Angelika Rauw
· 17.03.2017
Als Karl von Drais 1817 das Fahrrad erfand, war an radelnde Frauen nicht zu denken. Das änderte sich rapide im 20. Jahrhundert – Frauen eroberten nicht nur das Fahrrad, sondern auch den Radsport. Wir stellen fünf Radsportlerinnen vor, die jeweils etwas ganz Besonderes erreichten
1895: Die erste inoffizielle Radsport-Weltmeisterin
Für Hélène Dutrieu ist Radsport nur eine kurze Episode in ihrem abenteuerlichen Leben als Artistin, Pilotin und Rekordjägerin. 1877 im belgischen Tournai geboren, verlässt sie mit 14 Jahren die Schule, um Geld zu verdienen – unter anderem als Bahn-Rennfahrerin im Simpson Lever Chain Team. 1895 gewinnt sie in Ostende die erste inoffizielle Weltmeisterschaft für Frauen im Sprint. Radfahrende Frauen sind zu jener Zeit verpönt, kein offizieller Verband trägt die Wettkämpfe aus. Hélène gewinnt den Titel auch in den beiden folgenden Jahren, dazu 1898 den Grand Prix d’Europe – und beendet ihre Radsportkarriere. Neues reizt sie. Nun fährt sie Motorrad- und Autorennen und erlangt als Kunstradfahrerin Berühmtheit mit ihrer Zirkus- und Varieténummer „der menschliche Pfeil“, bei der sie mit dem Rad mehrere Meter weit durch die Luft fliegt. Das „richtige“ Fliegen sollte sie dann weltberühmt machen: Als Pilotin bricht sie ab 1908 Rekorde, wofür sie 1913 zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt wird. Ihr Wagemut verschafft ihr den Spitznamen „Falkenmädchen“. Im Ersten Weltkrieg arbeitet Hélène bei der Pariser Luftwache, danach als Ambulanzfahrerin, und im Zweiten Weltkrieg leitet sie ein Militärhospital. Mit 84 Jahren stirbt sie in Paris.
1924: Die erste und einzige Frau, die den Giro d’Italia bezwang
Als Alfonsina Morini am 1891 als eines von zehn Kindern eines armen Bauern zur Welt kommt, ahnt niemand, wie berühmt sie werden sollte. Sie wächst bei Bologna wie ein Junge auf, fährt auch mit dem Rad ihres Vaters. Als sie zehn ist, tauscht sie zehn Hühner gegen ihr erstes eigenes Rad, mit 13 gewinnt sie bei einem Radrennen ein lebendes Schwein. Als sie mit 24 den Radsportler und Graveur Luigi Strada heiratet, ist sein Hochzeitsgeschenk ein neues Fahrrad. Weil 1924 so viele Profis dem Giro fernblieben, wird das Radrennen für jedermann geöffnet. 90 Starter wagen sich an die zwölf Etappen und 3.613 Gesamtkilometer – darunter Alfonsina Strada. Sie hatte sich unter dem Namen Alfonsin Strada eingeschrieben. Erst kurz vor dem Start bemerkt die Presse, dass sich dahinter eine Frau verbirgt. Nach einiger Aufregung erhält Alfonsina dennoch die Starterlaubnis. Am ersten Tag kämpft sie nicht nur gegen Strecke, Müdigkeit und ihre Konkurrenten, sondern auch gegen die Sticheleien der Zuschauer. Nach mehr als 13 Stunden erreicht sie das Ziel – noch vor einigen männlichen Mitstreitern. Auch auf den weiteren Etappen bleibt Alfonsina in der vorgegebenen Zeit, einige Männer haben das Rennen längst aufgegeben. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: Die junge Frau begeistert die Zuschauer. Während der 8. Etappe stürzt sie mehrmals, der Lenker an ihrem Rad bricht, sie fixiert ihn mit einem Besenstiel. Sie erreicht das Etappenziel wenige Minuten zu spät und wird disqualifiziert. Der Giro-Organisator zeigt sich jedoch großzügig, denn er weiß die mediale Aufmerksamkeit zu schätzen: Alfonsina darf das Rennen außer Konkurrenz fortsetzen. Über die Hürden des restlichen Rennens, das nur 38 Fahrer beenden werden, wird sie von der Begeisterung ihrer Fans regelrecht getragen. Alfonsina fährt bis ins Alter Rennrad, darf aber nie wieder beim Giro starten. Sie überlebt zwei Ehemänner, übernimmt ein Fahrradgeschäft und entdeckt 1957 eine neue Leidenschaft: das Motorrad – das sie nur zwei Jahre später, mit 68 Jahren, tragischerweise das Leben kostet.
1958: Die erste Radsport-Weltmeisterin der Frauen
Die 1933 geborene Luxemburgerin kommt durch ihre älteren Brüder zum Rennradfahren. In ihrer Heimat darf sie als Frau jedoch nicht an Rennen teilnehmen, weshalb sie in Frankreich und Belgien an den Start geht. Ihre Erfolge bewegen ihren Heimatverband schließlich 1955 dazu, die Statuten zu ändern. In die Geschichtsbücher schreibt sich Elsy 1958, als sie in Reims bei der ersten Straßen-Weltmeisterschaft für Frauen Gold holt. Im gleichen Jahr stellt sie in Mailand einen neuen Stundenweltrekord von 41,347 Kilometern auf, der erst 14 Jahre später gebrochen wird. Elsy Jacobs erhält den Spitznamen „La Grande-Duchesse“ (die Großherzogin) und gilt als bestbezahlte Sportlerin ihrer Zeit, außerdem als dickköpfig und resolut. Nachdem der luxemburgische Verband die inzwischen 41-Jährige 1974 nicht mehr für die WM nominiert, nimmt sie die französische Staatsbürgerschaft an und zieht nach Paris. Nach Ende ihrer aktiven Karriere 1978 – sie war 15 Mal Landesmeisterin und hat an mehr als 1.000 Rennen teilgenommen, von denen sie 301 gewann – trainiert sie noch viele Jahre eine Jugendmannschaft in der Bretagne. Dort stirbt sie 1998.
1967: Stellt einen 12-Stunden-Rekord auf, der bis heute gilt
Beryl Burton gilt als erfolgreichste britische Radsportlerin – obwohl kaum jemand heute ihren Namen kennt. 1937 als Beryl Channock geboren wächst sie in Yorkshire auf. Durch die Begegnung mit ihrem späteren Ehemann, dem Amateur-Rennfahrer Charlie Burton, gelangt sie als 15-Jährige zum Radsport. Anfangs stempelt die Presse sie als „radelnde Hausfrau“ ab. Das Ehepaar wird belächelt, ihnen wird eine falsche Rollenteilung unterstellt, denn ihr Mann ist ihr größter Unterstützer, der sie trainiert und fördert. Mit 19 wird Beryl Mutter, sie arbeitet als Rhabarberpflückerin und trainiert nur abends und am Wochenende. Mit 20 wird sie Zweite in den Britischen Zeitfahrmeisterschaften (100 Meilen). In den kommenden 25 Jahren gewinnt Beryl 90 nationale Titel, dazu sieben Weltmeistertitel und wird in die „British Cycling Hall of Fame“ aufgenommen. In ihren stärksten Zeiten schlägt sie auf dem Rad sogar Männer: So stellt sie 1967 mit 277,25 Meilen (Durchschnittgeschwindigkeit 37,18 km/h) einen neuen Zwölf-Stunden-Rekord auf, der für Frauen bis heute gilt. Es dauert zwei Jahre, bis ein Mann ihn knackt. Ihr Talent gab Beryl an ihre Tochter Denise weiter, die 1972 zusammen mit ihr im britischen Nationalteam trainiert. Besser darf die Tochter allerdings nicht sein: Bei der Siegerehrung der britischen Straßenmeisterschaft 1976 gibt die damals 39-Jährige ihrer Tochter nicht die Hand, als diese gegen sie gewinnt. Am Abend vor ihrem 59. Geburtstag stirbt Beryl 1996 bei einer Rad-Ausfahrt an einem Herzinfarkt. Sie soll schon als Kind an Herzrhythmusstörungen gelitten haben; Ärzte hatten ihr damals von Sport abgeraten.
1984: Die erste Straßen-Olympiasiegerin
Connie Carpenter, 1957 in Wisconsin geboren, ist schon als Jugendliche eine vielseitige, talentierte Sportlerin und nimmt mit 14 Jahren als Eisschnellläuferin an den Olympischen Winterspielen teil. Auch im Rudern und im Mehrkampf ist sie sehr erfolgreich. Nach Verletzungen, die sie von der Olympia-Teilnahme 1976 abhalten, widmet sich die damals 19-Jährige dem professionellen Radsport. Schon ein Jahr später gewinnt sie zum ersten Mal die US-Meisterschaft – elf weitere nationale Titel sollten folgen. Zusammen mit ihrer Landsfrau Rebecca Twigg startet Connie am 29. Juli 1984 als Favoritin für den ersten Olympiasieg in das Straßenrennen in Los Angeles. Insgesamt gehen 45 Fahrerinnen aus 16 Nationen auf den 79-Kilometer-Rundkurs. Die beiden Amerikanerinnen liefern sich auf den letzten Metern ein packendes Sprint-Duell, das Carpenter durch einen "Tigersprung" für sich entscheidet. Bronze geht damals übrigens an die erst 17-jährige Sandra Schumacher aus der Bundesrepublik Deutschland. Am Tag nach ihrem Erfolg beendet Connie ihre Radsportkarriere. Verheiratet ist sie mit dem Radsportler Davis Phinney. Ihr gemeinsamer Sohn Taylor Phinney war als Radprofi bei BMC und von 2016 bis 2019 bei Cannondale Drapac/EF Nippo unter Vertrag. Connie organisiert zusammen mit ihrem Mann Rad-Camps, malt und schreibt Bücher.
Wer mehr über die Geschichte des Fahrrads aus weiblicher Perspektive wissen möchte, sollte das Buch “Revolutions” von Hannah Ross lesen.