Jens Vögele
· 23.10.2022
Der Giro delle Dolomiti lockt mit einem außergewöhnlichen Format schon seit 45 Jahren enthusiastische Rennradfahrerinnen und -fahrer an. Viele, die einmal dabei waren, können nicht genug davon kriegen - und kommen immer wieder.
“Es schmerzt schon ein wenig“, sagt Michael Schaake beim Gedanken daran, dass die Rolling Stones wahrscheinlich gerade in diesem Moment und ganz in der Nähe seiner Heimat in der Arena auf Schalke beim Soundcheck sind. Doch während Mick Jagger die Hüften schwingt, lässt Michael die Beine kreisen und gibt auf Südtirols Asphalt den “Street Fighting Man” - beim Giro delle Dolomiti.
67 Jahre hat er mittlerweile auf dem Buckel und stellt seine Liebe zu den Rolling Stones offensiv zur Schau: Trikot und Handyhülle tragen das Markenzeichen der Altrocker - und sogar auf seine Wade hat er sich die weit herausgestreckte rote Zunge als Tattoo stechen lassen. Trotz alledem aber hat er sich in der letzten Juli-Woche gegen die Stones entschieden. Oder besser gesagt: für eine Woche Rennrad fahren “in einer geilen Gegend”. Damit meint er die Dolomiten.
In den Dolomiten, die Reinhold Messner als die schönsten Berge der Welt bezeichnet, fand in diesem Jahr bereits zum 45. Mal eine Rundfahrt statt. Deren Konzept wird von den Teilnehmern geliebt, weil es anders ist als das, was man so kennt in der Jedermannszene. Auf sechs Etappen fahren Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf abgesperrten Straßen geschlossen im Gruppetto. Lediglich für eine zwei Kilometer lange Sprint- und eine meist mehr als zehn Kilometer lange Bergwertung trennt sich jeden Tag die Spreu vom Weizen. Nach diesen Zeitmessungen fährt das Feld wieder geschlossen weiter und sammelt sich an meist idyllischen Orten zur Verpflegung oder zum ausgedehnten Mittagessen. Bettina Ravanelli, die Präsidentin des Giro delle Dolomiti beschreibt das so: “Wir wollten schon immer anders sein als die klassischen Granfondo, die es in Italien wie Sand am Meer gibt.”
Genau das ist es, was Rennradler wie Michael Schaake anlockt. Früher ist er viel Mountainbike gefahren, zum Beispiel siebenmal die BIKE-Transalp. Später dann ist er aufs Rennrad umgestiegen, war bei der TOUR-Transalp dabei. “Hier genieße ich aber, dass man nicht die ganze Zeit Rennen fährt”, sagt er über den Giro. Immer nur “durchzuheizen” bedeute, dass er oft gar keinen Blick auf die Landschaft habe und nicht wisse, wo er eigentlich gerade fahre: “Hier ist das aber komplett anders.”
Der Tross trifft sich in aller Regel zum Start im eher zweckmäßigen Ambiente der Messe in Bozen. Danach wartet auf die Teilnehmer des Giro delle Dolomiti aber ein landschaftliches Spektakel der Extraklasse. Von hier aus lassen sich gut und gerne 20 Pässe erklimmen - und auch wenn, wie in diesem Jahr, die Strecke nur auf Etappe drei Richtung Würzjoch richtig in die Dolomiten führt, bietet sie Ausblicke vom Feinsten. Etwa von Bozens Hausberg, dem Ritten, oder vom Monte Bondone in Richtung Gardasee. Diesmal zog der Giro mit Start und Ziel der beiden Schlussetappen von Bozen nach Trient um. Auch um etwas Abwechslung in die Streckenführung zu bringen, wie Präsidentin Ravanelli sagt. “Mal in Richtung Cortina gehen, das wäre ein Traum”, erzählt sie von neuen Ideen, auch wenn sie weiß, dass deren Verwirklichung hohen logistischen und finanziellen Aufwand mit sich bringen würde.
Sich auf den Erfolgen der vergangenen 45 Jahre ausruhen - das spüren die Verantwortlichen nämlich genau - dürfen sie nicht. Zwar fiel die Veranstaltung im Gegensatz zu vielen anderen nur im ersten Corona-Jahr aus. Aber im vergangenen und in diesem Jahr waren auch hier, wie vielerorts, deutlich weniger Teilnehmer am Start: gut 350 im Vergleich zu mehr als 600 früher.
Immerhin war es 2021 gelungen, auch ein paar neue anzulocken. Julia Jedelhauser zum Beispiel. “Ich hab’ mich letztes Jahr angemeldet, weil alle anderen Veranstaltungen abgesagt wurden”, sagt sie rückblickend. Am Ende stand sie damals in der Frauenwertung ganz oben auf dem Treppchen - bei ihrem ersten Rennradrennen überhaupt. Früher fuhr sie Mountainbike-Rennen und bestritt Berglauf-Wettkämpfe. Aber als Vorjahressiegerin erhielt sie einen Freiplatz und stand diesmal wieder am Start. Zwar sahnte sie jetzt “nur” bei den Sprintwertungen ab und musste Platz eins in der Gesamtwertung abgeben. Zufrieden war sie trotzdem: “Wenn man sieht, wer vor mir liegt, fühlt sich das trotzdem an wie ein Sieg.”
Vor ihr liegt nämlich Janine Meyer, eine der namhaften Figuren der Marathonszene. Die Kölnerin fährt von Erfolg zu Erfolg und hat schon bei der TOUR-Transalp sowohl die Team- als auch die Einzelwertung bei den Frauen gewonnen. Beim Giro delle Dolomiti ist sie zum fünften Mal dabei, zuletzt stand sie vor fünf Jahren am Start. Diesmal hat sie sich kurzfristig angemeldet: “Ende Juni war ich Corona-positiv, was meine ganze Saisonplanung über den Haufen geworfen hat.” Und auch wenn sie mit Julia in Konkurrenz steht, eint sie der Blick auf das Giro-Format. Beide genießen es, sich entspannt mit Gleichgesinnten zu treffen, viel zu reden - um sich bei den Wertungen dann richtig auszupowern.
Ein Gefühl, das auch Claudia Rier nach rund vier Monaten wieder genießen konnte. Sie ist Südtiroler Lokalmatadorin und verbringt im Sommer fast jede freie Minute auf dem Rennrad. Und im Winter auf Ski. Und genau das wurde ihr im Frühjahr zum Verhängnis. Eigentlich stand sie schon voll im Rennradtraining, als sie sich auf ihrer allerletzten Skitour des vergangenen Winters Kreuz-, Innenband und Meniskus riss. Beim Giro delle Dolomiti wagte sie sich das erste Mal - in Begleitung und unter Beobachtung ihres Physiotherapeuten Julian Pioner - wieder in die Berge, meldete sich aber nur für zwei Tagesetappen an. Ungewohnt langsam war sie dabei unterwegs, aber dafür mit umso mehr Glücksgefühlen: “Es ist unglaublich schön, wieder zurück auf dem Rennrad zu sein”, sagte sie nach den Bergwertungen am Würzjoch und in Durnholz - und belohnte sich dort am idyllisch gelegenen See mit Südtiroler Spezialitäten von der Verpflegungsstation.
Dort genossen auch Doris Mertens und Jürgen Mustermann aus Köln die entspannte Atmosphäre. Doris ist erfahrene Marathonfahrerin, hat schon viermal den Ötztaler bezwungen und war 2012 im TOUR-Jedermann-Team. Jürgen dagegen fährt gerne Touren und trainiert regelmäßig mit seiner Frau, “weil wir uns sonst fast gar nicht mehr sehen würden”, sagt er augenzwinkernd. Dass er jetzt beim Giro delle Dolomiti seine Rennpremiere feiert, liegt an vergangenem Weihnachten: “Ich hab’s ihm einfach geschenkt”, erzählt Doris. Beide fahren für den FC St. Pauli Radsport, weil sie sich da sehr wohlfühlen. Weil die Menschen dort entspannt sind. Und so erfrischend anders - wie beim Fußball auch. “Wir werden immer auf Fußball angesprochen, wissen aber nie die Ergebnisse”, erzählen sie lachend. Aber immerhin tragen sie, wie die Fußballer, extrem coole Trikots.
Coolere trägt im Fahrerfeld eigentlich nur noch Stones-Fan Michael Schaake. “In meinem Alter”, sagt er, “plant man ja nicht mehr allzu lange im Voraus. Aber wenn die Gesundheit mitmacht und die Form ausreicht, um nicht vor dem Besenwagen zu fahren”, kann er sich gut vorstellen, nächstes Jahr das vierte Mal beim Giro delle Dolomiti mitzufahren. In Mick Jaggers Worten würde sich das wahrscheinlich so anhören: “I can’t get no satisfaction.”
Die Etappenfahrt für Jedermannsportler führte in diesem Jahr über sechs Etappen (Mittwoch Ruhetag). Man kann an allen sechs Etappen teilnehmen oder an bis zu vier Einzeletappen. Die Tagesabschnitte waren zwischen knapp 80 und 175 Kilometer lang. Die Zeitnahme fürs Klassement erfolgt auf festgelegten Abschnitten, meistens Anstiege über rund 10 Kilometer und zwischen 500 und 1000 Höhenmeter. Die ersten vier Etappen begannen und endeten in Bozen, die letzten beiden in Trient. Den Abschluss in Trient bildete ein Zeitfahren für Einzelstarter oder bis zu fünfköpfige Teams. Die gesamte Veranstaltung kostete 450 Euro (Rennverpflegung inklusive), Einzeletappen 90 Euro.