Unbekannt
· 30.11.2009
Vor 15 Jahren war der Stundenweltrekord des Schotten Graeme Obree ein Aufreger: Der kaum bekannte Amateur hatte in einer eigenwilligen Sitzposition die Bestmarken von Merckx und Moser überboten, bevor die UCI seine Rekorde annullierte. Im November 2009 greift Obree noch einmal an – mit selbst gebautem Bahnrad und brennendem Willen.
Wer Graeme Obree im Internet sucht, kommt nicht weit. Unter www.obree.com finden sich eine Postfachadresse und das Versprechen, sehr bald eine verbesserte Internetpräsenz zu zeigen. Das Versprechen ist eineinhalb Jahre alt. Doch was den einst berühmtesten Sportler Schottlands umtreibt, das steht auch dort: “Ich habe nie gedopt. Ich bin bereit, meinen Finger in einen Lügendetektor zu stecken, wenn es jemand darauf anlegt. Mit anderen Worten: Wer ein signiertes Poster von mir kauft, hat nicht in ein paar Tagen wertloses Altpapier in der Hand.” Man kann diese Aussagen als eine der wohlfeilen Abwehrgesten verstehen, mit denen sich schon viele Radrennfahrer ins rechte Licht rücken wollten. Doch Graeme Obree versteht es als Angriff, als wütende Attacke. Zuviel hat er wegstecken müssen in seiner Karriere, um das falsche Spiel im Profisport unkommentiert zu lassen.
Obree sitzt auf einem cremeweißen Sofa im plüschigen Wohnzimmer von Freunden, südlich von Glasgow. Ein durchtrainierter Mann Anfang vierzig, Arme, Beine und Schädel sind rasiert. Seine Stimme ist kontrolliert, der schottische Akzent gebändigt, doch seine flatternden Hände verraten die angestaute Energie, als er den Auslöser für seinen Angriff auf den Stundenrekord schildert: “In dem Jahr, als sie Rasmussen und noch ein paar andere wegen Doping aus der Tour gezogen haben, war ich mit einem Freund auf seinem Junggesellenabschied in Paris. Wir wollten vor der Party noch die letzte Etappe anschauen.” Obree stand mit seinem Freund an der Strecke – doch er ging wieder, noch bevor die Fahrer durchkamen. “Ich hatte eine derartige Abscheu, solche Ressentiments gegen diese ganze Show, dass ich es nicht ertragen habe! Und da habe ich beschlossen: Denen zeig’ ich’s.” Er lacht laut über seine verwegene Kampfansage. Ein “sauber” gefahrener Stundenweltrekord mit 43 Jahren, das wäre eine späte Revanche am Radsport-Establishment, das seine Lebensträume mehrmals zertrümmerte.
16 Jahre ist es her, dass Obree mit einem Schlag weltberühmt wurde: 1993 verbessert der außerhalb Großbritanniens kaum bekannte Amateur den seit neun Jahren bestehenden Stundenweltrekord von Francesco Moser um fast 450 Meter auf 51,596 Kilometer. Sein selbst gebautes Rad und die unkonventionelle Sitzposition mit angewinkelten Armen und weit vorgestrecktem Kopf faszinieren die Zuschauer. Eine Woche später überbietet Chris Boardman, sein Dauerrivale bei britischen Zeitfahrrennen, diese Marke. Im selben Jahr wird Obree Bahnweltmeister in der 4.000-Meter-Einerverfolgung; er schaltet Boardman im Halbfinale aus. 1994 holt Obree dann auch den Stundenrekord vom Engländer zurück. Schon dieses Duell ist eine Story wie aus dem Drehbuch. Zwei Denkweisen, zwei Protagonisten: “Chris hatte alles, was es an Hightech gab: Blutsauerstoffmessung, Carbonmaschinen, Windkanal, Sponsoren”, erzählt Obree. “Ich hatte mich und mein Hirn und mein Gefühl. Es war nicht Schottland gegen England oder David gegen Goliath, sondern höchstens: Kunst gegen Wissenschaft.”
Doch als Obree 1994, nach seinem zweiten Stundenweltrekord, wieder bei der Bahn-WM antritt, erfährt er eine Stunde vor dem Start vom Kommissär der UCI, dass seine typische Sitzposition mit angewinkelten Armen verboten sei. Er darf nicht starten und fährt zutiefst frustriert nach Hause. Sein Frust mündet in Kreativität. Im folgenden Jahr, 1995, ist Obree der UCI wieder einen Schritt voraus: In der “Superman”-Position, mit weit nach vorne gestreckten Armen auf einem Aerolenker, wird er zum zweiten Mal Verfolger-Weltmeister.
Beide Sitzpositionen Obrees entsprachen zum Zeitpunkt ihres Einsatzes den Buchstaben des Reglements. Die nachträgliche Löschung der Stundenweltrekorde und die Änderungen der Vorschriften mögen auf Zuschauer wie ein gegenseitiges Austricksen zwischen Obree und der UCI gewirkt haben – aus Sicht des absehbaren Verlierers war es nie ein schräges Spiel: “Ich bin seit 1986 in meiner Position gefahren, weil sie sich für mich richtig anfühlte. Ich bin damit schottischer und britischer Zeitfahrmeister geworden, und niemand hatte etwas auszusetzen.”
Abrechnung mit dem Profigeschäft
Dass Profiteams auf den schottischen Amateur mit dem mächtigen Bumms in den Beinen aufmerksam würden, war zu erwarten. Obree löste eine Profilizenz und unterschrieb beim Straßenteam “Le Groupement”. “Bis dahin hatte ich als eine Art Rad-Hippie gelebt. Wenn das Geld alle war, bin ich ein Rennen gefahren und habe mir die Prämie geholt. Das waren kleine Rennen, da gab es vielleicht 80 Euro. In Großbritannien sind fast alle Rennen Zeitfahren, Massenstarts sind selten. In Schottland war ich lange der Beste. Also war die Sache berechenbar.”
Obree schnauft zweimal, sammelt sich ein paar Sekunden und rechnet dann in einem konzentrierten Redeschwall mit dem Profibusiness ab. Er erzählt von hochdotierten Einladungsrennen auf dem Festland, bei denen ihn Profikollegen mit beiläufiger Selbstverständlichkeit fragten, welche Substanzen er denn für den Stundenrekord genommen habe. Sie hinterlassen den 27-jährigen Amateur völlig perplex. Er berichtet von den ersten Treffen mit der Teamleitung von Le Groupement. “Ein paar Tausend Euro von meinem Gehalt sollten für ‚medizinische Betreuung‘ einbehalten werden. Ich habe gefragt ‚Wieso medizinische Betreuung, ich brauche doch gar nichts‘. Sie haben gesagt, ich würde es doch brauchen. Es war völlig klar, es ging um Doping. Ich war geschockt!” Graeme Obree flog noch vor der Saison aus dem Team, ohne ein einziges Rennen bestritten zu haben. Ironie des Schicksals: Wenig später war das Team Le Groupement pleite und löste sich auf.
Noch immer glüht der Zorn über die verpasste Profikarriere. “Ich bin nicht der fanatische Einzelkämpfer. Ich wollte immer in einem Team bei der Tour de France am Start stehen – und diese Typen haben es mir versaut, als ich in der Form meines Lebens war.” Er habe den Respekt vor den anderen verloren, weil sie gedopt haben. “Und sie haben den Respekt vor mir verloren, weil ich nicht gedopt habe. Das fanden sie unglaublich naiv! Ich habe nie zum ‚Inner Circle‘ gehört. Die wollten mich da nicht.”
Der Weg einer gebeutelten Seele
Doch wer sich mit der Person hinter dem Rennfahrer befasst, ahnt: Ihn ärgern nicht nur die entgangenen sportlichen oder gar finanziellen Chancen. Es ist die tiefe Kränkung des Ausgeschlossenen, die Obree quält. Seine 2003 erschienene Autobiografie “The Flying Scotsman” folgt dem Weg einer gebeutelten Seele. Mal selbstzerfleischend, mal mit ironisch humorvoller Distanz beschreibt er sich als Einsamen, der “die Bäume mehr liebt als die Menschen”. Als Depressiven mit kümmerlichem Selbstwertgefühl. Und als jemanden, der nie wirklich dazugehörte. Der von auswärts zugezogene Polizistensohn, der schon in der Kindheit Außenseiter war und sich in die befriedigende Einsamkeit des Radtrainings zurückzog, bis er der Beste war. Doch auch in dem Sport, für den er alles gibt, bleibt er letztlich außen vor.
Mitte der neunziger Jahre wird es still um Graeme Obree. Nach dem Scheitern im Profisport wird er 1997 noch einmal britischer Zeitfahr-Champion und erringt Streckenrekorde. Das internationale Publikum nimmt kurz Notiz, als ein (zweiter) Selbstmordversuch gemeldet wird. Obree durchlebt finstere Jahre, in denen er doch nie aufhört, Rennen zu fahren. Erst als sein Buch und 2006 der darauf basierende Spielfilm erscheinen, scheint sich die Welt wieder an ihn zu erinnern. Doch richtig glücklich ist er mit dem Ergebnis nicht.
“Oh Mann. Als ich das Buch geschrieben habe, war das so eine Art Therapie. Ich dachte, damit wäre ich fertig mit dem Thema Depression. Dabei hat es mich anscheinend zum Spezialisten für Depression gemacht!” Obree berichtet von seinen Erfahrungen aus Vorträgen über Motivation und Training, die er gelegentlich hält: “95 Prozent aller Publikumsreak tionen drehen sich um das Thema Depression! Nur fünf Prozent sagen ‚He, du bist ein fantastischer Sportler!‘ Da kommen bekannte Leute, die nicht zum Therapeuten gehen würden, weil es dann vielleicht in irgendeiner Akte steht, und wollen mit mir über ihre Depressionen reden. Okay, ich helfe, wo ich kann. Aber seit dem Film bin ich für alle der ‚mad cyclist‘, der Typ mit der Macke.”
Und so zieht er sich mit seinem Zorn auf den Profisport wieder zurück in sein angestammtes Revier: den Stundenweltrekord. Noch immer ist sein Stil derselbe – Obree geht den Weg des größtmöglichen Widerstands. Keine Sponsoren, die ihm reinreden könnten. Keine Trainer, Ernährungsberater, Mechaniker. Kein Windkanal, keine Leistungsmessung, kein Computerprogramm. Keine Trainingslager unter südlicher Sonne, sondern stundenlange Sessions auf der Rolle in der heimischen Garage. Das Rad ist selbst gelötet, so wie damals – und doch ist manches anders.
Der Stellenwert des Stundenweltrekords hat unzweifelhaft gelitten, seit nicht mehr die Merckx’, Mosers und Induraíns ihn als das Sahnehäubchen ihrer Karriere erkämpfen. Der aktuelle Rekordhalter, Ondrej Sosenka, sitzt gerade seine zweite Dopingsperre ab. Und die in den Jahren zwischen 1984 und 2000 aufgestellten Rekorde in “ungewöhnlichen” Sitzpositionen gelten nur noch als “Weltbestleistungen”. Der Welt-Radsportverband UCI hat die Regeln geändert und zwingt auch den Tüftler Obree in die technischen Grenzen von 1972. Waren es nicht seine speziellen Räder, die ihn vor 15 Jahren so schnell gemacht haben? “Nein, ich kann das nicht mehr hören mit den Rädern. Ich habe vorher und nachher Rennen in ganz normaler Position gewonnen. Mir ist es sogar sehr recht, dass die Regeln jetzt klar sind.”
Geld, Ruhm, Zuschauer – unwichtig
Eine letzte Provokation: Geht Obree, der noch nie viel Geld mit seinen Erfolgen verdient hat, jetzt den Weg alternder Boxchampions? Für einen letzten Kampf, für eine letzte große Börse noch einmal in den Ring steigen, und sei es, um dabei furchtbar verdroschen zu werden? Er ist nicht einmal ärgerlich über die Frage, sondern ganz ruhig und fast amüsiert: “Ich war noch nie der materialistische Typ. Ich habe kein Auto, wohne in einer Ein-Zimmer-Wohnung, und wenn ich shoppen gehen will, komme ich mit dem Geld zurück, weil mich nichts anmacht. Das ist doch nur ... Krempel! Die Stunde ist für mich einfach der ultimative Leistungsnachweis. Da kann eine Million Pfund neben der Bahn liegen, es können zehn oder zehntausend Zuschauer am Rand stehen, es ist mir egal. Die Stunde kennt keinen Windschatten und keine Ausreden. Es gibt nichts außer dir, der schwarzen Linie auf dem Boden – und eine Stunde Zeit.”
Epilog: Am Tag nach unserem Besuch testet Obree sein hellblaues Stahlrad zum ersten Mal im Manchester Velodrome. Dort sollte am 2. November 2009 der Rekord fallen. Die Form stimmt, doch Übersetzung und Handling des Rades sind nicht optimal. Ein neuer Termin steht bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
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