Andreas Kappes

Unbekannt

 · 20.02.2008

Andreas KappesFoto: David Klammer

Etwa 900.000 Rad-Kilometer stecken in Andreas Kappes’ Beinen. Der 41-Jährige kennt Höhen und Tiefen des Profi-Radsports, auf Straße und Bahn. Seit Jahren ist er vor allem bei Sechstagerennen zu sehen. Unser Autor hat ihn vor seiner voraussichtlich letzten Saison zu Hause besucht.

Es gibt wenige Leute, die einen so guten Cappuccino machen wie Andreas Kappes. Es ist 9.30 Uhr, der Radfahrer hat seinen Ford Mondeo auf die Straße gestellt, damit die Gäste seine Einfahrt nutzen können. Hier in Köln-Weiden sei kaum noch Platz für Autos, gibt er vorher noch per Telefon durch. Dann steht er da, vor der Tür seines Einfamilienhauses mit Garage und Gartenstück, in Schlappen, Jogginghose und T-Shirt. Drinnen macht er italienischen Kaffee mit seiner Lavazza-Maschine und reicht köstliche Vanillestangen. Die goldene Dampfdüse reinigt er sofort. Er setzt sich an seinen Frühstückstisch, schneidet präzise Rechtecke aus seinem Stück Streuselkuchen und sagt: “Bei mir muss alles sauber sein. Ich könnte sogar mein Rad hier auf den Tisch stellen.”

Andreas Kappes sieht gut aus. Seine Haut ist braun wie die eines Süditalieners, seine Haare sind schwarz, nur an einigen Stellen sind graue Strähnen herausgewachsen, die einzig darauf hindeuten, dass der Mann nun wirklich schon 41 Jahre alt ist. “Der schöne Andy” hatte ihn der deutsche Boulevard früher genannt. Für Kappes nur eine Alberei deutscher Zeitungsmacher. Denn in Frankreich nannte man ihn einfach nur “Dede”, eine völlig unaufgeregte Kurzfassung von Andreas, aber laut Kappes sein eigentlicher Spitzname. Überhaupt hat Kappes den Eindruck, dass man ihn drüben in Frankreich und Belgien viel besser in Erinnerung behalten hat. Noch heute erreicht ihn Fanpost von dort, mit der Bitte um Autogrammkarten.

GROSSES TALENT UND EINZELGÄNGER

Vielleicht wissen die Franzosen und Belgier seine Leistung mehr zu schätzen. Andreas Kappes, das war Ende der 1980er-Jahre die große deutsche Radsporthoffnung, einer, der es mal weit bringen würde. Der Name stand aber hierzulande auch für einen Querulanten und Einzelgänger, zu dem keiner Zugang fand. Einer von denen, die sich verbotene Pillen eingeworfen haben und es nie wirklich zugeben wollten. Der Kappes: Ist das nicht der, der damals ein richtig Großer werden sollte? Fährt der immer noch?

Zuerst ist Kappes der Junge, den Bundestrainer Klaus-Peter Thaler mit gerade 18 Jahren zu den Olympischen Spielen nach Los Angeles geschickt hat. “Ein wahnsinniges Ereignis”, erinnert sich der damals Nachnominierte. Doch leider war er damals viel zu jung, um das alles zu begreifen, den Boykott des Ostblocks, die Delphin-Show des “Albatros” Michael Groß und das Treiben im olympischen Dorf. Kappes und sein Team logierten weiter draußen, um sich auf die Hitzeschlacht auf den Straßen der kalifornischen Metropole vorzubereiten. Kappes aber ging es nicht gut, er trainierte ohne Mütze, seine Sinne vernebelten sich. Auch beim Rennen strahlte die Sonne unerbittlich, der Junge war nach 150 Kilometern ausgepumpt und stieg völlig erschöpft vom Rad. “Vielleicht war es wirklich zu früh”, sagt er heute. “Aber mehr ging einfach nicht.”

Wäre es nach seinem Vater gegangen, Kappes hätte nie versucht, in einem Rennsattel sitzend Geld zu verdienen. Der Vater, gebürtiger Berliner, radelte selbst 25 Jahre lang und predigte eher abstoßend von der Härte des Geschäfts. “Ich war aber fasziniert vom Radfahren, vom Dahinbrausen durch die Landschaften, beim Trainieren ganz bei sich zu sein und über alles Mögliche zu grübeln.” Wer weiß, was aus Kappes geworden wäre, wäre er beim Schwimmen oder Handball geblieben oder hätte er sein Abitur gemacht.

Hätte er auf seinen Vater gehört, wäre ihm jedenfalls einiges erspart geblieben. “Der Radsport verlangt viel. Härte, Disziplin, sich morgens ständig aus dem Bett quälen müssen und aufs Rad steigen.” Kappes’ Körper versagte im Verlauf seiner Karriere immer wieder seinen Dienst. Als er mit dem Rad einmal zum Mond und fast zurück gefahren war, rund 450.000 Kilometer, verstopfte 1995 aufgrund der ständigen Sattelsitzerei eine Arterie im Unterleib. Die Ärzte schnitten in einer Notoperation zwei Venen aus seinem rechten Oberschenkel, jeweils 18 Zentimeter lang, und bastelten daraus ein Blutgefäß, das sie in den Unterleib einsetzten. Inzwischen hat er auf dem Rennrad dieselbe Strecke noch einmal zurückgelegt.

Zweifelsohne, sagt Kappes, habe ihm die Wende 1989 arg zu schaffen gemacht, weil plötzlich Ost-Fahrer ins gesamtdeutsche Interesse rückten. Zabel, Ludwig, später Ullrich. Vielleicht war es aber auch sein vorlauter Mund, den er lange nicht zu zügeln wusste und der ihm ein unglaubliches Team-Hopping bescherte. 13 Mannschaften hat er bis heute durch. Im Jahr 1992 holte ihn das junge Team Telekom Kappes als Leader. Salmonellen zwangen ihn für Monate ins Bett, Kappes wollte trotzdem seine Starts, ohne ausreichende Regeneration. Er versagte und äußerte dennoch ständig Vorschläge zum Umbau der Mannschaft. “Bring erst mal Leistung, bevor du den Mund aufreißt”, habe Teamleiter Godefroot ihn einmal genervt angefahren. Kappes habe schließlich gehen müssen, “nicht weil er eine schlechte Saison hatte, sondern weil vielen sein persönlicher Stil missfiel”, mutmaßte Olaf Ludwig später. “Es war wohl ein entscheidender Abschnitt in meinem Leben. Hätte ich anders agiert, wäre vielleicht alles anders geworden”, sagt Kappes. “Aber ich bin eben so wie ich bin: geradeheraus.”

Das sei wohl angeboren, sagt er, genauso wie sein Gefühl für Gerechtigkeit. An sich selbst habe er erlebt, welche Geduld die Ungerechtigkeit verlange. Im Jahre 1997 wurde Kappes positiv getestet. Er sagt noch heute, dass es seine kleine Tochter war, die damals seine Vitaminpillen mit den Schlankheitspillen seiner Frau vertauscht habe. Sechs Monate wurde er gesperrt. Seine Frau Marion habe noch immer Schwierigkeiten damit, weil sie sich große Vorwürfe mache. Und dann natürlich die Sache aus dem Jahr 2000. In seiner Probe wurde ein erhöhter Nandrolon-Wert festgestellt. Er beteuerte, das Steroidhormon unwissentlich über ein Nahrungsergänzungsmittel zu sich genommen zu haben. Das Sportgericht sprach ihn frei, doch der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) legte Widerspruch gegen das Urteil ein, am Ende vergeblich. “Es war wohl die härteste Zeit überhaupt für mich”, sagt Kappes. “Das war für mich unfassbar: Der BDR zweifelt sein eigenes Gericht an.”

KEIN VERSTÄNDNIS FÜR GESTÄNDNISSE

Er fuhr nach Gran Canaria, um sich fit zu halten, quälte sich die Berge hoch und raste vom Zorn getrieben die steilen Abfahrten hinab, den Kopf ohne Helm, aber voll mit Vorwürfen, Gedanken an die Zukunft und die Gerechtigkeit. “Als es krachte, dachte ich, es ist vorbei.” Kappes prallte frontal in ein Auto, das Rad blieb an der Kühlerhaube hängen, der Körper durchbrach die Windschutzscheibe, ein Schleimbeutel im Knie ist regelrecht explodiert. Das Krankenhaus attestierte ihm großes Glück. “Von da an wusste ich auch, dass es nichts zählt, was andere über dich denken.”

Ob er denn einsehe, dass seine Versionen seiner Dopingvergangenheit heute nicht mehr sehr glaubwürdig klingen? “Das ist mir egal. Ich weiß, was passiert ist. Und das reicht mir.” Jeder müsse selbst entscheiden, was er tut. Die Geständnis-Orgie des vergangenen Sommers etwa, sagt Kappes, habe ihm persönlich nichts gebracht. Und er weiß auch nicht, wem sonst.

Kappes mag es nicht, wenn Vorurteile zu allgemeingültigen Auffassungen werden. Zum Beispiel Lance Armstrong, nach Meinung vieler Fans arrogant und bis in die Fußspitzen mit verbotenen Substanzen präpariert. Vor drei Jahren hatte der Amerikaner ihn angerufen, von Schloss Bensberg bei Köln aus, und gefragt, ob er eine Runde mit ihm drehen wolle. Kappes schaute aus dem Fenster und lehnte höflich ab. “Es war nah am Eisregen, aber Lance stieg aufs Rad. Kein anderer wäre da rausgefahren, er schon. Aber das wollen die Leute dann nicht mehr hören.”

Auch über Kappes haben die Leute viel gesagt. Er hätte mehr aus seinen Talenten machen können. Er wollte ja selbst mehr, ein Eddy Merckx oder ein Bernard Hinault wollte er werden. Im Sommer Rundfahrten bestreiten, im Winter bei den Sixdays das Geld absahnen. Er bekam immer wieder Verletzungen und Virusinfektionen – vielleicht wollte er immer zuviel. “Aber wer sagt mir denn, dass es anders gelaufen wäre, wenn ich weniger gemacht hätte?”

Erfolge hatte er auf der Straße doch genug. Er ist noch immer der einzige Deutsche, der den Halbklassiker “Het Volk” je gewonnen hat. Er hat eine Giro-Etappe gewonnen und drei bei der Tour de Suisse, wo er einmal als Erster die 1.800 Höhenmeter nach Zermatt kletterte. Hinter ihm hechelte kein Geringerer als Miguel Induraín ins Ziel. Und die Tour de France? “Die hätte ich nie gewonnen. Auch nicht, wenn ich alle Mittel dieser Welt genommen hätte. Da muss man realistisch bleiben.”

Nach der Jahrtausendwende war Kappes immer seltener auf der Straße zu sehen. “Ich habe mich dann auf die Bahn konzentriert, weil es schlicht darum ging, Geld zu verdienen”, sagt er. Dieser Winter wird wohl sein letzter als Rennfahrer. Dann wird wieder ein Großer der Szene die Bühne verlassen – der letzte einer Generation, die in den Hallen noch auf Bundeswehrpritschen ihre müden Knochen ausgeruht haben und nicht in teuren Hotels.

Auf dem hölzernen Rund konnte Kappes schon immer glänzen, 24 Siege hat er bei den rauchigen Massenspektakeln errungen, 13 an der Seite von Etienne De Wilde. Zuletzt ließen ihn die Veranstalter junge Rennfahrer für den strapaziösen Tempo-Zirkus anlernen. Das sei gut so, sagt Kappes. “Ich will nicht abtreten, ohne meine Erfahrungen weitergegeben zu haben.”

Er hält das wie sein Rivale bei den Sixdays, Erik Zabel. Zum deutschen Sprinter-König hat Kappes ein ganz gutes Verhältnis. Der habe ihn immerhin als Sportlichen Leiter bei Milram ins Gespräch gebracht. Das könnte seine Zukunft sein. Aber toll wäre es doch auch, sagt Kappes, in Seminaren gestressten Managern die Kunst des Bahnfahrens zu lehren. Ihnen zu zeigen, wie das Rad einem helfen kann, ganz bei sich zu sein.

ZUR PERSON

Geboren: 23.12.1965 in Bremen

Wohnort: Köln Familienstand: verheiratet, 2 Kinder

Größe: 1,74 Meter

Gewicht: 68 Kilogramm

Profi seit: 1987

Teams: Toshiba 1987–1990, Histor-Sigma 1991, Team Telekom 1992, Mecair 1993, Trident 1994, Refin 1995–1996, PSV Team Cologne 1997, Gerolsteiner 1998, Agro Adler 1999–2001

Wichtige Erfolge:

Straße: Etappensieger bei Paris-Nizza, Giro d’Italia, Tour de Suisse und Deutschland- Tour; Sieger Paris- Camembert 1989, Het Volk 1991, Berner Rundfahrt 1994; Zweiter Deutschland-Tour 1999;

Bahn: Junioren-Weltmeister Punktefahren 1983; WM-Dritter Madison 1996, 1998 und 1999; WM-Zweiter Punktefahren 1998; 24 Siege bei Sechstagerennen.