Joscha Weber
· 14.03.2022
Wenn Altes auf Neues trifft, kann das sehr spannend werden. Das gilt auch für den Vereinssport und die Gravel-Szene: Tradition und Regeln hier, Freestyle und Individualismus dort. Bei der 1. Waltroper Gravel CTF soll beides zusammenfinden. TOUR war dabei.
Joscha Weber war bei der Premiere der Waltroper Gravel CTF dabei. Für diejenigen, denen der Begriff CTF neu ist, sei er kurz erklärt: CTF steht für Country Tourenfahrt. CTF-Strecken verlaufen überwiegend abseits von asphaltierten Straßen über fahrbare Feld- und Waldwege. Dabei ist ein Mountainbike, Cross-, Trekking oder eben ein Gravelbike empfehlenswert. Dabei gibt es, wie auch bei einer RTF (Radtourenfahrt), keine Zeitnahme und keine Platzierungen.
Jetzt kommt doch noch so etwas wie Hektik auf bei Jana Görges und Tilo Butermann. Eilig werden Überschuhe angezogen, die Handschuhe rausgekramt und der Helm im Auto gesucht. Sie wollen schließlich nicht die Letzten sein, die auf die Strecke gehen. Eigentlich wollte das Paar aus Essen schon früher da sein, aber im Navi war zunächst die falsche Straße eingegeben. „Da waren wir noch nicht so ganz wach, glaube ich“, sagt Jana Görges und lacht. Ein bisschen aufgeregt sei sie schon, erzählt sie, denn all das hier ist noch neu für sie. Die 35-Jährige fährt erst seit Kurzem Rad und hat ihr Herz schon ans Graveln verloren. „Mein Verlobter hat mich angesteckt. Erst hatte ich ein gebrauchtes Rennrad, an dem aber immer irgendwas hakte. Dann hat er mich mit einem wunderschönen Gravelrad überrascht, und seitdem fahren wir oft zusammen“, erzählt sie, zieht den Reißverschluss ihres ziemlich stylischen Trikots im Flanellhemd-Look zu und schiebt ihr grell-türkises Bike zum Start auf den Schulhof der Städtischen Realschule Waltrop.
Dort werden gerade an Stehtischen 3G-Nachweise kontrolliert und Anmeldebögen verteilt. Das macht beim RC Sprinter Waltrop der Präsident selbst. Wolfgang Kolacya beschlägt die Brille über der FFP2-Maske so stark, dass er sie absetzen muss. Auch bei frischen sieben Grad an diesem Novembermorgen kommt er ins Schwitzen, denn der Andrang vor seinem Tisch nimmt kein Ende.
Immer mehr Radlerinnen und Radler biegen auf den Schulhof ein, und Kolacya erklärt jedes Mal aufs Neue geduldig das Prozedere. „Hab’ ich gar nicht mit gerechnet, dat dat so ’nen großen Anklang findet. Dat is ja schomma in Ordnung“, erzählt er in schönstem Ruhrdeutsch. Zum Jubiläum anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens wollten die Sprinter Waltrop etwas Besonderes machen und kamen auf Gravel, nicht ohne Hintergedanken: „Wir wollen auf den Zug aufspringen. Wat man so hört in der Szene ist: Immer mehr Leute gehen vom Rennrad aufs Gravelrad. Is’ ja klar: Man kann auch mal ’nen Schotterweg fahren, die Reifen sind breiter und auch ein bisken bequemer. Da brauchste keine 10 Bar mehr inne Reifen“, sagt der Präsident, während weitere Starter der Country-Touren-Fahrt, also einer RTF im Gelände, auf den Schulhof strömen. Kolacya hält kurz inne und schaut ihnen nach. Dann ist er sich sicher: „Gravel wird die Zukunft sein, da sind wir uns auch im Vorstand einig.“
Mit dieser Meinung steht der Waltroper Vereinsvorstand nicht allein. Die Radszene ist im Umbruch, Gravel wächst und wächst. Der breitbereifte Alleskönner wird immer beliebter; Einsteiger schätzen den Komfort, Vielfahrer die Vielseitigkeit, Pendler seine sportliche Robustheit, und manche Profis entdecken ihren Sport auf dem Gravelbike völlig neu. Das merkt längst auch die Industrie. Vor fünf Jahren führte der Versandhändler Rose Gravelbikes ein, inzwischen machen sie 15 Prozent aller verkauften Räder aus. „Gravel geht immer weiter durch die Decke, die Räder werden uns aus den Händen gerissen“, berichtet Rose-Sprecherin Sarah Terweh. Während deutschlandweite Verkaufszahlen laut Zweirad-Industrie-Verband bislang nicht ermittelt werden, belegen die Zahlen anderer Hersteller den Trend. Jedes dritte verkaufte Canyon-Rennrad ist inzwischen ein Gravelrad, Tendenz steigend: Die Gravelrad-Verkäufe verdreifachten sich bei den Koblenzern in den vergangenen drei Jahren. Ähnliches Bild bei Focus: Jedes zweite verkaufte Rad im Rennradbereich ist ein Gravelbike – und das, obwohl Focus erst seit Anfang 2021 Gravelbikes im Angebot hat. Die Zahlen deuten in eine Richtung: Dem Gravelbike könnte wirklich die Zukunft gehören.
In Waltrop beginnt diese Zukunft zunächst einmal mit viel Arbeit. Mehr als 500 gelbe Wegweiser hat das Orga-Team in den Tagen vor dem Event an der Strecke befestigt, deutlich mehr als bei der üblichen Straßen-RTF. Im Wald und Gelände gibt es eben mehr Abzweige. Aber das Team bewältigt die Aufgabe routiniert, schon seit 2006 veranstalten die Waltroper in loser Folge eine Country-Tourenfahrt. Für gerade einmal fünf Euro Startgeld gibt’s dazu drei Verpflegungsstationen und viel Ruhrpott-Herzlichkeit. Zum Beispiel von Petra Wendt. Sie verteilt an der ersten Station bereits nach 20 Kilometern Waffeln, Bananen, Riegel und Getränke, vor allem dampfende. „Bei uns gibt’s ’ne heiße Brühe, warmen Tee. Da wird doch jedem wieder warm ums Herz“, sagt sie gut gelaunt und versorgt die nächsten Radler. „Aber ich glaube, alle hier mögen den Matsch und den Winter.“ Mit 60 ehrenamtlichen Helfern und viel Engagement stemmen die Waltroper ihre Gravel-CTF, bieten sogar eine begleitete Kindertour auf der kurzen 36-km-Strecke an. Und verhungern wird an diesem Tag definitiv niemand: Mit 20 selbstgebackenen Kuchen, zahllosen selbst geschmierten Brötchen und Würstchen vom Grill werden die insgesamt 358 Starter im Ziel erwartet.
Einigen gilt all das – das Heimelig-Volkstümliche der RTF und CTF, das Vereinsleben, das Eintragen von Punkten in Wertungskarten – als schwer vereinbar mit der Idee des Gravelbikens, die ja eigentlich etwas ganz anderes will. Thorben Haushahn ist sich nicht sicher, ob Gravel und die CTF wirklich zusammenpassen. Für ihn ist Gravel anders, etwas Neues. „Graveln ist eine Bewegung. Der Spirit von Gravel ist besonders. Wir leben Inklusion, alle können dabei sein, wir sind offen für alle und jeden“, erzählt der 34-jährige Amateurradsportler. Er ist der frisch ernannte „BDR-Experte“ für Gravel und so etwas wie der personifizierte Versuch des Bund Deutscher Radfahrer, Teil des Trends zu werden. Thorben Haushahn ist ein Gesicht aus der Szene, der von den wilden und langen Events in den USA schwärmt, der vor Ideen nur so sprüht, wie Gravelevents den Radsport verändern könnten. Nicht alle Gedanken sind dabei wirklich schon strukturiert. Aber darum geht’s dem Online-Marketingspezialisten aus Berlin auch gar nicht, er will etwas anschieben, bewegen.
„Gravel ist jung, lässig, cool. Deswegen kann nicht jeder, der 60 plus ist, einfach ein Gravelevent aufstellen. Eine Sitzung oder Orga-Truppe nur mit weißen, alten Männern macht keinen Sinn. Wir wollen divers sein“, fordert er. Das Wort „Jedermann“ will er gern austauschen als „nicht mehr zeitgemäß“. Auch der Begriff von Radveranstaltungen sei viel zu starr in Deutschland, gerade beim Graveln sei es wichtig, dass es möglichst wenig Regeln gebe. Eine Diskussion über Mindest- oder Maximalreifenbreiten will er nicht führen. Er wird mit manchen Ideen, die er den Gremien des Bund Deutscher Radfahrer vorstellen will, anecken, so viel scheint klar.
Denkt man den Inklusionsgedanken vom offenen Gravelsport weiter, könnte es aber doch wieder passen mit der guten alten CTF und dem Graveln. Denn hier ist jeder willkommen und auch jedes Rad. In einem Waldstück nahe dem Dortmund-Ems-Kanal passieren uns ziemlich bunt gemischte Grüppchen. Ältere, Jüngere, Frauen, Männer. Hip und schick gekleidet oder im Vereinstrikot, das noch aus dem vorletzten Jahrzehnt stammt. Manche auf Mountainbikes, ein paar auf Crossern, wenige auf Trekkingrädern, viele auf Gravelbikes. Die Reifen gehen von schmal und kaum profiliert bis breit und grobstollig. Alles dabei – und niemand erweckt den Eindruck, als fühle er sich auf der technisch einfachen, eng an die bisherige CTF angelehnten Strecke unterfordert oder deplatziert.
Im Anstieg hinauf zu einer begrünten Halde treffen wir Jana Görges und Tilo Butermann wieder. Ihre Bikes könnten auch aus dem jüngsten Gravelrad-Test stammen, top-aktuelles Material, teilweise Leichtbau. Dazu Klamotten, die ohne weiteres ein Fotoshooting angesagter Top-Marken zieren könnten. „Radfahren bestimmt eigentlich neben der Arbeit unseren ganzen Tag“, erzählt Jana lachend. „Auf unserem Frühstückstisch liegen die Radmagazine, ständig wird etwas fürs Hobby bestellt.“ Das Paar verkörpert den Gravelboom ziemlich gut. Auch weil sie den Individualismus, den „Lifestyle Gravel“ mögen. „Wir haben kürzlich unseren eigenen kleinen Verein gegründet, weil wir dachten, wir ecken in der sehr traditionellen Rennradwelt vielleicht an. Das war aus einer Bierlaune heraus“, erzählt ihr Verlobter Tilo, 43, Immobilien-Portfolio-Manager. Aber auch die etwas angestaubte CTF habe ihren Charme. „Wir finden das super, dass sich auch die traditionellen Vereine für Gravel öffnen. Das funktioniert absolut, zumindest für uns.“ Dann wollen beide weiter, wieder hinab Richtung Kanal.
An den Wasserstraßen nördlich von Dortmund schmückt das eine oder andere Kraftwerk den Horizont, quasi als authentische Kulisse des Ruhrgebiets. Tatsächlich aber führt die Strecke der Waltroper CTF vor allem durch die Natur: Auen, Wälder, Felder und ein paar beschauliche Vororte des Ruhrpotts machen den Ausflug nach Waltrop zu einem unerwartet grünen Abenteuer. Und die renaturierten Halden, wie die an der Zeche Waltrop, eröffnen schöne Perspektiven auf eine Region im Wandel.
Günther Kämper kennt hier viele Strecken, wohnt nur ein paar Kilometer entfernt. Er fährt viel auf den Straßen zwischen Ruhrgebiet und Münsterland, inzwischen vermehrt auch im Gelände. Warum eigentlich? „Die dickeren Reifen bringen mehr Traktion und machen einfach mehr Spaß. Und man fährt mit mehr Komfort. Im Sommer habe ich meine festen Rennradrunden. Mit dem Gravelbike kann ich einfach neue Strecken erkunden und muss mir keine Gedanken machen, dass ich nicht mehr weiterkomme.“ Das Gravelbike, das in seinem Fall ein umgebautes Crossrad ist, ist für ihn „die eierlegende Wollmilchsau“. Aber – und darauf legt er mit unaufgeregter westfälischer Stimme Wert – so neu ist das alles auch wieder nicht. Gerade die CTF waren hier in der Region schon immer groß, auch vor dem Gravelboom. „Früher sind wir eben Mountainbike und Crosser gefahren, das ging auch“, erinnert er sich. „Jetzt sieht man vermehrt die Gravelräder. Da ist viel Trend dabei. Die Leute kaufen es, weil der Markt es so will, naja“, sagt er, zuckt mit den Achseln und rollt davon.