Unbekannt
· 01.08.2017
Schon bei fast neuen Rennrädern kann die Beschaffung von wichtigen Ersatzteilen zum Problem werden. Eine gesetzliche Vorschrift, die Hersteller verpflichtet, Ersatzteile vorrätig zu halten, fehlt.
Ein Sturz, eine Unachtsamkeit beim Abstellen oder Transport – und schon ist der eben noch makellose Renner ein Fall für die Werkstatt. Wie schnell so ein Malheur passiert, davon kann TOUR-Leser Alexander Friedrich ein Lied singen. Beim Verladen seines Rades ins Auto hat er kurz nicht aufgepasst, und schon hatte die Carbongabel einen Knacks. Kein Problem, dachte er, der Händler wird schon eine neue Gabel besorgen. Von wegen: Obwohl das Rad noch keine zwei Jahre alt war, hatte der Hersteller keine Originalgabel vorrätig. Das Problem: Der Rahmen war in einem knalligen Giftgrün lackiert. Eine technisch passende Gabel war zwar lieferbar, aber nicht in der gewünschten Farbe. Über einen Monat musste Friedrich warten, bis die Austauschgabel im passenden Farbton nachlackiert war.
Friedrichs Fall steht exemplarisch für einen Missstand in der Radbranche, den kaum ein Rennradler beim Kauf seines Rades in Betracht zieht. Dass wichtige Ersatzteile selbst bei relativ neuen Modellen oft kaum oder gar nicht zu beschaffen sind, bestätigt auch Dirk Zedler, langjähriger TOUR-Mitarbeiter und einer der führenden Fahrradsachverständigen in Deutschland. Er kennt aus seiner Berufspraxis viele vergleichbare Beispiele. Zedlers Prüfinstitut in Ludwigsburg erstellt unter anderem Gutachten, in denen der Wert von Fahrrädern nach Unfällen ermittelt wird. Immer wieder muss Zedler dabei relativ neue Räder als Totalschaden einstufen, weil entscheidende Bauteile wie die Gabel nicht beschafft und aufgrund besonderer Bauformen und Montagestandards nicht durch andere Bauteile ersetzt werden können. "Kürzlich hatten wir einen besonders krassen Fall", berichtet Zedler. "Eine renommierte Rennradmarke war nicht in der Lage, für einen gerade mal drei Jahre alten High-End-Rahmen eine technisch passende Gabel zu beschaffen." Zedler bringt das Problem auf den Punkt. "Das Fahrrad ist auf dem besten Weg, sich zum Wegwerfartikel zu entwickeln."
Keine einheitlichen Standards
Eine Ursache für diesen Trend ist, dass es bisher keine Verordnung oder EU-Richtlinie gibt, die die Hersteller zwingt, Ersatzteile für eine bestimmte Frist vorrätig zu halten. Zudem fehlt auch vielen Herstellern offenbar ein Bewusstsein für das Problem. Uwe Wöll sieht darin einen weiteren Grund für die Misere: "In der Fahrradbranche gibt es bis heute keine üblichen Standards, wie Reparaturen, Reklamationen und Ersatzteilversorgung gehandhabt werden." Wöll ist Geschäftsführer der VSF Service GmbH, einer Tochter des Branchenverbandes "Verbund Service und Fahrrad", in dem fast 300 Akteure aus der Fahrradwelt, darunter Fahrradhändler, Hersteller und Großhändler, zusammengeschlossen sind. In seiner Funktion steht Wöll in regelmäßigem Austausch mit vielen VSF-Händlern. Aus deren Rückmeldungen, die der VSF systematisch erfasst, weiß Wöll, dass es Fahrradhersteller völlig unterschiedlich handhaben, ob sie bestimmte Ersatzteile vorrätig halten oder nicht. Ein Zustand, der etwa in der Autobranche undenkbar wäre. Dort haben die Hersteller mit ihren Zulieferern bestimmte Prozesse festgelegt, die sicherstellen, dass Reparaturen in kürzester Zeit erledigt werden. Für die Dauer des Werkstattaufenthalts stehen den Kunden oft Ersatzfahrzeuge zur Verfügung, damit sie weiter mobil sind. Kunden der Fahrradhersteller können von solchen Lösungen nur träumen. "Zu viele Hersteller verlassen sich darauf, dass die Händler die Probleme schon irgendwie ausbügeln und den Kunden eine Lösung anbieten. Früher funktionierte das oft noch", sagt Wöll. "Aber bei der komplexen Technik und den sensiblen Werkstoffen an modernen Rädern stoßen die Händler dabei immer öfter an Grenzen."
Preis des Fortschritts?
Zyniker könnten diese Entwicklung, die nicht nur Rennräder, sondern alle Segmente des Fahrradmarktes betrifft, salopp als Preis des Fortschritts abtun. Über viele Jahrzehnte waren sich die meisten Räder technisch sehr ähnlich. Gabeln ließen sich fast beliebig zwischen verschiedenen Fabrikaten tauschen, bei Tretlagern gab es drei relevante Standards, bei Sattelstützen eine Handvoll Durchmesser, die leicht zu beschaffen waren. Dementsprechend ließ sich fast jedes defekte Rad mit überschaubarem Aufwand reparieren. In den letzten Jahren jedoch hat die Branche eine kaum überschaubare Vielfalt an unterschiedlichen Rahmenformen und Geometrievarianten mit vielen technischen Sonderlösungen hervorgebracht und das Fahrrad damit auf ein nie gekanntes Niveau katapultiert. Die Kehrseite der Entwicklung ist, dass immer mehr Hersteller, um sich von ihren Wettbewerbern abzuheben, bei wichtigen Schnittstellen zwischen Rahmen und funktionalen Bauteilen wie Tret- und Lenklagern, Sattelstützen, Laufrädern und Bremsen ihr eigenes Süppchen kochen. Ob die Firmen aber auch für den Fall vorgesorgt haben, dass die entsprechenden Bauteile einmal ersetzt werden müssen, erfahren Kunden erst, wenn die Teile dringend benötigt werden.
Zu beobachten ist dieses Problem im Übrigen nicht nur bei Kompletträdern, sondern auch bei Komponenten und Laufrädern. Regelmäßig erreichen uns Anfragen von Lesern, die auf einen Tipp hoffen, wie sie an ein dringend benötigtes Ersatzteil kommen. So beklagte TOUR-Leser Hans-Georg Belting kürzlich, dass Shimano keine mittleren Kettenblätter für die bis 2008 produzierte Dreifach-Version der Dura-Ace-7800-Gruppe mehr liefern kann – doppelt ärgerlich, weil das kleine Blatt bei dieser Kurbel am mittleren Blatt befestigt wird. Ohne mittleres Blatt ist die Kurbel deshalb wertlos. Zahlreiche Beschwerden erreichten uns auch, weil Shimano schon bald nach Einstellung der bis 2012 produzierten ersten Generation der Dura-Ace Di2 keine Ersatzteile mehr für die Gruppe liefern konnte. Michael Wild, Marketing-Verantwortlicher beim deutschen Shimano-Importeur Paul Lange, räumt ein, dass dieser Fall "keine gute Geschichte" war, verweist aber darauf, dass Shimano daraus Lehren gezogen hat.
Generell gilt die Versorgung mit Ersatzteilen bei Shimano im Branchenvergleich als relativ gut, auch weil oft Teile einer Gruppe durch kompatible Bauteile einer anderen Gruppe ersetzt werden können. Notorisch sind Versorgungsprobleme dagegen bei Systemlaufrädern. So sind zum Beispiel die Spezialspeichen für diverse ältere Ksyrium-Laufräder von Mavic schon seit Jahren nicht mehr erhältlich. Wer sich für dieses und andere Beispiele interessiert, findet im TOUR-Forum zahlreiche Einträge, in denen sich Betroffene austauschen und gemeinsam nach Lösungen suchen.
Zu kurze Produktzyklen
Eine Besserung der Situation ist derzeit kaum in Sicht. Viel wäre schon erreicht, wenn es der Radbranche endlich gelänge, die ewige Spirale aus zu kurzen Produktzyklen und häufig völlig unnötigen Farbwechseln zu durchbrechen. Hier sieht auch Experte Dirk Zedler einen der Hauptgründe für die Misere. "Wenn Räder nicht wie üblich ein Modelljahr, sondern drei Jahre im Programm blieben, würde sich die Versorgungslage bei Ersatzteilen schlagartig verbessern." Wären die Räder länger aktuell, käme dies im Übrigen auch den Händlern entgegen, weil deren Lagerbestände weniger schnell an Wert verlören. Solange allerdings Hersteller, die nicht jedes Jahr ihre Modellpalette überholen, fürchten müssen, als nicht mehr innovativ gebrandmarkt zu werden, dürfte dies eine Wunschvorstellung bleiben. Zedler fürchtet deshalb, dass es wohl erst zu einem Prozess kommen muss, den ein Fahrradbesitzer gegen einen der großen Hersteller bis zum bitteren Ende durchzieht, um die Branche zu einem Umdenken zu bewegen.
IHR GUTES RECHT
Die wichtigsten Begriffe rund um die Themen Sachmängelhaftung und Garantie – und was sie bedeuten:
Sachmängelhaftung (vormals Gewährleistung)
• zwei Jahre ab Kaufdatum
• der Verkäufer haftet per Gesetz gegenüber seinem Kunden für mangelfreie Ware und entstandene Folgeschäden
• typischer Verschleiß oder vom Kunden verursachte Schäden sind kein Mangel
• bestimmungsgemäßer Gebrauch ist Voraussetzung
Garantie
• freiwilliges Qualitätsversprechen durch den Hersteller
• definiert werden Dauer, Gründe und Umfang für Garantieleistungen und auch die Bedingungen, an die sich der Käufer halten muss
• Montagekosten und zusätzlich erforderliche Bauteile sind meist nicht eingeschlossen
• Ansprechpartner ist meist der Radhändler, Garantiegeber aber der Hersteller
• viele Hersteller knüpfen eine Garantie daran, dass der Kunde sein Rad regelmäßigen Inspektionen beim Händler (im Normalfall einmal im Jahr) unterziehen lässt und dies auch belegen kann
Crash Replacement
• freiwilliges Angebot des Herstellers, ein Bauteil nach Sturz oder Unfall zum vergünstigten Preis ersetzen zu können.
• definiert werden die Laufzeit des Angebots, die Voraussetzungen und der Ablauf. Ansprechpartner ist der Radhändler, der als Mittelsmann zum Hersteller dient.
• eventuelle Montagekosten sind in der Regel nicht vergünstigt.
Widerrufsrecht bei Fernabsatz
• gilt zwei Wochen ab Lieferung der Ware
• bei Internethandel oder telefonischen Geschäften darf der Kauf der Ware ohne Angabe von Gründen widerrufen werden.
• die Ware darf nicht gebraucht und nicht beschädigt sein.
• ausgeschlossen sind individuell für den Kunden gefertigte Produkte.
Produkthaftung
• gilt zehn Jahre ab Kaufdatum
• der Hersteller haftet per Gesetz für die Sicherheit des Produktes. Versagt ein Bauteil bei bestimmungsgemäßer Nutzung, muss der Schaden ersetzt werden.
• die Ansprüche müssen an den Händler gerichtet werden, der innerhalb von vier Wochen seinen Lieferanten benennen muss. Sonst haftet der Händler.
Worauf Sie sich gegenüber Ihrem Händler und dem Hersteller Ihres Rades berufen können, erfahren Sie auf unserer Website www.tour-magazin.de unter dem Webcode #26237
Interview mit Dirk Zedler, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Fahrräder und Elektrofahrräder, www.zedler.de: »Die Situation bei Ersatzteilen ist dramatisch.«
Herr Zedler, haben Sie einen Überblick, wie häufig es vorkommt, dass bei Rennrädern, Laufrädern oder Komponenten wichtige Ersatzteile schon wenige Jahre nach dem Kauf nicht mehr verfügbar sind?
Bei der Gutachtenerstellung kalkulieren wir die Reparaturkosten, oder wir versuchen es zumindest. Sehr oft scheitern Reparaturen daran, dass schon nach ein, zwei Jahren Teile nicht mehr erhältlich sind. Es kommt sogar vor, dass in der noch laufenden Saison eine Ersatzgabel nicht zu haben ist. Dann rentiert sich eine Instandsetzung oft nicht, und das Rad ist ein Totalschaden. Die Situation im Fahrradbereich möchte ich mit Ausnahme weniger Lichtblicke geradezu als dramatisch bezeichnen.
Gibt es Bauteile, die besonders häufig betroffen sind?
Einzelne Felgen, einzelne Kurbeln, ein einzelner Bremshebel, besondere rahmenspezifische Sattelstützen oder farblich passende Gabeln sind die Spitzenreiter. Passende Ersatzteile werden durch den seit einigen Jahren herrschenden Integrationstrend immer schwerer verfügbar. Auch die vielen Maße bei Vorder- und Hinterradnaben, Innen- sowie Lenkungslagern verschlechtern die Verfügbarkeit. Oft kann man dann nicht einmal auf einen anderen Hersteller ausweichen.
Sind Fahrradhersteller eigentlich verpflichtet, wichtige Ersatzteile wie spezielle Sattelstützen oder Gabeln für eine bestimmte Frist vorrätig zu halten?
Wenn ich den Markt so beobachte, wird offensichtlich keine Frist gewahrt. Zumindest für die Fahrradbranche ist mir kein Gerichtsurteil bekannt. Für andere Branchen haben Gerichte entschieden, dass eine angemessene Frist anzusetzen sei, die sich auch nach Wert und Gebrauchsdauer der Sache richte. Persönlich würde ich begrüßen, wenn zumindest kompatible Ersatzteile in einem farblichen Grundton oder zumindest roh ohne Lackierung so lange vorrätig wären, wie der Hersteller Garantie auslobt.
Darf ein Kunde verlangen, dass er eine Ersatzgabel in einer bestimmten Farbe bekommt? Oder ist der Hersteller schon aus der Pflicht, wenn er die Gabel in neutralem Schwarz liefert?
Wie gesagt, Urteile gibt es nicht. Die Situation ist eher so, dass man sich dann schon freuen muss. Die ganze missliche Lage wird sich wohl erst ändern, wenn ein Radfahrer einen solchen Prozess durchzieht. Das braucht Geld, Ausdauer und einen guten Rechtsanwalt. So anstrengend es ist, nur durch solchen Druck wird es sich
bessern.
Wie können Rennradkäufer vor dem Kauf abschätzen, ob sie später Probleme bei der Ersatzteilbeschaffung befürchten müssen?
Je komplexer und integrierter das Fahrrad ist, umso geringer wird später die Chance, Ersatzteile zu bekommen. Zu bevorzugen sind zudem Hersteller, deren Rahmenplattformen nicht jedes Jahr erneuert werden. Hinsichtlich der Komponenten sind die großen Hersteller unserer Erfahrung nach besser aufgestellt. Die Ersatzteile sind aufgrund der Bevorratung zwar verhältnismäßig teuer, es gibt sie jedoch, und das Rad rollt wieder.