Joscha Weber
· 07.05.2023
Epic Gran Canaria ist eine noch junge Veranstaltung im internationalen Kalender der Jedermann-Events. Früh im Jahr lockt das zweitägige Etappenrennen mit Sonne, Bergen und guter Stimmung immer mehr Menschen auf die kanarische Insel – in diesem Jahr aus 15 Nationen.
Die Plaza de Santiago in Hoya de Tunte ist ein sehr beschaulicher Ort. Besonders am Sonntagmorgen. Mal geht jemand mit dem Hund Gassi, mal läuft jemand mit Brötchentüten über den Platz, meistens aber herrscht gähnende Leere. Und Stille. Heute nicht. Trommler, Trompeten, tanzende Radsportler – der kleine Dorfplatz scheint zu vibrieren. Radschuhe klackern im Rhythmus der Party-Kapelle übers Pflaster.
Während die einen schweißgebadet und noch nach Luft schnappend auf ihren Rädern in die Plaza einbiegen, mampfen die anderen schon saftige Orangenspalten und trockenen Kuchen vom Büfett der Verpflegungsstation.
Die zweite Etappe des Jedermannrennens Epic Gran Canaria liegt hinter dem Großteil der 440 Starter, und einige liegen sich glückselig in den Armen. Manche berichten gestenreich vom Kampf gegen die Krämpfe im Anstieg. Und manche genießen einfach nur die wärmende Morgensonne, die es über die Dächer des Bergdorfs geschafft hat.
Inmitten dieses bunten Getümmels steht Horst Wallner und strahlt. Der Schweiß tropft ihm noch aus dem Helm, er ist gerade angekommen. “Alle Schmerzen und Qualen sind vergessen! Bombenstimmung hier”, sagt er lachend und berichtet stolz, dass er seine Bestzeit am 22 Kilometer langen Anstieg von Maspalomas hinauf nach Tunte um eine satte halbe Stunde verbessert hat.
Beflügelt von Sonnenschein, Anfeuerungen und Mitstreitern, hat sich der 55-Jährige “den gleichmäßigen Schmierer” hinaufgekämpft, wie er in oberösterreichischem Dialekt erzählt. Und er ergänzt: “Ich fühl mich wie neugeboren.” Das hat in seinem Fall etwas zu bedeuten.
Vor vier Monaten lag Horst Wallner noch auf der Intensivstation. Bei einem schweren Treppensturz brach er sich 21 Knochen im Körper. “Ich freue mich, dass ich leben darf”, sagt der Linzer. Er strahlt bei diesen Worten. Dass er nun noch seine Bestzeit an einem seiner Lieblingsanstiege pulverisiert, ist das Sahnehäubchen auf seiner Genesungsstory. Bis vor Kurzem war er Geschäftsführer einer Regionalbank, momentan nimmt er nach seinem Unfall eine berufliche Auszeit – die er zum Radfahren und Sonnetanken auf Gran Canaria nutzt.
Das tun im Winter viele Radsportler und Radsportlerinnen. Von Jahr zu Jahr kommen mehr auf die Kanareninsel, auf manchen Strecken sieht man im Februar mehr Menschen auf Rennrädern als auf Mallorca. Das Spektrum reicht vom Profi bis zur Hobbyfahrerin. Alle schätzen sie die umwerfende Schönheit der Bergwelt Gran Canarias und natürlich das verlässliche Sonnen-Wetter. Eigentlich.
Tags zuvor zeigt Gran Canaria ein anderes Gesicht. Die erste Etappe von Epic Gran Canaria ist gerade mal einen Kilometer alt, da öffnet sich der Himmel. Eben schien noch die Sonne über dem Startort Maspalomas, jetzt ergießen sich Wassermassen über das Peloton, das in einer Gischtwolke durch das Tal von Ayagaures rauscht. Sonnenbrillen werden abgesetzt, man sieht kaum noch etwas. Vorne attackiert ein junger Deutscher: Nick Bangert vom drittklassigen Profiteam P&S Benotti setzt sich gemeinsam mit dem spanischen Ex-Profi Haimar Zubeldia vom Feld ab. Der 18-jährige Bangert ist Deutscher Bergmeister der Junioren und jagt leichtfüßig bergauf. Oben auf 490 Metern über dem Meer gewinnt er die erste Zeitnahme des Zwei-Etappen-Rennens souverän.
Dahinter keucht das Fußvolk den ersten Hügel hinauf. Die Cima Pedro Gonzalez ist das Aufwärmprogramm von Epic Gran Canaria, einer noch jungen Veranstaltung, die 2018 erstmals ausgetragen wurde und jedes Jahr wachsende Teilnehmerzahlen verzeichnet. Der erste Anstieg von knapp vier Kilometern Länge bildet gemeinsam mit dem leicht ansteigenden Tal direkt davor die erste von drei Zeitnahmezonen. Gewertet wird jeweils nur das Segment der Zeitnahme (mehr dazu, unten), die Abfahrten sind neutralisiert, was angesichts der zum Teil arg rumpeligen Bergsträßchen Gran Canarias eine weise Entscheidung der Veranstalter ist. Besonders heute.
Die erste Abfahrt gleicht an manchen Stellen eher einem Gebirgsbach. Die schmale Straße von Montana la Data hinab ins Tal ist geflutet von einem braunen Strom, der von den Hängen auf den Asphalt fließt. Trotz der Neutralisation kommt es zu Stürzen. “Das war katastrophal”, sagt Gerd Jungerberg später. “So was habe ich noch nie erlebt hier.” Seit Jahren überwintert der Rentner auf Gran Canaria, fährt beinahe täglich seine Touren über die Insel.
Solch einen Wolkenbruch wie heute hat er auf der Insel mit ihren mehr als 300 Sonnentagen noch nicht gesehen. Einige Teilnehmer haben genug und biegen ab, zurück in Richtung Maspalomas. Gerd Jungerberg hat zwar gefühlt ein Aquarium in den Radschuhen, aber er zieht durch. Nach einer kurzen Verpflegung mit Kuchen, Bananen und Isogetränken rollt er frierend zurück ins Tal.
Die Landschaft gleicht einer Steinwüste, so wenig regnet es. Eigentlich. Heute prasselt der Regen auch an der sonst sonnenverwöhnten Südküste der Insel auf das Fahrerfeld nieder. Als bei Pasito Blanco die zweite Zeitnahme beginnt, geht ein Ruck durch das kleiner gewordene Feld. Sofort wird an den Wellen der Küstenstraße attackiert. Das Peloton zerfliegt in viele Teile. Ganz vorne mit dabei ist Jan Tölken und kämpft sich im Wiegetritt über die nächste Kuppe.
Der Heidelberger ist mit Freunden im Trainingslager und bringt die richtige Statur für diesen Wettkampf mit. Drahtig und austrainiert kurbelt der 32-Jährige mit seinem leichten Carbonrenner die Wellen hoch. Ein Freund hat ihm eine Regenjacke vom Streckenrand gereicht – solche Freunde wünscht sich gerade jeder im Feld. Alle frieren. Ein paar Spanier tragen inzwischen sogar dicke Daunenjacken, die im Fahrtwind flattern.
“Just for fun” will er mitfahren, hat Jan Tölken vor dem Rennen noch erzählt, am Ende des Trainingslagers seien die Beine schließlich schwer. Dafür zieht er im nächsten ansteigenden Tal gut am Horn. Von der Spitze führt er die Gruppe durch das Tal unterhalb von Soria, als könne er kaum erwarten, dass es endlich in den nächsten Berg geht. Oder ihm ist einfach nur kalt. “Zwischendurch habe ich mich gefragt, ob ich gerade wirklich auf Gran Canaria bin”, erzählt er später. “Das ähnelte an manchen Stellen eher einem Rennen in den Alpen.” Er habe im weiteren Rennverlauf durch die Kälte kaum noch Gefühl in den Händen gehabt.
Als der knapp neun Kilometer lange Anstieg von Soria beginnt, fahren alle Schlangenlinien. Nicht aus Erschöpfung, sondern weil kurz zuvor ein Geröllabgang die Straße mit Kies, Schotter und kleineren Felsbrocken übersät hat. Jan Tölken zieht hier mit einer kleiner werdenden Gruppe auf und davon. Der Bergfahrer ist in seinem Element. Soria, das das Fahrerfeld nun passiert, ist eines dieser malerischen Bergdörfer Gran Canarias, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Kleine bunte Häuser und üppig bepflanzte Obstgärten säumen den Anstieg, der hier kurzzeitig flacher wird.
Von einem Ziegeldach ruft laut ein Pfau, die Felswände werfen seinen Schrei als Echo zurück. Was er sagen will? Vermutlich will er davor warnen, was gleich kommt: ein holperiges Steilstück oberhalb von Soria. Der ehemals geteerte Waldweg gleicht inzwischen eher einer Schotterstrecke, ein Schlagloch folgt dem nächsten. Die Rennradreifen rutschen mehrmals, auch weil es nach einer kurzen Unterbrechung wieder angefangen hat zu regnen. In der Gruppe wird das Schnaufen lauter, jeder kämpft jetzt, mit der Steigung, dem Belag und der nasskalten Luft.
Auf der Kuppe angekommen, liegen die Berge im Nebel, der Regen wird stärker. Das ist nicht hilfreich, denn auf der kurzen Zwischenabfahrt wird der Straßenbelag noch einmal schlechter. Der Winter hat dem Weg ordentlich zugesetzt, und die letzte Instandsetzung ist lange her. Ab hier beginnt ein ziemlich fieser Streckenabschnitt. Es geht 13 Kilometer lang mehr oder weniger konstant leicht bergauf. Und zwischen perfektem Asphalt lauern immer wieder Abschnitte, auf denen man lieber ein Gravelrad unter sich hätte. Am Himmel kreist ein riesiger brauner Greifvogel und scheint abzuwägen, ob Rennradler als Beute in Betracht kommen.
Während der Regen unaufhörlich auf die geschrumpfte Gruppe prasselt, fällt die Temperatur immer weiter. Sieben Grad zeigt der Computer, gefühlt ist es deutlich weniger. Hinter einer Biegung gerät endlich der gelbe Zielbogen ins Blickfeld, noch ein paar Tritte – geschafft. In Ayacata warten Helfer mit Zeitungen, die sich die meisten unter die klatschnassen Trikots schieben. Und all jene, die am Start einen Kleiderbeutel mit einer Regenjacke abgegeben haben, freuen sich jetzt über eine trockene Schicht auf der kalten Haut.
Die Labestation auf einem kleinen Dorfplatz lassen die meisten links liegen und starten schnurstracks in die Abfahrt. Das Rennen ist hier oben für heute vorbei – und doch haben es alle eilig, ins eigentliche Ziel zu kommen: nach Maspalomas, in hoffentlich wärmere Gefilde. Nach einer nebligen, nassen und saukalten Abfahrt öffnet sich über dem Süden der Insel tatsächlich der Himmel. Die Sonne bricht durch und erleuchtet die Dünen am Horizont in Gelbgold. Nichts wie hin.
Im Etappenziel wartet ein bunter Unterhaltungs-Mix aus Sambatänzerinnen, Dragqueens und einem Saxofonisten, dazu die spanische Interpretation von Tour-Teufel Didi Senft und lässige Beats vom DJ-Pult. Daneben gibt’s kostenlose Massagen. Mitten im Trubel steht Renn-Organisator Yojan Reyes und schnauft durch. Der Tag scheint für ihn genauso anstrengend gewesen zu sein wie für die Fahrerinnen und Fahrer. “Wirklich, wirklich schlecht” sei das Wetter gewesen, das sei nicht das Bild, was seine Gäste, wie er die Starter nennt, von der Insel mitnehmen sollen.
Für eine Hotelkette und für das Tourismusbüro Gran Canarias veranstaltet er das Etappenrennen, und sein Medienteam liefert täglich kinotaugliche Imagefilme mit Drohnenaufnahmen und Slow Motions von gut gelaunten Sportlern. Natürlich ist das Epic auch eine Form von Tourismus-Marketing, aber den meisten Startern gefällt das Konzept erkennbar ziemlich gut.
“Auch ein Profi wie Mario Cipollini kommt jedes Jahr wieder, weil ihm das Event so gut gefällt”, erzählt Reyes ein bisschen stolz. Früher fuhr er selbst fast auf professionellem Niveau Rad, heute ist das Epic sein Baby. Jedes Jahr erhalte er mehr Anfragen und Meldungen für seine, wie er sagt, “Mini-Tour de France”. Bald will er das Rennen um eine dritte Etappe erweitern und damit der UCI-Gran-Fondo-World-Tour beitreten. Und wenn alles gut läuft, will er 2026 sogar die Vuelta auf die Kanaren holen.
Am nächsten Morgen strahlt Reyes wieder und zeigt nach oben. Dort sind nur Himmelblau und das gleißende Licht der Morgensonne zu sehen. Der Himmel bleibt wolkenlos, als alle erneut in Maspalomas losrollen. Nach einer kurzen Neutralisation hinter dem Führungsfahrzeug geht es zur Sache: Der Wagen an der Spitze zieht vor, die Straße steigt ruppig an, und krachend wird unter Volllast geschaltet. Mit mehr als 400 Watt jagen die Ersten in den Anstieg, als ob es nur ein kleiner Hügel wäre, den man mal eben schnell wegdrückt. Von wegen. Bis zum Mirador de Fataga sind es 6,5 Kilometer mit sechs Prozent Steigung im Schnitt. Und das ist erst der Anfang der heutigen Prüfung.
Schnell zerfällt das Peloton in viele kleine Gruppen, besonders die steilen Serpentinen trennen die Spreu vom Weizen. Ganz vorne setzen sich zehn Fahrer ab, dahinter sucht jeder seinen Rhythmus. Und die, die sich am Fuß des Anstiegs überschätzt haben, kriegen jetzt die Quittung. Manch einer sackt wie ein Stein durchs Feld.
Oben auf der Kuppe mit der fantastischen Aussicht auf Küste und Canyons jubeln Zuschauer. Doch es bleibt keine Zeit für einen Blick zur Seite, eine kurze, technische Zwischenabfahrt beginnt. Alle stürzen sich die engen Serpentinen hinab, ein paar Fahrer machen hier mit waghalsiger Kurventechnik ordentlich Positionen gut. Wer weniger nachdenkt, ist klar im Vorteil. Denn links von der Straße ist die Leitplanke und dahinter: nichts. Der Felsen bricht schroff ab in den Barranco de Fataga, das tiefe Trockental, in dem Palmen, Sträucher wachsen – und noch beeindruckender: die vielarmige Kanaren-Wolfsmilch, das grüne Natursymbol Gran Canarias.
Im Tal angekommen, steigt die Straße sofort wieder steil an, keine Zeit zum Verschnaufen. Knapp neun Kilometer geht es nun mal mehr, mal weniger steil bergauf. Im Örtchen Fataga hat sich eine ganz in Gelb gekleidete Sambaband mit Trommlern aufgebaut, der Boden scheint zu beben, so laut sind sie. Aber der Beat erfüllt seinen Zweck: Alle fahren plötzlich einen Tick zügiger, angetrieben von den pulsierenden Samba-Klängen. Je höher man kommt, desto mehr Sonnenstrahlen gelangen ins Tal – und desto wärmer wird es. Der Schweiß tropft von Stirn und Kinn auf den Asphalt. So muss das sein. Das ist Gran Canaria.
Bergrennen mit zwei Etappen und drei Zeitnahmen
Tageswertungen und Gesamtwertung
Insgesamt 190 Kilometer, verteilt auf zwei Tage, gewertet wird aber nur ein Teil davon (siehe Zeitnahmen). Start ist jeweils in Maspalomas im Süden von Gran Canaria. Auf Etappe 1 geht es über Ayagaures (erste Zeitnahme) und nach einer Neutralisation von Pasito Blanco hinauf bis Ayacata (zweite Zeitnahme).
Etappe 2 führt hinauf nach San Bartolomé de Tirajana/Tunte (dritte Zeitnahme). Die längeren Abfahrten sind jeweils neutralisiert.
Maspalomas – Ayagaures (12,3 km, 470 Hm), Pasito Blanco – Ayacata (24,5 km, 1304 Hm), Maspalomas – San Bartolomé de Tirajana/Tunte (22 km, 925 Hm).
75–155 Euro für beide Etappen, 45–55 Euro für einzelne Etappen (Gebühr variiert je nach Anmeldezeitpunkt).
>> Fahrer ohne Rennlizenz benötigen eine Tageslizenz (10 Euro).
Grundsätzlich ist die Teilnahme ab 18 Jahren möglich; 15- bis 17-Jährige dürfen mit Erlaubnis ihrer Erziehungsberechtigten starten.
Umfangreiche Verpflegung an Start und Ziel sowie an Tag 1 auch zwischen den Zeitnahmen.
Die Strecken, auf denen die Zeit genommen wird, sind für den Verkehr gesperrt, die neutralisierten Streckenabschnitte hingegen nicht. Begleitmotorräder sichern das Rennen ab, dennoch wird zu jeder Zeit empfohlen, rechts zu fahren.
10.–11. Februar 2024