Unbekannt
· 20.12.2009
Auf frühe Erfolge folgten Jahre mit Skandalen und schließlich ein tragisches Ende: Warum endete Frank Vandenbrouckes kurzes Leben mit Drogen und Depressionen?
Er hatte noch einmal Großes vor. Ein paar Tage Strandurlaub im Senegal, dann wollte er allen zeigen, dass er es noch kann: richtig schnell Rad fah ren. So wie vor zehn Jahren, als Frank Vandenbroucke in seiner Heimat Belgien als Triumphator von Lüttich- Bastogne-Lüttich endgültig zum Star aufstieg, im zarten Alter von 24 Jahren. Im April 2009 hatte “VDB” die Erinnerung daran geweckt, wieder einmal, als er eine Etappe des kleinen Rennens Boucle de l’Artois gewann, ein Einzelzeitfahren über 15,5 Kilometer. Zwar gilt die Drei-Etappenfahrt nur als Betätigung für abgehalfterte Profis und aufstrebende U23-Fahrer – aber es war der erste Sieg für Frank Vandenbroucke seit 1999. “Der gefallene Engel auf der Suche nach der verlorenen Zeit”, titelte die Regionalzeitung “La Voix du Nord” über diesen Achtungserfolg. Und Vandenbroucke selbst urteilte: “Dieser Erfolg ist relativ. Aber für mich zeigt er, dass ich auf einem guten Weg bin.” Jetzt ist dieser Weg endgültig zu Ende. Am Nachmittag des 12. Oktober fand die Besitzerin des Hotels “Maison Bleue” im Senegal Frank Vandenbroucke tot im Bett seines Zimmers.
Nach allem, was man inzwischen weiß, reiht sich der Belgier ein in den Kreis jener Radsportler, denen eine Mischung aus Depressionen und Drogenmissbrauch zum Verhängnis wurde: Der spanische Bergkönig José María Jiménez Ende 2003, Marco Pantani wenige Monate später, in diesem Jahr die Ex-Weltmeister Jobie Dajka (Keirin) und Christophe Dupouey (Mountainbike), der sich mit einer Flinte erschoss. Und schließlich nahm sich nur vier Wochen nach Vandenbrouckes Tod Dimitri De Fauw das Leben: Auch der 28-jährige Belgier litt an Depres sionen. Dazu kommt eine Serie nicht restlos geklärter Fälle junger Radprofis, denen das hoch trainierte Herz früh im Leben versagte (siehe Info-Kasten). Frisst der Radsport seine Kinder?
Zumindest im Fall Vandenbroucke liegt der Gedanke nahe. Der Hoffnungsschimmer aus dem Frühling war für “VDB” im Sommer schon wieder erloschen: Er trennte sich vom Team Cinelli-Down Under, wo ihm sein alter Kumpel und Sportlicher Leiter Nico Mattan die Gelegenheit gegeben hatte, Rennen zu fahren, aber kein Geld bezahlen konnte. Es war die Fortsetzung der Geschichten der vergangenen Jahre: Alle paar Monate ein neues Team, die Dopingfahnder als härteste Gegner und dicke Schlagzeilen, wenn er
ausrastete. Seine damalige Frau, das italienische Ex- Model Sarah Pinacci, warf er 2002 aus dem Auto und ließ sie am Straßenrand zurück. Als sie ihm 2007 die Scheidung antrug, griff er zur Waffe, schoss in die Luft und löste einen Großeinsatz der Polizei aus. Später versuchte der Radprofi, sich das Leben zu nehmen.
Tödlicher Mix
Auf Vandenbrouckes Nachttisch im Hotel “Maison Bleue” stand eine tödliche Mixtur aufgereiht: Insulin, Antidepressiva, Barbiturate, dazu soll er zuvor reichlich Alkohol getrunken haben – laut Experten eine lebensbedrohliche Kombination. Das Ergebnis der Leichenschau: Der Gerichtsmediziner fand zwei Todesursachen; eine doppelte Lungenembolie und eine bereits länger vorhandene Herzerkrankung. Doch woher kam die Embolie, eine Verstopfung der Blutbahn, die schließlich Lunge und Herz versagen ließ? Lungenembolien sind, wenn sie auftreten, immer lebensbedrohlich. Eine schnelle Behandlung mit blutverdünnenden Mitteln ist dringend nötig.
Aber vielleicht wollte Vandenbroucke keine Hilfe? In den 1960er-Jahren waren Barbiturate ein oft gewähltes Mittel, um sich das Leben zu nehmen. Und Insulin kann in Überdosis zum tödlichen Schock führen. Selbstmord- Absicht ist ein Grund, warum jemand, der kein Diabetiker ist, Insulin nehmen könnte. Zumal sich Diabetiker das Medikament in die Bauchfalte, nicht in die Venen spritzen. An Vandenbrouckes Unterarm fand man mehrere Einstichstellen – der senegalesische Staatsanwalt sagte, man habe die Leiche eines Drogenabhängigen untersucht. “Spritzt man es intravenös, deutet es darauf hin, dass man den Kick sucht, den Insulin auslösen kann”, sagt der Pharmakologe Prof. Fritz Sörgel. “Doch der schnelle Kick ist gefährlich: Macht man beim Spritzen einen Fehler oder ist das Medikament nicht sauber, kann man an Unterzuckerung sterben – oder Partikel in einer nicht sauberen Lösung führen zu einer Lungenembolie.”
Hinweise darauf, dass Vandenbroucke in seinen letzten Tagen das Dopingmittel Erythropoetin (EPO) benutzt haben könnte, gibt es nicht; der künstliche Blutverdicker ist also vermutlich nicht die Todesursache. Nach Meinung des Physiologen und EPO-Forschers Prof. Wolfgang Jelkmann von der Universität Lübeck seien langfristige Folgeschäden durch EPO zudem auszuschließen. Er vermutet, dass der gefundene Medikamenten-Mix in Verbindung mit Flüssigkeitsmangel (Vandenbroucke soll sich in der Nacht mehrfach erbrochen haben) zu einer kurzfristigen Herzinsuffizienz geführt haben könnte. Die Lungenembolie kann eine mögliche Folge dieses Druckabfalls im Herz-Kreislaufsystem gewesen sein. Oder war es das Ende eines über die Jahre vom Radsport gebrochenen Herzens? “Wenn er entschieden hatte, ein Rennen zu gewinnen, fühlte er sich sehr stark. Aber hinterher war er dann oft fürchterlich enttäuscht vom Ergebnis, weil er sich zu hohe Ziele gesteckt hatte”, meinte Richard Virenque, sein Teamkollege bei Quick-Step in den Jahren 2002 und 2003, im französischen Magazin “Vélo”. Ein belgisches Gerichtsgutachten bescheinigte dem Radprofi im Jahr 2004 “Realitätsverlust”; VDB musste damals wegen des Besitzes von Dopingmitteln 250.000 Euro berappen. Anzeichen einer bereits vorhandenen, starken Persönlichkeitsstörung? Folgen des Dopings? Oder die Kombination aus beidem?
Tatsächlich entdecken die Biochemiker im Kölner Antidoping-Labor seit 2006 in den Dopingproben von Leistungssportlern häufig Spuren von Antidepressiva – vor allem bei Radsportlern und deutlich häufiger als in der übrigen Bevölkerung. Eine Erklärung für dieses Phänomen hat man offiziell nicht. Antidepressiva stehen derzeit nicht auf der Dopingliste; dass sie leistungssteigernde Wirkung haben, ist umstritten, aber nicht völlig abwegig.
Positive Menschen, schlimmer Sport?
Dass Spitzensportler vermehrt zu Depressionen neigen sollen, erstaunt die Wissenschaft. “Man geht eigentlich davon aus, dass Leistungssportler eine Auswahl positiver und hoch veranlagter Menschen sind”, sagt der Kardiologe und Internist Wolfgang Stockhausen, der früher Radsportler betreute. Er sagt aber auch: “Medikamente wie EPO und Wachstumshormon wirken sehr schnell. Man kann annehmen, dass es den Konsumenten depressiv macht, wenn er sie absetzt.” Und vermutlich schädigen diese Mittel doch das Herz – besonders Wachstumhormon, das nach Erkenntnissen der Forscher oft mit Insulin kombiniert wird, soll Vorschädigungen verschlimmern. EPO, Steroide, Aufputschmittel, Testosteron, Wachstumshormon, Synacthen und Insulin: “Ich bin als Experte immer wieder überrascht, was Sportler ausprobieren und in welchen Dosierungen und Kombinationen – und dass das dann offensichtlich auch Wirkungen hat, die Sie in keinem Pharmakologielehrbuch finden können”, sagt Prof. Sörgel. Bei Frank Vandenbroucke indes steht wohl außer Zweifel, dass sein Medikamenten-Missbrauch stark mit seinen Verhaltensauffälligkeiten zusammenhing. “Die Einnahme von vielen Medikamenten und Suchtmitteln könnte auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten, wobei solche Patienten auch häufig unter depressiven Symptomen leiden”, sagt Dr. Thomas Nickel vom Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie. “Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sind oft impulshaft und aufbrausend, Suchtmittel werden eingenommen, um solche Zustände sowie Gefühle der inneren Leere und Unausgeglichenheit zu mildern.”
Prof. Florian Holsboer, der einst den Fußball- Nationalspieler Sebastian Deisler wegen dessen Depressionen behandelte, urteilte damals öffentlich: Die Karriere des talentierten Dribblers sei nach Heilung seiner Depression in keiner Weise gefährdet. Der Psychiater erntete für diese Ansicht Kritik. Tatsächlich stellt sich die Frage: Was ist, wenn es der Spitzensport selbst ist, der den Menschen krank macht? “Man muss härter sein als ich”, stellte Deisler fest – und zog sich aus dem Leben als Fußballstar zurück. Vermutlich frühzeitig genug. Niemand weiß, ob Frank Vandenbroucke länger gelebt hätte, wenn ihm der Radsport nicht immer wieder das gegeben hätte, was man – vielleicht fälschlicherweise – als “neue Chance” bezeichnet: die Rückkehr in den Teufelskreis aus Leistungsdruck, fehlender Anerkennung, selbst empfundenem Versagen und Drogenmissbrauch.
“Wenn ich Radprofis mit dem Buch zum Nachdenken über unseren Beruf, über das Leben bewegen kann, dann habe ich einen Teil meiner Schuld abbezahlt” – so schloss Frank Vandenbroucke seine Autobiographie, die er 2008 veröffentlichte. Das Buch trug einen Titel, den man auch als Hilferuf verstehen konnte: “Ich bin nicht Gott.” Nun muss die Branche über ein kurzes Leben und den frühen Tod eines Profis nachdenken. Wieder einmal.
ZUR PERSON
Spitzname: VDB
Geboren: 6. November 1974 in Mouscron/Belgien
1989 | Erste Renn-Lizenz
1992 | Dritter der Junioren-WM Straße
1994 | Beginn der Profi-Karriere beim Team Lotto-Caloi
1995–1998 | Team Mapei; wichtige Erfolge: Paris-Brüssel (1995), GP Ouest- France, Mittelmeer- und Österreich- Rundfahrt (1996), Rund um Köln und Luxemburg-Rundfahrt (1997) sowie Gent-Wevelgem und Paris-Nizza (1998)
1999 | Team Cofidis: Siege bei Het Volk und Lüttich-Bastogne-Lüttich; zwei Etappensiege bei der Vuelta; Geburt der Tochter Cameron aus erster Ehe mit Clothilde
2000–2009 | Viele Rennabsagen; es wird bekannt, dass VDB unter Depressionen leidet; Heirat mit dem italienischen Model Sarah Pinacci
2001 | Wechsel zu Lampre; Aufgabe bei der Baskenland-Rundfahrt; Nervenzusammenbruch im Sommer; Geburt der zweiten Tochter Margaux
2002 | Team Domo; Radsport-Pfleger Bernard Sainz (“Dr. Mabuse”) hatte Kontakt mit VDB, bei dem Clenbuterol gefunden wird. UCI zieht eine Sperre wieder zurück; der flämische Verband spricht eine sechsmonatige Sperre aus
2003 | Aus Domo wird Quick-Step; kurz nach Ablauf seiner Dopingsperre wird VDB Zweiter der Flandern-Rundfahrt
2004 | Wechsel zu Fassa Bortolo, Entlassung im Sommer, daraufhin Wechsel zu Mr. Bookmaker; Verurteilung zu einer Strafe wegen Dopingbesitzes; ein Gerichtsgutachten bescheinigt ihm “Verlust des Realitätssinns”
2005 | Nach besonders schweren Depressionen Selbstmordversuch mit Insulin
2006 | Unibet, Nachfolger von Mr. Bookmaker, entlässt VDB wegen fehlender Resultate; VDB tritt in Italien bei einem Amateurrennen mit einer Lizenz auf den Namen “Francesco Del Ponte” und mit dem Foto von Tom Boonen an; außerdem löst er Polizei-Einsatz aus, als er während eines Ehe-Streits in die Luft schießt.
2007 | Am 6. Juni Suizid-Versuch mit Schlaftabletten; seine zweite Frau bezeichnet in der Gazzetta dello Sport die Ehe als “Hölle”; VDB fährt für Acqua e Sapone
2008 | Vertrag beim Team Mitsubishi, von dem er im April entlassen wird, als bekannt wird, dass die Polizei ihn als Kunden eines Drogendealerrings ermittelt hat; die Autobiographie “Ich bin nicht Gott” erscheint
2009 | VDB fährt für das Team Cinelli, bei dem sein Freund Nico Mattan Manager ist; er gewinnt bei der Boucles d’Artois sein erstes Rennen seit 1999
✝ 12. Oktober 2009 in Saly/Senegal; VDB hinterlässt zwei Töchter: Cameron (10 Jahre) aus erster Ehe und Margaux (8 Jahre) aus zweiter Ehe.
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