Aufregung vor dem Start kennt wohl jeder Rennradfahrer: Man steht im Startblock und schaut sich verstohlen um. Die vielen braun gebrannten Waden, schlanken Taillen und mageren Körper in hautengen Trikots wirken Furcht einflößend. Das Höhenprofil der bevorstehenden Etappe besteht im Kopf nur noch aus steilen Zacken, und alles läuft auf die eine Frage hinaus: Habe ich genügend trainiert? Peter Sandmanns Zweifel sind überschaubar, mit rund 6000 Trainingskilometern ist der 60-Jährige gut vorbereitet.
Zudem bringt er die maximal mögliche Transalp-Erfahrung mit: Seit der Premiere 2003 ist er alle 19 Ausgaben der TOUR Transalp mitgefahren. Das ist Transalp-Rekord. Ganz anders sieht es bei Julian Zimatschek aus: Auf gar keinen Fall hat er genug trainiert. Man traut sich kaum die Zahl zu nennen: Nicht einmal 500 Kilometer hat der 18-Jährige zur Vorbereitung auf dem Rennrad absolviert – auch das dürfte ein Rekordwert in der Transalp-Geschichte sein. Der Blick auf das Höhenprofil der ersten Etappe lässt ihn dennoch kalt – er hat schlicht keine Vorstellung davon, ob 2600 Höhenmeter viel oder wenig sind.
Am Start der ersten Etappe in Lienz stehen die beiden nur wenige Meter entfernt voneinander im hinteren Teil des Startblocks. Vor ihnen liegen sieben bergige Etappen: 18709 Höhenmeter auf 848 Kilometern. Hier der Transalp-Veteran und wenige Meter weiter der jüngste Teilnehmer im Feld. Werden es beide bis ins Ziel nach Arco schaffen? Zimatschek startet mit gehörigem Respekt in die erste Etappe. Kurz macht ihn nervös, dass alle davonsprinten, doch dann hält er sich an seinen Plan: langsam starten und vorsichtig fahren. Bei großer Sommerhitze wird das Fahrerfeld ins Defereggental geführt – rund 1250 Höhenmeter sind es bis zum Staller Sattel, von wo es weiter ins Pustertal und nach Sillian geht.
Julian freut sich über die Fahrt in der vom Verkehr abgeschirmten Renngruppe. Der Applaus von Zuschauern zaubert ihm ein Lächeln ins Gesicht. Peter Sandmann erreicht nach 4 Stunden und 49 Minuten das Ziel und damit rund 40 Minuten eher als Zimatschek – der jetzt ungefähr weiß, was ihn auf den nächsten Etappen erwartet. Dem Routinier hingegen hat gefallen, dass die Strecke größtenteils verkehrsfrei war – eine Erinnerung an die frühen Jahre der TOUR Transalp, als noch spürbar weniger Verkehr herrschte.
Bei der Premiere 2003 war “das Verkehrsthema noch nicht so groß”, sagt auch Transalp-Erfinder Ulrich Stanciu. Er hatte 1998 die Transalp für Mountainbiker erfunden und dann das Konzept aufs Rennrad übertragen. “Damals war die Transalp das einzige große Etappenrennen, und wir hatten einen guten Draht zum Polizeichef in Riva. Die Straßen wurden von einer italienischen Motorradstaffel abgesichert, die aus zwölf Fahrern bestand. Die Strecke war die erste Dreiviertelstunde komplett gesperrt.”
Die Motorradstaffel gibt es schon lange nicht mehr – inzwischen werden nur noch einzelne Abschnitte gesperrt und andere durch Marshalls abgesichert. Gestiegene Kosten und komplexe Genehmigungsverfahren fordern ihren Tribut. Auch wenn sich in Ablauf und Organisation über die Jahre immer wieder Details geändert haben, steht das Grundkonzept der Transalp seit 2003 unverändert – mit einer Ausnahme: Seit 2019 sind bei der Etappenfahrt für Zweierteams auch Einzelstarter zugelassen.
Seit dies möglich ist, startet Sandmann in der Solo-Kategorie. “Ich habe über die Jahre alle Team-Partner verschlissen”, meint er lachend. Am Ende war keiner mehr da, der Zeit und Kondition für sieben Tage Etappenrennen mitbrachte. Seit 2003 hat er die TOUR Transalp jedes Jahr im Juni fest eingeplant. Seine jahrelange Erfahrung vereinfacht die Vorbereitung: Er weiß genau, wie viele Riegel, Gels, Radhosen und Trikots er in die Transalp-Tasche packen muss.
Ganz anders bei Zimatschek: Erst kurz vom dem Start hat er sich ein Rennrad mit Scheibenbremsen und elektrischer Schaltung ausgeliehen. Die ersten Rennradkilometer seines Lebens spulte er zuvor auf Papas altem Alu-Hobel ab. Rennradwissen eignete er sich über Youtube-Videos und die Netflix-Doku zur Tour de France an. Sein geliehenes Rad ist top, aber dennoch dominiert die Improvisation: Die Pumpe ist mit Panzertape am Oberrohr befestigt, sein Handy thront an einem klobigen Halter auf dem Lenker im Wind. Die Rad-Handschuhe fallen fast auseinander, die Trikots hat er vom Papa bekommen: Finisher-Trikots aus den Vorjahren.
Denn ganz zufällig ist Julian nicht auf die spontane Idee gekommen, bei der Transalp zu starten. Sein Vater, Sebastian Zimatschek, leitet seit 2003 das Rescue Team der TOUR Transalp. Die Finisher-Trikots sind Souvenirs seiner Arbeitseinsätze in den Vorjahren. Julian besitzt Kraft und Ausdauer von winterlichen Skitouren und seinem Job als Skilehrer. Auf dem Rad ist seine Erfahrung minimal – eine Mountainbike-Tour von München nach Venedig war das einzige größere Projekt. Das Rennrad hatte er tatsächlich erst wenige Wochen vor dem Transalp-Start entdeckt.
Seine Gedanken waren einfach: “Ich habe gerade mein Abi gemacht, habe Zeit und stehe im Saft. Jetzt ist die Chance mitzufahren, wenn auch mein Vater dabei ist. Wer weiß, ob ich nächstes Jahr Zeit habe.” Ein Etappenrennen mit nur 500 Trainingskilometern? Vater Zimatschek war zuerst regelrecht schockiert: “Ich habe versucht, ihn davon abzubringen.” Schließlich weiß niemand besser als er, was die Transalp bedeutet. Seit der ersten Auflage wird die Sicherheit großgeschrieben, ein Team von Notfallsanitätern auf Motorrädern und in Rettungswagen begleitet das Rennen unter seiner Leitung.
Seit 2003 hat er dennoch viele schwere Unfälle erlebt. Doch sein Sohn ließ sich nicht von der Idee abbringen: “Als das nicht ging, habe ich ihm klargemacht, was ihn erwartet. Er musste mir versprechen, dass er in den Abfahrten vorsichtig fährt”, erzählt Zimatschek senior. Zwei spezielle Trainingsfahrten musste Julian vor dem Start absolvieren: Bei einer brachte ihm ein erfahrener Radsportler das Verhalten bei Radrennen bei, und bei einer zweiten Ausfahrt übte er gezielt Abfahrten.
Die spezielle Konstellation von Vater und Sohn Zimatschek bleibt bei der Transalp natürlich nicht verborgen. Auch Peter Sandmann hat von der wilden Geschichte des Rennrad-Einsteigers gehört und ihn unterwegs beobachtet: “Er ist sehr vernünftig gefahren. Kein Kurvenschneiden, keine riskanten Aktionen.” Ganz reibungslos verläuft der Ritt über die italienischen Berge dennoch nicht. Vom ersten Tag an hat Julian Probleme mit dem Magen. Sein Verdacht fällt auf das Essen am Tag vor der Transalp – aber vielleicht ist es auch die Mischung aus Aufregung, Anstrengung, ungewohnten Gels und Kohlenhydratgetränken.
In diesem Jahr strahlt die Sonne über der TOUR Transalp – die Temperatur liegt fast immer im Bereich von 30 Grad. “Da hat Julian Glück gehabt und eine einfache Transalp erwischt”, kommentiert Sandmann. Der Vielfachstarter erinnert sich an etliche Etappen bei Regen und Kälte. Besonders vom Wetter beeinträchtigt war die Austragung 2017. Schon die dritte Etappe ließ mit Regen bei fünf Grad die Körper der Radsportler zittern. Am nächsten Tag kam es noch schlimmer: Die Etappe übers Stilfser Joch musste abgebrochen werden, nachdem der Regen in Schnee überging.
Hunderte unterkühlter Radler flüchteten sich in Gaststätten und versuchten sich mit Rettungsdecken zu wärmen. Später wurden die Teilnehmer per Bus ins Ziel gefahren. Weil es auch am nächsten Tag sehr kalt und nass war, wurde die Etappe abgesagt. “Das war das einzige Mal in all den Jahren, dass ich eine komplette Etappe im Bus zurückgelegt habe”, erinnert sich Sandmann.
Schnee und Kälte sind diesmal nicht zu befürchten – auch am vierten Tag ist Sommerhitze angesagt. Das Profil der vierten Etappe ist heimtückisch. Scheinbar wartet nur ein längerer Anstieg, aber die Zahlen sind eine Warnung: 2672 Höhenmeter verteilen sich auf den 142 Kilometern des Tages. Peter Sandmanns Respekt ist groß. Auch er hat heute mit Magenproblemen zu kämpfen und bekommt beim Frühstück kaum was runter.
Die ersten 50 Kilometer des Tages geht es bei hoher Geschwindigkeit rund um den Monte Grappa, dann wartet der lange Anstieg auf die dünn besiedelte Hochebene der Sette Comuni. Rund 900 Höhenmeter am Stück in brütender Hitze werden für den geschwächten Sandmann zur Qual. Auf der Hochebene angekommen, erlaubt das wellige Gelände nur kurzzeitig Erholung. Das Thermometer zeigt über 30 Grad, und Sandmann fühlt sich immer schlechter. 19-mal ist er bei der TOUR Transalp mitgefahren und immer ins Ziel gekommen, aber heute keimen Zweifel. Ihm ist inzwischen so schlecht, dass er anhalten und sich am Streckenrand übergeben muss.
Die TOUR Transalp im Juni ist bei mir seit Jahren fest eingeplant (Peter Sandmann)
Seit 2003 hat er einige schwierige Momente bei der Transalp erlebt, aber ausgestiegen ist er noch nie, gestürzt auch nicht. Heute fährt er seine 129. Transalp-Etappe. Steht jetzt die erste Aufgabe bevor? Sandmann steigt wieder aufs Rad und fährt langsam weiter, räumt aber später ein: “Wenn ich den Besenwagen gesehen hätte, wäre ich vermutlich eingestiegen.” Eine Suppe an der zweiten Verpflegungsstelle verleiht neue Kraft. “Einen Tiefpunkt bei sieben Etappen hat fast jeder. Da muss man einfach durch”, meint er später. Die Sieger der verschiedenen Kategorien sind da schon seit zwei, drei Stunden im Ziel. Auch Julian Zimatschek hatte keinen leichten Tag – die Anstrengungen summieren sich. Als er die Zeiten der Schnellsten erfährt, wird ihm bewusst, welch enorme Leistungen hier gezeigt werden.
Doch bei beiden geht es auf der fünften und sechsten Etappe wieder bergauf. Sandmann hat wieder einen stabilen Magen, Zimatschek fühlt sich immer besser: “Ich habe den Eindruck, meine Muskeln haben sich jetzt schon auf das Radfahren eingestellt.” Auch bei seiner Verpflegung hat sich Routine eingestellt: Die Trikottaschen sind mit Gels und Riegeln vollgestopft. Er geht die Etappen weiterhin entspannt an. Wenn er seinen Vater mit dem Rescue-Motorrad am Straßenrand stehen sieht, hält er kurz an und bittet um einen Schluck Cola, und auf der Passhöhe macht er auch mal ein Foto.
Auch Sandmann spürt keinen Stress. Wenn die Zeit vor dem Etappenziel genommen wird, kauft er sich ein Eis oder eine Cola und wartet auf seine Kollegin, die ebenfalls als Solistin mitfährt. Alle eint die Vorfreude auf die letzte Etappe und die Zieleinfahrt in Arco am Gardasee. Anspruchsvolle 2460 Höhenmeter bringen Sandmann und Zimatschek zwar noch einmal gehörig ins Schwitzen – aber das Ziel ist greifbar.
Ein langer, mit Absperrgittern abgeschirmter Zielkanal führt ins Zentrum von Arco. Die Fahrzeit wird aus Sicherheitsgründen schon 25 Kilometer vor dem Ziel genommen – die Ankunft ist ein Schaulaufen. Ein großer Zielbogen dient den eintreffenden Frauen und Männern als Fotomotiv, der Streckensprecher begrüßt die jubelnden Teilnehmer, und auf der Bühne links daneben werden die Finisher-Trikots verteilt. Im Abstand von wenigen Minuten kommen Sandmann und Zimatschek ins Ziel.
Zwar war Sandmann rund eine Stunde vor dem Rookie an der Zeitnahme auf der Passhöhe Santa Barbara, aber wie in den Tagen zuvor lässt er sich Zeit, um gelassen ins Ziel zu rollen. Am Ende landet er auf Platz 121 der Einzelstarter und hat rund 40 Stunden zwischen den Zeitmessmatten verbracht. Neuling Zimatschek muss sich nicht verstecken: Er kommt auf Rang 136 ins Ziel. “Es waren coole Tage, und es ist ein gutes Gefühl, es geschafft zu haben”, sagt er mit einem breiten Grinsen zu seiner Freundin, zu seiner Schwester und seiner Mutter, die ihn im Ziel empfangen. Stolz trägt er das Finisher-Trikot – das erste selbst verdiente.
Auch Peter Sandmann freut sich, “dass wieder alles geklappt hat. Morgen im Bus kommt dann die Wehmut, dass die Transalp schon wieder vorbei ist”. Aber für den Dauerstarter ist nach der Transalp auch vor der Transalp – 2024 will er selbstverständlich wieder mitfahren. Zimatschek macht sich noch keine Gedanken über diese ferne Zukunft – jetzt steht erst einmal die Abi-Feier an. “Zum Glück haben wir dafür noch keine Hose gekauft. Seine Oberschenkel sind so gewachsen, dass sie nicht mehr passen würde”, urteilt seine Mutter lachend.