aus Radfahrern und Begleitautos.
An der Spitze im Männerrennen hat sich zunächst das Team BFCC aus Kyjiw gehalten, aber dann greift nach rund 30 Kilometern Dima an und setzt sich mit harten Tritten vom Feld ab. Über zehn Kilometer kämpft er allein, bevor er wieder geschluckt wird. Im Frauenrennen fährt Viktoriia die meiste Zeit vorne. Die anderen Fahrerinnen wissen, dass sie stark ist und bleiben an ihrem Hinterrad. Der Krieg hat die Rennradszene zusammengeschweißt, berichtet Viktoriia nach dem Rennen. Sie ist Präsidentin eines Radvereins und leitet Kinderradtraining sowie Gruppenausfahrten. “Seit dem Krieg fahren bei den Ausfahrten alle Altersgruppen mit. Es gibt einen großen Zusammenhalt.”
Aber wie sieht Radtraining unter Kriegsbedingungen aus? Lviv ist 1000 Kilometer von der Front entfernt, aber Russland hat auch dort die Infrastruktur zerbombt. Wasser, Heizung und Strom sind überall eingeschränkt. “Allein den Radcomputer aufzuladen, muss man genau planen. Wir hatten gestern acht Stunden keinen Strom”, berichtet Tetiana. Regeneration ist schwierig, weil die ständigen Luftalarme Schlaf und Erholung verhindern. In der Region Odessa gab es seit Februar 2022 an insgesamt 672 Tagen mindestens einen Luftalarm und dabei über 400 Explosionen. In der ganzen Ukraine sind es 11.477 dokumentierte Explosionen von Raketen, Gleitbomben oder Shahed-Drohnen weit entfernt von der Front. Fragt man Viktoriia, ob das Rennradfahren in Odessa gefährlich ist, kommt ein müdes Lächeln. Erst letzte Woche war sie auf einer Ausfahrt, als eine Brücke bombardiert wurde. “Aber Rennradfahren gibt mir ein Gefühl der Freiheit.” Nachdem sie in diesem Jahr zweimal ohne Vorwarnzeit von Einschlägen überrascht wurde, hat sie sogar die Warn-App, die russische Angriffe meldet, vom Handy gelöscht. “Ich habe gesehen, was passiert, wenn Streubomben abgeworfen werden. Man hat sowieso keine Chance sich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.”
Fragt man nach, berichtet sie von zwei besonders traumatischen Erlebnissen: beim Training mit ihrer Kindergruppe schlug ganz in der Nähe ein Marschflugkörper ein. Ihr zweites Erlebnis kostete Nachbarn und vielen Helfern das Leben. Minuten nachdem sie ihre Wohnung verlassen hatte, meldete die Warn-App einen Raketeneinschlag in ihrem Wohnviertel. Ihr Vater ist Arzt und berichtete am Telefon, dass er zum Ort des Einschlags fahren werde. 30 Minuten später meldete die App erneut einen Einschlag an diesem Ort. “Double Tap” nennen Fachleute die russische Taktik, die zum Ziel hat, möglichst viele Rettungskräfte zu töten. Viktoriia geriet in Panik, aber ihr Vater war nicht unter den vielen Opfern. Über ihr drittes Trauma spricht sie ungern: als Dolmetscherin hatte sie am 2. April 2022 den deutschen RTL-Journalisten Gordian Fritz ins gerade befreite Butscha begleitet, als die Leichen der ermordeten Zivilisten noch auf den Straßen, den Kellern und Hinterhöfen lagen. Die starke Frau war nach diesen drei Erlebnissen kurz davor zu zerbrechen und flüchtete zwei Monate ins Ausland. Sie fuhr Radrennen in Belgien und Frankreich, bevor sie das Heimweh doch wieder nach Odessa zog. Sie ist nicht die Einzige, die mental am Limit ist. “Ich fühle mich so müde und ich bin teilweise gefühlslos geworden – das ist ein psychologischer Schutz. Ich kenne viele Menschen die depressiv sind,” berichtet Tetiana.
Was sind da schon Schmerzen in den Beinen? Das Männerrennen geht jetzt in die entscheidende Phase: mehrere Ausreißversuche sind gescheitert und ein wilder Kampf entbrennt. Die letzten zehn Kilometer geht es 300 Höhenmeter bergauf und als die Führenden mit 25 km/ in den Anstieg knallen, explodiert die Gruppe. Das Team aus Mykolaiv hat sich taktisch geschickt mit zwei Fahrern abgesetzt und nur einen Konkurrenten im Schlepptau. Der schlaksige Dima weiß, dass man im Radsport niemals aufgeben darf und fährt allen davon. Mit großem Abstand erreicht er das Ziel. Im Frauenrennen wird bis zum Schluss um die Podiumsplätze gekämpft. Viktoriia kann sich etwas absetzen, aber hinter ihr gibt es einen Zielsprint um Platz zwei und drei. Für Viktoriia ist es der dritte Sieg beim Granfondo Ukraine und er bedeutet ihr viel. Aber auch die langsameren Fahrer feiern ihren persönlichen Erfolg – niemals aufgeben gilt auch noch beim Kampf um Platz 50. Mit Abstand kommen über einen langen Zeitraum Fahrer ins Ziel. Im Krankenwagen im Zielbereich werden Sturzwunden versorgt. Alle Knochen sind heil geblieben, nur ein nagelneues Rennrad ist in Stücke zerbrochen.
In der Ukraine gibt es nur noch zwei, drei Radrennen im Jahr und wie überall auf der Welt sind sie mit großen Radsportträumen verbunden. Der Nachwuchsfahrer Roman Koshelev (15) war Fünfter bei der letzten nationalen Straßenmeisterschaft und träumt vom Profiradsport. Sein Trainer Pavlo Popovych weiß, wie man das schaffen kann: er ist der Vater von Ex-Profi Yaroslav Popovych, der jetzt Sportlicher Leiter bei Lidl-Trek ist. Und auch Dima bekommt glänzende Augen, wenn er von seinen Radsportträumen erzählt. Obwohl er erst 22 ist, dreht sich seit zehn Jahren in seinem Leben alles um den Radsport. Den heutigen Sieg sieht er als Vorbereitung für die Ukrainische Meisterschaft, bei der er Landesmeister werden will. Und sein großes Ziel ist es ein Profiteam im Ausland zu finden.
Während die Jüngeren ungetrübte Träume vom Radsport haben, dominieren bei den älteren Radsportlern die Sorgen. Die meisten Männer hoffen, dass sie nicht zum Militär müssen und sind gleichzeitig überzeugt, dass man die Russen nur militärisch stoppen kann. Das denkt auch Tetiana, die zugibt, dass die Situation sie jeden Tag belastet: “Der Krieg hat alles verändert. Ich habe das Gefühl der Sicherheit verloren. Jede Nacht kann deine letzte sein.” Durch ihren Job im IT-Bereich ist sie finanziell abgesichert, aber trotzdem denkt sie über eine andere Zukunft nach: “Ich werde lernen müssen zu schießen. Es sind schon viele Freunde gestorben und vielleicht werde ich mich entscheiden zum Militär zu gehen. Ich habe keine Kinder und ich habe verstanden, dass ich nur eine Heimat habe.” Und Viktoria hofft, dass sie mit ihren Kindern beim Radsporttraining nie von russischen Bomben erwischt wird. “Ich würde es nicht verkraften, wenn bei meinem Radtraining ein Kind stirbt.” Wenige Tage später melden ukrainische Medien den Einsatz einer Streubombe in Odessa. Details zu den Opfern gibt es in der Meldung nicht.
Granfondo Ukraine
Der Granfondo Ukraine ist ein Rennen mit Zeitnahme in der Region Lviv (Lemberg) im Westen der Ukraine. Der Ort liegt sehr nah an der polnischen Grenze – die Front ist über 1000 Kilometer entfernt. Früher gab es bis zu 500 Teilnehmer. Events wie die vom Verein organisierten Lviska Sotka (zwei Termine pro Saison) lockten vor der großen Invasion Russlands noch deutlich mehr Starter an. Es gibt einen Startblock für Männer, einen für Frauen und einen gemischten für Radfahrer, die ohne Zeitdruck fahren wollen. Veranstaltet wird das Rennen vom Lviv Bicycling Club, der sich als größter Verein für Hobbyradsportler in der Ukraine bezeichnet. Der Verein hat eine große Randonneurs-Tradition – mehrere Vereinsmitglieder sind bereits bei Paris-Brest-Paris mitgefahren. Auch in diesem Jahr wurden Brevets über 200/300/400/600/800 und 1000 Kilometer angeboten.
Sicherheit
Das Auswärtige Amt rät von Reisen in die Ukraine ab. Der Luftraum ist geschlossen, eine Ausreise ist nur auf dem Landweg möglich. Die App “Повітряна тривога” bietet eine Warnung bei Luftalarm. Auf der Website https://alerts.in.ua/en ist in Echtzeit einsehbar, wo gerade Angriffe aus der Luft drohen.
Informationsquellen