Kristian Bauer
· 26.09.2022
Wir haben fünf Zweier-Teams bei ihrer Premiere bei der TOUR-Transalp begleitet: Über verschwundene Radschuhe, einen Einbruch am nicht vorhandenen Berg und unerwartete Podiumserfolge.
Bis vor wenigen Minuten hätte es für Johannes Miggenrieder und seinen Vater Hans nicht besser laufen können: In der Teamwertung liegen sie auf Rang drei, und der frisch gebackene Abiturient trägt das Trikot des besten U23-Fahrers. Umso größer ist der Schock: Im Ziel der 3. Etappe in Livigno ist plötzlich ihr Beutel mit den Radschuhen weg, und Ersatzschuhe haben sie nicht dabei. Ist der Traum vom gemeinsamen Etappenrennen jetzt geplatzt? Seit zwei Jahren hat sich das Gespann aus Poing in der Nähe von München auf dieses Vater-Sohn-Erlebnis gefreut und vorbereitet: „Wir haben uns damals schon ein eigenes Trikot gestaltet“, erinnert Hans an ihren Plan, 2021 an der Transalp teilzunehmen, der von der coronabedingten Absage durchkreuzt wurde.
Drei Tage zuvor standen 312 Teamfahrer und 213 Einzelstarter in Graun am Reschensee in den Startblocks, nur einen Steinwurf entfernt von der versunkenen Kirche des Ortes Altgraun, deren Turm aus dem blaugrünen Wasser des Stausees ragt. Neben den Miggenrieders auch dabei: das Ehepaar Laura und Philipp Tibitanzl als Team greybee sowie Clemens und Felix Knapp als Team Father and Son: „Gemeinsam bei der TOUR-Transalp Zeit zu verbringen, ist das Größte“, meint Vater Clemens. Kerstin Kaiser, 34 Jahre, und Luisa Zimmermann, 31 Jahre, sind nicht familiär verbunden, starten aber auch ins Ungewisse: Sie kennen sich zwar schon länger über ihren Verein, den RSV Heidelberg, wissen aber nicht, wie sie als Team Kartoffelclub beim Rennen über die Berge funktionieren. Die Freunde Reimo Richarz und Christian Junghans schließlich sind tiefenentspannt: „Wir sind seit Schulzeiten in Prien am Chiemsee zusammen mit dem Rad unterwegs.“ Als Bayerische Bier Bomber wollen der 33-Jährige und der 34-Jährige in den sieben Tagen aber auf jeden Fall Spaß haben.
Was alle fünf Teams trotz ihrer Unterschiedlichkeit verbindet: Es ist ihre Premiere bei der TOUR-Transalp, die 2003 erstmals stattfand und in diesem Jahr, nach der Corona-Pause, ihre 18. Austragung erlebt.
Am Morgen der vierten Etappe sind Vater und Sohn Miggenrieder wieder guter Dinge: In Livigno konnten sie am Abend zuvor Ersatz für ihre verschwundenen Radschuhe kaufen, die Weiterfahrt ist gesichert. Die Herausforderung des Tages lässt die Lachfalten allerdings verschwinden: Der Passo Mortirolo baut sich vor den Lenkern auf, 1.300 Höhenmeter am Stück, eine Durchschnittssteigung über 10,5 Prozent und Spitzen von 20 Prozent. Zudem beginnt es zu regnen und wird empfindlich kühl. Doch das Vater-Sohn-Gespann kurbelt im Gleichklang bergauf. Vater Miggenrieder ist 35 Jahre älter, kann das jugendliche Tempo seines 17-jährigen Sohnes aber dank jahrzehntelangem Training mitgehen.
Dass man Leistungsunterschiede ausgleichen kann, sieht man beim zweiten Vater-Sohn-Team: Der 28-jährige Felix strotzt vor Kraft, und bei 10 Prozent Steigung gibt er davon etwas an seinen 58-jährigen Vater weiter, indem er ihn mit einem Arm schiebt. „Ich habe immer noch über 200 Watt getreten, aber das bringt schon was“, zeigt sich Clemens dankbar. Die Eheleute Tibitanzl – sie 37, er 43 Jahre alt – sind gleich fit. Sie genießen die „geilste Etappe bisher“. Da geht es ihnen wie den bayerischen Jungs, die Spaß am „Drücken und Ballern“ haben und zusammen den Berg hochjagen: „Uns liegen lange und harte Strecken.“ Nur der Kartoffelclub ist auf der Strecke getrennt unterwegs: Kerstin fährt nach Gefühl und Laune, während Luisa auf ihre Wattwerte achtet und deshalb außer Sichtweite folgt.
Kontrollierte Einteilung der Kräfte – das ist bei einem Etappenrennen wichtiger als bei einem eintägigen Radmarathon. Schon am nächsten Tag gilt es schließlich, den nächsten Brocken zu verdauen: 2720 Höhenmeter werden serviert. Nach Regen und Kälte tags zuvor strahlt wieder die Sonne über dem Transalp-Peloton. Im Ziel zeigen Salzränder auf den Klamotten, dass viel Schweiß geflossen ist. Übermütig ist jetzt keiner mehr: Die gesammelte Anstrengung macht alle demütig.
Am Morgen des sechsten Tages sind die Gesichter etwas angespannter als sonst. Die Königsetappe steht an, mit 3200 Höhenmetern auf 120 Kilometer. Die Zahlen verraten: Es wird steil. Hans und Sohn Johannes haben sich vorgenommen, sehr defensiv zu starten – ein Plan, den auch die greybees, Father and Son und die Bierbomber verfolgen. Luisas Gedanken sind nur aufs Ankommen gerichtet. Seit einem Tag ist sie erkältet, und ihr Respekt vor der Etappe riesig, nachdem sie im Online-Tourenportal Komoot Steigungen von 20 Prozent auf der Route entdeckt zu haben glaubt.
Nach dem Start kommen zwei erste Anstiege, gefolgt von einer längeren Abfahrt – und nach 36 Kilometern wird es ernst: 1600 Höhenmeter am Stück müssen auf einer immer enger werdenden Straße über den Passo di Croce Domini zum Goletto di Cadino bewältigt werden. Die Straße windet sich in steilen Rampen den Berg hoch und reißt das Fahrerfeld auseinander. Im hinteren Drittel leiden die Teilnehmer sichtbar: Immer wieder ziehen Radler von links nach rechts – andere stehen am Straßenrand, um Luft zu holen. Während Kerstin vom Kartoffelclub bereits an der Verpflegungsstation unterhalb der Passhöhe ist, leidet Luisa noch Hunderte Höhenmeter tiefer. Die Erkältung hat sie deutlich geschwächt. Gedanken ans Aufgeben kreisen in ihrem Kopf. „Wenn ich jetzt anhalte, ist es vorbei“, sagt sie, tritt mühsam weiter, kramt ihr Smartphone hervor und schickt Kerstin eine Sprachnachricht: „Du brauchst nicht auf mich zu warten – fahr einfach weiter, und wir treffen uns im Ziel.“
Das Ehepaar Tibitanzl ist zu diesem Zeitpunkt schon in der Abfahrt. Die drei Meter breite Straße fahren sie sehr vorsichtig bergab: „Uns sind mehrere Oldtimer entgegengekommen, die haben keine Rücksicht genommen.“ Auch die Bierbomber haben Respekt vor der schmalen Straße, ballern lieber bergauf als bergab. Weil es bei der TOUR-Transalp keine gesperrten Straßen gibt, ist defensives Fahren bergab der beste Selbstschutz. Beim Team Father and Son ist die Rollenverteilung klar: Clemens gibt dank jahrelanger Rennerfahrung die Linie vor, sein Sohn folgt. Für Felix sind es die ersten Rennkilometer in den Alpen – ein Praxiskurs im Kurvenfahren unter Wettkampfbedingungen.
Laura und Philipp Tibitanzl nehmen den Speed aus der Abfahrt mit ins Flache. Verführt von einer schnellen Gruppe, treten sie auf den Schlusskilometern mehr Watt als am Anstieg und fliegen so schnell ins Ziel, dass sie den dritten Platz der Mixed-Wertung erobern. Kerstin hingegen steht im Ziel und wird zunehmend nervös: „Ich mache mir große Sorgen um Luisa, die immer noch unterwegs ist.“ Es dauert weitere 30 Minuten, bis ihre Teampartnerin völlig entkräftet ins Ziel kommt. „Ich war wirklich kurz davor, in den Besenwagen zu steigen“, sagt Luisa mit erschöpftem Blick. Eine mentale Hürde hat sie sich selbst aufgebaut: Die vermuteten 20 Prozent am Anstieg gab es gar nicht – das Höhenprofil von Komoot hatte sie getäuscht. Nach ein wenig Erholung im Schatten kommen Kräfte und Vorfreude auf die Schlussetappe langsam zurück: „Morgen entspannt ausradeln klappt jetzt auch noch.“ Nach sechs Etappen spüren viele Teilnehmer die Anstrengungen: „Die Beine werden langsam schwer“, sagt Felix.
Die wichtigsten Erholungstipps nach den Strapazen des Tages: entspannt ausradeln, Kompressionssocken überstreifen, Recovery-Shake trinken. Die Bierbomber variieren die Liste und hängen die Beine ins kühle Wasser des Lago di Roncone, einen Steinwurf vom Ziel entfernt. Gemäß dem Teamnamen kommt am Abend auch der Genuss nicht zu kurz: Ein paar Gläser Weißbier aus einer lokalen Brauerei fördern die gute Laune. Doch über die Feier-Aktion von Johannes Miggenrieder müssen selbst sie schmunzeln: ein Partybesuch zu Hause, während des Etappenrennens. Aber was soll man tun, wenn die Abi-Feier in Poing ausgerechnet während der TOUR-Transalp ansteht? Trotzdem hinfahren, lautet die Entscheidung von Johannes und seinem Vater. Direkt nach der Königsetappe geht es ab ins Auto der Mutter, auf der Autofahrt wird etwas gedöst, bis halb drei Uhr in der Früh gefeiert – und nach fast fünfstündiger Fahrt mit der Tante steht er am Samstagmorgen pünktlich am Start zur letzten Etappe.
Trotz des kraftraubenden Partyritts verteidigen Vater und Sohn Miggenrieder den dritten Platz der Herren-Team-Wertung und Johannes sein U23-Trikot. In der Mixed-Wertung beendet das Ehepaar Tibitanzl das Rennen ebenfalls auf dem dritten Platz. Laura hat bereits eine erfolgreiche Karriere als Ruder-Athletin hinter sich – dennoch bedeutet ihr der Stockerlplatz bei der TOUR-Transalp sehr viel. Bei der feierlichen Podiumszeremonie ernten sie ebenso Applaus wie der Kartoffelclub, der trotz Luisas Einbruch auf der Königsetappe die Führung bei den Damenteams behaupten konnte.
„Ich bin stolz, dass ich es geschafft habe“, meint Luisa und bekommt gleich ein Lob von ihrer Partnerin. Beide hätten nicht gedacht, bei ihrer Transalp-Premiere so weit vorne zu landen. Zufriedene Gesichter auch bei den Bayerischen Bier Bombern, die sich auf den 12. Rang vorgearbeitet haben und auf der letzten Etappe noch einmal „richtig Spaß“ hatten. Mit einem kühlen Bier in der Hand verfolgen sie die Siegerehrung und tauschen sich mit neu gewonnenen Freunden aus. „Eine super Teamleistung war das“, kommentiert Clemens von Father and Son seinen 17. Rang der Masters-Wertung.
Aber noch viel größer ist die Freude über die harmonische Woche im Zweier-Team. Deshalb ist eines schon klar: „Wir werden nächstes Jahr auf jeden Fall wieder etwas zu zweit auf dem Rennrad machen.“ Sollten Johannes und Hans Miggenrieder ähnliche Pläne hegen, hält ihre Rennrad-Ausrüstung jetzt Reserven bereit: Die verschwundene Tasche ist wieder aufgetaucht, Betreuer eines anderen Teams hatten sie versehentlich eingepackt. So reisen die beiden mit je zwei Paar Radschuhen nach Hause.
2023 wird die TOUR-Transalp übrigens am 18. Juni beginnen. Die TOUR Transalp startet in ihre 19. Auflage. In sieben sportlich-herausfordernden Etappen erwarten Rennradfahrer wieder traumhafte Panoramen und atemberaubende Ausblicke inmitten des höchsten Gebirges Europas. Die Streckenplanung ist in vollem Gange und die Transalp-Route 2023 wird im November präsentiert. Sicher ist aber jetzt schon: Es wird wieder eine attraktive Route mit vielen Neuerungen und spannenden Highlights werden.
Alle Frühentschlossenen können noch bis 29. November 2022 vom Early Bird-Rabatt profitieren und 150 Euro bei der Anmeldung sparen. Bei einer Registrierung in der Early Bird-Phase kostet der Startplatz statt 1299 nur 1149 Euro.
Mehr Info’s finden Sie auf der Veranstaltungs-Website.