“Aufwärts. allmächtig schröcklich.” Johann Wolfgang von Goethes Reisetagebuch vom 20. und 21. Juni 1775 zeugt von seiner ersten Begegnung mit dem Gotthard. Sein Aufstieg zur Passhöhe war begleitet von “Noth und Müh und schweis”. Und dennoch war der große deutsche Dichter so beeindruckt von der Landschaft, dass er seiner ersten Schweiz-Reise noch zwei weitere folgen ließ. Nun ist knapp 250 Jahre später die Welt eine andere geworden. Und auch wenn asphaltierte Passstraßen längst in nur wenigen Minuten von Sportwagen- und Motorradpiloten erklommen werden können und die Gegend sogar als Kulisse für die Abenteuer des Geheimagenten James Bond dient, dürften zumindest Rennradfahrer auch heute noch nachvollziehen können, wie sich der Dichter einst auf seiner beschwerlichen Reise fühlte.
Andermatt ist aus geografischer Perspektive fast der Mittelpunkt der Schweiz – und für Rennradfahrer das Mekka. Sieben Pässe lassen sich von hier aus in alle Himmelsrichtungen bezwingen, was die Basis für ein ganz besonderes Rennrad-Event durch fünf Schweizer Kantone bildet: das Alpenbrevet. Dass ohne Müh und Schweiß hier nicht viel geht, ist beim Anblick der majestätischen Schweizer Zentralalpen ohnehin schon klar. Aber wie jedes Jahr an einem Wochenende Anfang September rund 3200 Jünger in bunten Trikots und engen Radhosen in den idyllischen 1500 ‐Seelen‐Ort pilgern – das ergibt schon ein beeindruckendes Bild. Wenn die Sonne längst noch nicht aufgegangen ist, nehmen sie die vier verschiedenen Strecken zwischen 64 und 267 Kilometern Länge in Angriff. Und wenn die Sonne längst schon untergegangen ist, sind einige von ihnen noch immer nicht im Ziel.
Auf der Straße zum Gotthardpass zeugt im Morgengrauen eine unendlich erscheinende Lichterkette von Hunderten Sportlern, die auf schmalen Reifen auf Goethes Spuren wandeln. Hier auf der Silber-Tour müssen 107 Kilometer und 3100 Höhenmeter bezwungen werden. Doch schon auf dem Weg zum Gotthard, der ersten Passhöhe, warten selbst auf der zweitkürzesten Strecke des Alpenbrevets die ersten Tücken. Obwohl der Wetterbericht einen wunderschönen und warmen Spätsommertag versprochen hatte, verdichtet sich mit jedem Höhenmeter der Nebel. Es nieselt. Und es wird immer kälter. Einer, dessen Laune sich dennoch nicht eintrübt, ist Michael Brichta, der stolz da rauf ist, mit seinem Klapprad regelmäßig an Triathlons teilzunehmen. “Man kann alles schaffen, egal mit welchem Bock”, sagt er augenzwinkernd über sein auf Rennlenker und 53er-Kettenblatt umgebautes Gefährt. Er lebt und arbeitet in Pratteln in der Schweiz und war vergangenes Jahr bereits auf der gut 40 Kilometer kürzeren Bronze-Runde am Start. “Ich war davon so begeistert, dass ich diesmal unbedingt noch eine Schippe drauflegen musste.” So wie Michael gibt es viele, die immer wieder zu der Veranstaltung mit fast 50-jähriger Tradition kommen. Neben der Schönheit der Landschaft und der sportlichen Herausforderung gehört der unaufgeregte Charakter des Alpenbrevets zu den Besonderheiten, die er schätzt. Zwar erhalten alle Finisher eine individuell gemessene Zeit – eine Rangliste gibt es aber bewusst nicht. Und deshalb lautet Michaels Fazit im Ziel: “Es war schon hart – aber ich hatte einen unvergesslich schönen Tag.”
So schnell vergessen wird diesen Tag auch Familie Axthelm nicht; Papa Fabian und seine Töchter Hannah und Klara nehmen sich auf dem Furkapass die Zeit, ein Familienfoto schießen zu lassen. Der Nebel hat sich gelichtet – und nachdem sie sich gemeinsam über den Gotthard-und den Nufenenpass gekämpft haben, mit 2478 Metern das Dach des Alpenbrevets, liegt jetzt schon das Ziel vor Augen. 2019 hat Fabian, der mit seiner Familie in Widnau südlich des Bodensees lebt, das erste Mal am Alpenbrevet teilgenommen. “Die Veranstaltung ragt im Vergleich zu anderen einfach heraus”, beschreibt er die trotz aller Anstrengungen entspannte Atmosphäre. Während er zum fünften und Hannah zum vierten Mal ins Ziel kommen, ist die 16-jährige Klara sichtlich stolz auf ihre erste Finishermedaille. “Für mich war das Ziel, dass wir so was zusammen erleben können”, freut sich Fabian über den rundum gelungenen Familienausflug. Wobei er durchaus noch Ambitionen hegt: “Ich habe noch einen Sohn – vielleicht sind wir ja nächstes Jahr zu viert am Start.”
Größere Ambitionen sind auch unter den Teilnehmern der Platin-Tour auszumachen, die mit fünf Pässen, 267 Kilometern und 6800 Höhenmetern vor der ultimativen Härteprüfung stehen. “Talentfrei” steht zwar auf dem Trikot von Ulli Fella. Dass das aber eine maßlose selbstironische Untertreibung ist, wird spätestens dann offensichtlich, als er nach 10:39 Stunden als einer der Ersten der Platin-Runde ins Ziel in Andermatt fährt. Die Strapazen stehen ihm noch ins Gesicht geschrieben, aber auch die Zufriedenheit über die eigene Leistung. Als er mit rund 500 anderen Platin-Fahrern um 6 Uhr am Start steht, bekommt er von der Schönheit der spektakulären Schöllenenschlucht kaum etwas mit. Es ist noch zu dunkel auf den ersten neutralisierten Kilometern der Alpenbrevet-Langstrecke. Der Anstieg zum Sustenpass gleich zu Beginn: furchteinflößend. 1350 Höhenmeter auf knapp 18 Kilometer. Aber es wird langsam hell und die Beine sind noch frisch. Bis zum Grimselpass bildet sich eine Fünfergruppe an der Spitze, die gemeinsam daran arbeitet, auch das zweite Passmonster des Tages zu bezwingen. “Danach wurde es aber richtig hart”, schildert Ulli Fella seine Erlebnisse auf der Strecke. Zum Nufenenpass führt die Strecke in entgegengesetzter Richtung zur Silber- und zur Gold-Runde. Während alle anderen vom Nebel auf der Passhöhe in die wärmende Sonne ins Wallis fahren, kämpft Ulli nicht nur mit den steilen Rampen, sondern auch mit dem einsetzenden Regen und der Kälte. “Wir sind zitternd wieder runtergefahren”, sagt er.
Bei sieben Grad und miserabler Sicht gerät selbst eine Abfahrt zum Kraftakt. Aber bei allem Ehrgeiz steht auch auf der Platin-Strecke Teamgeist im Vordergrund. Sie helfen sich gegenseitig, um auch noch den Lukmanierpass und den Gegenwind hinauf zum Oberalppass zu bezwingen. “Was für eine Top-Veranstaltung”, sagt Ulli Fella im Ziel: “Top organisiert, gigantische Landschaft, super Verpflegungsstellen.” Wobei er augenzwinkernd hinzufügt, dass er ein für die Alpenbrevet-Veranstalter günstiger Teilnehmer war. “Ich hab nur meine Flaschen aufgefüllt, ’ne Cola getrunken und ein paar Orangenschnitze gegessen.”
All die anderen Leckereien an den Labestationen hat Ulli links liegen lassen. Da gibt es nicht nur Riegel, Gels und Obst, sondern auch Käse und Salami – und vor allem Schweizer Schokolade. Wer es etwas entspannter angehen lässt, kann es sich hier in aller Ruhe gut gehen lassen und Energie tanken. So wie Doris Mösinger, Bettina Kehl und Candy Wegener, drei Arbeitskollegen aus dem Aargau. Nachdem Candy letztes Jahr auf der Gold-Tour unterwegs war und sich von Doris und Bettina anfeuern ließ, haben sie den Entschluss gefasst, diesmal zusammen die Bronze -Runde mit 64 Kilometern und 2100 Höhenmetern in Angriff zu nehmen. Für Bettina und Doris war es die Premiere bei einer Rennrad-Jedermann-Veranstaltung, wenn auch mit Unterstützung durch den rennraderfahrenen Candy: “Wir wollten einfach mal was Verrücktes machen”, sagen sie, als sie sich im Ziel in die Arme fallen: “Es fühlt sich fantastisch an!” Bettina ist fasziniert vom Panorama und davon, wie der Kopf die längst ermüdeten Beine immer weiter antreibt. Und Doris erzählt, wie sie unterwegs immer wieder angefeuert wurde von vielen Fans und Schaulustigen, die sich an der Strecke versammelt hatten. Auch wenn die Motivation diesmal schon groß war, die Pläne für 2025 sind noch größer: “Dann nehmen wir drei Pässe in Angriff.”
Ähnlich euphorisch zeigen sich David Gasser und Mario Wandpflug, nachdem sie die Gold-Tour mit 215 Kilometern und 5000 Höhenmetern bezwungen haben. Vergangenes Jahr waren sie zufällig in der Gegend, als das Alpenbrevet stattfand und längst ausverkauft war. Aber die beiden Freunde versprachen sich gegenseitig, die Herausforderung diesmal anzunehmen. Sie haben hart und konsequent trainiert, bei David standen vor dem Start in Andermatt rund 7000 Kilometer auf dem Tacho. Dennoch müssen sie kämpfen – die lange, stetig steigende Anfahrt nach Airolo vor dem Anstieg zum Nufenen, die trübe Suppe dort oben. Aber als dann im Wallis die Sonne dem Nebel keine Chance mehr lässt und das atemberaubende Panorama freigibt, ist das auch für David und Mario mehr als die Belohnung für all die Strapazen. Spektakulär sind die Spitzkehren in die Felsmassive gemauert, der finale Anstieg auf den Furkapass eröffnet Ausblicke auf den Rhonegletscher und das mitten in einer Serpentine auf 2300 Metern liegende Hotel Belvédère.
Die letzten Meter zur Passhöhe und die Abfahrt nach Andermatt – ein Kinderspiel! In der Spätsommersonne nehmen die Alpenbrevet-Finisher ihre Medaillen entgegen und genießen gemeinsam in ausgelassener Stimmung ihre Leistung. Sie dürften sich in einer ähnlichen Stimmung befunden haben wie einst Johann Wolfgang von Goethe: “Müd und munter vom Berg ab springen voll Dursts und lachens. Gejauchzt bis zwölf.”
Das Swiss Cycling Alpenbrevet erfreut sich immer größerer Beliebtheit und ist mittlerweile schnell ausverkauft. Auf vier Strecken sind zwischen 64 und 267 Kilometer mit 2100 bis 6800 Höhenmetern zu bezwingen. Die Veranstaltung, die sich bis ins Jahr 1978 zurückverfolgen lässt, ist bewusst nicht als Rennen organisiert – es gibt zwar eine individuelle Zeitnahme für die rund 3200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, aber keine Rangliste.
Alle, die sich keinen Startplatz sichern können, haben die Möglichkeit, beim “Alpenbrevet Extended” die Pässe der Veranstaltung in Eigenregie zu erklimmen. Wer nach kostenloser Registrierung zwischen drei und sieben Pässen rund um Andermatt bewältigt, hat die Chance, einen von zehn Startplätzen für das Alpenbrevet 2025 zu gewinnen.
Info: www.alpenbrevet.ch