Einen besseren Ort als die Sternbrücke hätte man kaum wählen können für den Start der ADAC-Cycling Tour in Magdeburg: Das riesige Teilnehmerfeld, umrahmt von den imposanten Bögen der Stahlbrücke, geben ein schönes Bild ab. Für Magdeburger Rennradfahrer ist die Sternbrücke aber auch aus einem anderen Grund der perfekte Ort: Viele Rennradgruppen treffen sich hier für Ausfahrten, die Brücke kennt jeder. Spötter würden noch ergänzen: Schön, dass es noch eine Brücke in Magdeburg gibt, die man betreten kann, aber dazu später mehr. Als um kurz vor neun Uhr der erste Startblock auf die Strecke des Jedermannrennens geschickt wird, reicht die Brücke nicht, um alle Teilnehmer aufzunehmen. Fünf Startblöcke werden einzeln nach vorne geschickt und mit zwei Minuten Zeitabstand auf die Strecke gelassen. Im Rahmen der Lidl-Deutschland Tour bietet das Hobbyrennen der ADAC-Cycling Tour Fahrten über 118 oder 48 Kilometer.
Die Streckenteilung erfolgt erst nach 22 Kilometern. Im ersten Startblock sieht man vereinzelt Trikots von großen Jedermann-Teams, aber auch die lokaler Gruppen. Die Magdeburger Dennis Rössl (58) und Ricardo Schlemonat (44) starten beide für das örtliche Team Wobau. Dennis ist ein bekanntes Gesicht der Magdeburger Radszene und hat geholfen, das Rennen Rund um den Dom nach jahrelanger Pause wieder zu organisieren. Ricardo fuhr früher mal für das U23-Team Deutsche Telekom. Weiter hinten im Starterfeld steht Lutz Dittmer (47) im Fußballtrikot des 1. FC Magdeburg. Für ihn ist es die Jedermann-Rennpremiere. Als Radsport-Fan freut er sich, dass die Deutschland Tour in seine Heimatstadt gekommen ist und er auf Teilen der Profi-Strecke fahren kann. Ernste Ambitionen werden sichtbar, als der Startblock A auf die Strecke geschickt wird: Explosionsartig treten die Fahrer an und schießen um die Linkskurve. Über die kurze Distanz von 48 Kilometern ist auf der flachen Strecke ein High-Speed-Rennen vorprogrammiert. „Man nimmt sich viel vor, aber wenn es dann gleich nach dem Start mit 60 km/h auf die Tangente geht, muss man den Lenker auf und zu biegen“, sagt Dennis später rückblickend.
Die Strecke zweigt schon nach wenigen Hundert Metern auf die B71 ab. Zwei Fahrspuren lassen genug Platz und sind perfekt geeignet, um mit hoher Geschwindigkeit aus der Stadt rauszuballern. „Es ist cool, da zu fahren, wo normalerweise nur die Autos fahren“, meint Lutz. Der Magdeburger Ring ist ideal, um die rund 1800 Starter aus der Stadt zu bringen, wo es auf kleinen Landstraßen weitergeht. Radfahren auf gesperrten Straßen ist ein Segen für die Teilnehmer und harte Arbeit für die Verkehrsplaner. Die Stadt hat gerade ein großes Verkehrsproblem: Zwei Brücken des Magdeburger Rings wurden erst wenige Wochen vor dem Rennen begutachtet und mussten wegen Einsturzgefahr gesperrt werden. Eine wurde bereits zuvor abgerissen. Daran verschwendet die Führungsgruppe keine Gedanken, sondern genießt die Fahrt über die abgesperrte Straße. Während Dennis sich im Wind versteckt, schiebt sich Ricardo an die Spitze. Dennis schaut sich um und kennt viele Fahrer – seit mehr als 20 Jahren steht er im Mittelpunkt der örtlichen Rennradszene.
Magdeburg blickt auf eine lange Radsport-Tradition. Der mehrmalige Friedensfahrt-Sieger Täve Schur stammt aus einem Vorort und begann 1951 bei BSG Grün-Rot Magdeburg mit dem Radsport. „Täves Radladen“ gibt es noch heute – inzwischen in der Hand von Sohn Gus-Erik, Bruder von Ex-Profi Jan Schur. Elfmal war Magdeburg Etappenort der Friedensfahrt, seit 1935 gab es das Radrennen Rund um den Dom. Mit Unterbrechungen fand es nach der Wende noch vereinzelt statt, bevor es 2012 eingestellt wurde. Der Radsport in Magdeburg erlebte eine Durststrecke, doch seit wenigen Jahren wächst er stärker als je zuvor. Der einzige Unterschied: Jetzt ist es der Hobbyradsport, der dominiert. Die Cycle Tour von Magdeburg nach Braunschweig machte 2016 den Anfang. Und seit 2024 gibt es das Radrennen Rund um den Dom wieder, für Radsportler mit und ohne Lizenz.
Neuen Schwung brachte auch die Gründung zahlreicher Radvereine und -gruppen. Als der Magdeburger SV 90 nur noch drei Mitglieder verzeichnete, gründete Ricardo mit anderen den Verein Mawa 2020; zusammen mit dem RSV Mitte stemmen sie das Rennen Rund um den Dom. Dass der Radsport auf fruchtbaren Boden fällt, zeigt sich bei der Fahrt durch die Dörfer. Schon Stunden vor dem Profi-Rennen stehen die Menschen am Straßenrand und jubeln den Radsportlern zu. „Manche Dörfer waren ordentliche Stimmungsnester“, freut sich Lutz. Er kommt sogar durch seinen Heimatort, wo sein Vater und seine Frau an der Strecke stehen. Das erzeugt einen Motivationsschub, der jede Erschöpfung vertreibt. Besonders gut ist die Stimmung in Wanzleben, wo die Zuschauer alle Teilnehmer lauthals anfeuern. „Das macht schon Spaß, als Hobbyfahrer da durchzufahren“, freut sich Ricardo.
Spaß macht auch die Fahrt rund um Magdeburg. Die Landschaft der Magdeburger Börde ist geprägt durch goldene Felder und grüne Alleen. Die vielen Windräder stehen hier nicht ohne Grund: Durch die flache Landschaft bläst der Wind ungebremst und prägt auch das Rennen. Schnell wird man an der Windkante abgehängt – das Feld der Hobbyfahrer spaltet sich in einzelne Gruppen auf. Ein Charakteristikum, das man Stunden später auch im Profi-Rennen beobachten wird: An der Spitze des Hauptfeldes drücken die großen Profi-Teams ordentlich aufs Tempo und erreichen damit, dass viele kleine Grüppchen hinten rausfliegen. Der Seitenwind ist tückisch: Wer abreißen lassen muss, wird bis ins Ziel viel Kraft und Zeit verlieren. Im Profi-Rennen wird der Ausreißer wieder eingeholt – bei den Hobbyfahrern zerteilt der Wind auch die Führungsgruppe.
Über die kurze Distanz geht es an der Spitze in die entscheidende Phase. Ricardo findet sich in einer Vierergruppe wieder, die sich abgesetzt hat. In hohem Tempo geht es Richtung Ziel, die Gruppe jagt über den Magdeburger Ring und baut ihren Vorsprung aus. Die Zuschauer entlang der Zielgeraden schlagen mit den Händen auf die Plastikabdeckung der Absperrgitter und unter Applaus sprintet die Vierer-Gruppe um den Sieg. Ricardo kommt als Vierter ins Ziel und ist etwas geknickt: „Als Vierter von vier ist echt doof.“ Mit einem Schnitt von 43,4 km/h sind sie über die Strecke geflogen – nach 1:07:13 stoppt die Uhr. Wenige Minuten später rollt Dennis durch den Zielbogen und weiter in den Expo-Bereich. Zuschauer bummeln durch das Ausstellungsgelände, wo Sponsoren Leckereien und Werbeprodukte verschenken. Mittendrin steht Martin Hummelt und blickt sich zufrieden um. Er ist erklärter Lokalpatriot und ein Motor des Radsports in Magdeburg.
Mit seiner Event-Agentur freshpepper GmbH hat er 2016 das dreitägige Rad-Event Cycle Tour erfunden, das seitdem jährlich stattfindet. Er war es auch, der die Deutschland Tour nach Magdeburg holte: „Ich habe 2023 eine Mail an die ASO (der französische Veranstalter von Tour de France und Deutschland Tour, Anm. d. Red.) geschrieben und gefragt, was man tun muss, um Etappenort zu werden.“ Durch seine Erfahrung mit der dreitägigen Cycle Tour ist er gut vernetzt mit Politik, Vereinen und Sponsoren und war damit der ideale Partner für die ASO. Dass es geklappt hat, macht ihn stolz. „Die Verbindung aus Profi-Rennen und Hobby-Rennen war ideal. Beide unterstützen sich gegenseitig: Die TV-Bilder sind sehr wichtig und die Hobbyradsportler auch.“
Tatsächlich liegt ein Hauch von Tour de France über der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt. Die gelben Richtungspfeile, die überall hängen, unterscheiden sich kaum von denen der Frankreich-Rundfahrt. Der Bogen mit dem Teufelslappen vor dem letzten Kilometer, mit Sponsorenlogos ausgestattete Absperrgitter, die große Bühne für die Siegerehrung und eine große Ausstellungsfläche schaffen einen beeindruckenden Rahmen. Vom Schleinufer an der Elbe hallt die Stimme des Streckensprechers durch die Stadt und lockt Neugierige an, die sonst wenig Berührung mit dem Radsport haben. Die Verbindung zum Profi-Rennen schafft den besonderen Reiz bei der ADAC-Cycle Tour. „Ich habe schon bei der Deutschland Tour zugeschaut, als noch Jan Ulrich mitgefahren ist“, meint Lutz. Auch Dennis hat am Streckenrand bei den Profis zugesehen und fand das „schon geil!“.
Im Ziel ist Lutz zuerst etwas nachdenklich, nachdem er an mehreren Sturzopfern vorbeifuhr, die gerade medizinische Hilfe erhielten. Bald überwiegt jedoch ein Glücksgefühl über die gelungene Fahrt. Er war viel schneller unterwegs als erwartet – das Fahren in der Gruppe hat gut funktioniert. Über die breiten Straßen auf dem Magdeburger Ring zu rasen, wo Radfahren sonst streng verboten ist, hat besonderen Spaß gemacht: „Das lief wie gelutscht!“ Während er sich bereits verpflegt hat und die Atmosphäre genießt, beginnt hundert Meter entfernt die Siegerehrung der kurzen Strecke an der kleinen, versteckt gelegenen „ADAC-Bühne“. Viele Sieger erscheinen aber nicht und stehen vermutlich irritiert vor der großen, aber leeren Bühne, die für das Profi-Rennen aufgebaut wurde. Dass die Jedermänner im Schatten der Profis stehen, wird nur bei diesem Punkt zum Problem. Auch wenn Ricardo Vierter geworden ist, steht er mit dem Team Wobau ganz oben auf dem Treppchen als Sieger der Teamwertung.
Der Ärger über den verpassten Podiumsplatz ist etwas verflogen und er strahlt. 1172 Frauen und Männer fahren auf der langen Strecke und 587 auf der kurzen ins Ziel. Im Rahmenprogramm fand noch ein Rennen der Klassen U17 weiblich statt, ein Laufradrennen und eine Bike-Parade für Kinder. Und auch an Zuschauern mangelte es nicht: Das Expo-Gelände im Ziel war den ganzen Tag über gut besucht. Trotzdem ist es völlig offen, ob in Magdeburg auch 2026 ein großes Radrennen stattfinden wird – denn weil die Deutschland Tour jährlich über eine andere Strecke führt, wechselt auch das Jedermann-Rennen im Rahmen der Rundfahrt den Austragungsort. Lutz würde sich freuen, wenn es zu einer zweiten Ausgabe kommt: „Ich würde gerne nochmal mitfahren – dann vielleicht die lange Strecke.“ Die hat gerade auch der 24 Jahre alte Leon Hoerstel aus Wernigerorde hinter sich gebracht und ist noch voller Glücksgefühle: „Es lief super! Es ist sehr angenehm, ein Rennen in der Nähe zu fahren, und dieselbe Strecke wie die Profis fahren zu können, geht nicht oft.“ Er ist es gewohnt, dass bei kleinen Rennen kaum jemand an der Strecke steht, und er war begeistert über die Stimmung in den Dörfern. „Ich hätte große Lust mitzufahren, wenn es nächstes Jahr wieder stattfindet.“